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4. Zur Sicherheit? Überwachung, Transparenz und Kontrolle

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»K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?«38

Sicherheit begegnet uns tagtäglich in vielen Formen. Eine langfristige Lebensplanung bedarf zum Beispiel Dingen wie einem sicheren Arbeitsplatz, einer Wohnung, einer guten Vorsorge für schwerere Zeiten und Ähnlichem. Um sich in der Öffentlichkeit frei und ohne Angst bewegen zu können, erfordert es sichere Straßen oder eine verlässliche Verfolgung und Prävention von Kriminalität. Ersteres wird als soziale Sicherheit bezeichnet, letzteres als öffentliche Sicherheit.39 Allgemein besteht die Aufgabe des Staates darin, seine Bürger zu schützen bzw. die öffentliche Sicherheit herzustellen. Dies ist ein Grundpfeiler von freien demokratischen Gesellschaften, denn ohne ein gewisses Maß an Sicherheit ist kein freies Leben in der Gesellschaft möglich.

Überwachung bedeutet das Ansammeln von Daten mithilfe verschiedener, beobachtender Methoden und die anschließende Auswertung jener Daten, um auf diese Weise weiterführende Informationen zu erhalten. Die Informationen können in verschiedenen Zusammenhängen bewertet werden und zu eigenen Urteilen über Personen oder Situationen führen. Dieser Vorgang kann im Anschluss verschiedene Handlungsoptionen offenbaren. Überwachung hat deshalb vorrangig einen Nutzen für strategische Planung und ermöglicht vorausschauendes Handeln. Sie ist ein wirksames Instrument zur Gefahrenabwehr, weil sie einen Wissensvorsprung verschafft. Dieses Wissen kann für unterschiedliche Zwecke genutzt werden und verleiht eine ganz bestimmte Art von Macht sowie Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten.

Die Digitalisierung ermöglicht eine zunehmend weiter reichende Überwachung und Durchdringung aller Lebensbereiche bei immer reduzierterem Aufwand, denn es werden immer weniger personelle Ressourcen benötigt. Maschinen erfassen umfangreiche Daten, die oft freiwillig zur Verfügung gestellt werden, wie beispielsweise durch die Benutzung der virtuellen Assistentin Alexa von Amazon im Wohn- oder Schlafzimmer. Daneben übernehmen Algorithmen einen großen Teil der Auswertung und Kategorisierung der Daten. Meist wird die Ausweitung von Überwachungsmöglichkeiten damit begründet, dass sie mehr Sicherheit bringen, doch es besteht die Sorge, dass dies möglicherweise in eine totale Überwachung aller Menschen bei allen Aktivitäten, an allen Orten und zu jeder Zeit führt.

Neu ist in Zeiten der Digitalisierung demnach vor allem, dass Überwachung ›billig‹ geworden ist und ihren anrüchigen Charakter verliert. Überwachung erscheint notwendig, sinnvoll und wird in unterschiedlichen Kontexten gesellschaftlich akzeptiert – sie wird ›normal‹. Ebenso werden die Erzeugnisse der industriellen Überwachung in Form von gewonnenen Informationen im freien Handel verkauft und erworben, sodass der Handel mit Daten immer weiter aufblüht, wie der prominente Slogan »Data is the New Oil« zeigt. Überwachung kann deshalb als der Tagebau des digitalen Zeitalters bezeichnet werden, sie liegt längst nicht mehr in staatlicher Hand und ist auch nicht mehr rein politisch motiviert. Überwachung findet vielmehr in großem Ausmaß durch industrielle Unternehmen statt und ist dadurch scheinbar salonfähig geworden – aber in welchem Umfang ist sie aus ethischer Perspektive noch legitim?

In einer Demokratie sollte die Macht beim Volk liegen. Wenn sich das Machtgefälle aber weiterhin zugunsten von Unternehmen und staatlicher Überwachung verschiebt, birgt das eine Gefahr für die Demokratie. Was geschieht mit einer Demokratie durch eine Digitalisierung, die Praktiken der Überwachung nahezu überall installiert?

Werden wir also in einem düsteren, totalitären Regime erwachen, wie es George Orwell in seinem Klassiker 1984 beschrieben hat? Oder ist diese Überwachung notwendig, um das Volk in dieser immer komplexeren Welt zu schützen? Im Roman 1984 entwirft Orwell eine dystopische Zukunft für das Jahr 1984, in dem die konstante und totale Überwachung herrscht.

