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4.1 Der Zweck von digitaler Überwachung: Sicherheit oder Konsum?

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»Das Verfahren ist nämlich im Allgemeinen nicht nur vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor dem Angeklagten.«42

Überwachung ist ein Zustand, der Schutz bieten oder aber in Repression umschlagen kann. Der Begriff hat also positive und negative Konnotationen und bezieht sich auf möglicherweise sehr unterschiedliche Auswirkungen und Folgen. Überwachung ist jedoch nicht ausschließlich eine rein staatliche Angelegenheit. In einer Gesellschaft sind immer unterschiedliche Überwachungsformen präsent, sei es durch Erziehungsberechtigte, die Nachbarschaft oder in einem religiösen Kontext. Die Aussage »Gott sieht alles« kann zu einer sehr wirkungsvollen Form der internalisierten, also verinnerlichten Überwachung werden. Im Zuge der Digitalisierung wurde die Praxis der Überwachung jedoch immer weiter in die Wirtschaft hineingetragen. Eine neue Form der Überwachung, die nicht sicherheitsrelevante Zwecke verfolgt, ist in der Gesellschaft angekommen. Überwacht wird mittlerweile in großem Ausmaß, etwa zur Steuerung des Konsums.

Konzerne wie Facebook, Amazon oder Google verdienen ihr Geld vorrangig mit den Daten ihrer Nutzer, die sie weiterverkaufen und für die Erstellung von Nutzerprofilen verwenden. Sie perfektionieren eine neue Dimension der Überwachung. Diese gefährdet eine Demokratie, weil sie vollkommen anderen Grundsätzen und Werten folgt. In einer Demokratie sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich, sie haben den gleichen Wert und die gleiche Würde. Überwachung durch wirtschaftliche Organisationen klassifiziert und bewertet Menschen aber anhand ihres Konsums, ihrer Kaufkraft, ihres Umfeldes oder ihrer Herkunft. Die Menschen haben plötzlich nicht mehr den gleichen Wert. Noch schlimmer: Sie haben nur noch einen Wert, der sich ausschließlich in Relation zum Konsum und daher zum Geld bemisst.43

Überwachung durch Industriekonzerne hat demnach nicht nur zur Folge, dass man individualisierte Produktwerbung bekommt. Sie hat ebenso zur Folge, dass soziale Klassifizierung begünstigt und unterstützt wird. Daraus folgt wiederum, dass das Prinzip der Chancengleichheit schleichend aufgelöst wird. Das Leben der heutigen und zukünftigen Generationen könnte mithin genau diesen Mustern und sozialen Klassifizierungen unterworfen werden.

Die Klassifizierung und Kategorisierung von Menschen ist ein mächtiger und entscheidender Vorgang, der nicht verharmlost werden darf. Die Konsequenzen betreffen in erster Linie das Leben von Individuen, in zweiter Linie formen alle Individuen zusammen unsere Gesellschaft.44 Selbst so scheinbar harmlose Praktiken wie die individualisierte Produktwerbung, das Tracking (