Soziologen wie Zygmunt Bauman und David Lyon entdecken jedoch im Roman Der Prozess (1925) von Franz Kafka eine treffendere Beschreibung unserer möglichen Zukunft.40 Kafka schildert einen Rechtsstaat, in dem eine weitere, geheime Macht regiert, von der einige Menschen wissen, dass sie existiert, aber niemand ihre wahre Struktur und ihre Gesetze kennt. Dennoch kann diese geheime Macht komplett über das Leben und das Schicksal von Einzelnen willkürlich bestimmen.

Oder erinnern die Herausforderungen im digitalen Zeitalter zukünftig eher an die antike griechische Tragödie Antigone (ca. 442 v. Chr.) von Sophokles, in welcher der absolute Anspruch von Gesetzen und die Moral der Menschlichkeit wie zwei gegnerische Pole unversöhnlich aufeinandertreffen?

Die Ethik stellt viele Fragen, für die es oft keine eindeutigen Antworten geben kann. Das vorderste Ziel besteht jedoch darin, eine Debatte anzustoßen und zum Nachdenken und anschließenden Neudenken darüber anzuregen, wie wir leben sollen. Dieses Kapitel stellt viele entsprechende Fragen zur Zukunft der Demokratie in Zeiten der Digitalisierung und wie die umfassende digitale Überwachung unser aller Leben nachhaltig verändern könnte. Überwachung kann zum Schutz einer Demokratie und eines guten Lebens dienen und in diesem Sinne zum Einsatz kommen, sie bietet aber ebenso viele Möglichkeiten, um beides zu zerstören.

Ein Ehepaar deutscher Staatsangehörigkeit wollte 2018 in den Urlaub nach Kuba fliegen. Beim Check-in lag ein handschriftlich beschriebener Zettel am Arbeitsplatz der Mitarbeiterin der Fluggesellschaft. Darauf standen die Namen des Ehepaars. Die beiden Eheleute wurden von der Mitarbeiterin darüber informiert, dass sie den Flug nicht antreten könnten, da sie auf dem Weg nach Kuba durch US-Luftraum flögen und ihnen die Behörden der USA diese Durchreise untersagten. Hintergrund war die Tatsache, dass sich das Ehepaar auf der sogenannten »No-Fly-List« der USA befindet, auf der Personen stehen, die als Gefahr für die Sicherheit der USA gewertet werden und somit nicht in die USA einreisen dürfen. Die Eheleute verstanden nicht, wie sie auf diese Liste geraten konnten. Sie sind weder religiös noch politisch aktiv und waren nie straffällig geworden. Erst im Nachhinein sollte sich herausstellen, dass ein Vorfall in der Türkei der Grund war. Im Jahr zuvor wollte das Ehepaar mit Freunden in der Türkei Urlaub machen, dieser endete jedoch bei der Ankunft am Flughafen in der Türkei. Das Ehepaar und das befreundete Paar mussten noch am selben Tag wieder ausreisen. Auslöser dafür war der kurdische Name des Freundes, der den türkischen Behörden bei einer Stichprobe während der Einreise auffiel. Die Regierung Erdoğan sieht Kurden als große Bedrohung für die Sicherheit der Türkei an, sodass die beiden Paare als potenzielle Gefahr eingestuft wurden und nach Überprüfung ihrer Smartphones und eingehender Befragungen umgehend das Land verlassen mussten. Es folgte ein lebenslanges Einreiseverbot in die Türkei sowohl für das befreundete Paar als auch für das besagte Ehepaar selbst. Die Türkei wiederum arbeitet hierbei mit den amerikanischen Behörden zusammen, sodass die Namen der beiden Paare auch in die amerikanische Liste potenziell gefährlicher Personen übernommen wurden. Juristen sind sich einig, dass das Ehepaar wenig Chancen hat, gegen die Einreiseverbote vorzugehen, da es sich die US-Regierung seit den Anschlägen vom 11. September 2001 zur Aufgabe gemacht hat, gegen jegliche Bedrohung ihrer Sicherheit in großzügiger Auslegung von Regeln und nur auf Verdacht bzw. präventiv vorzugehen.

Das Beispiel41 macht deutlich, dass sowohl die positiven Chancen als auch die möglichen Gefahren der digitalen Überwachung Teil einer gesellschaftlichen Debatte sein müssen, denn die Hoffnung auf ein gelingendes Leben und eine gute Zukunft für alle Menschen liegt und wächst im gemeinsamen Diskurs.

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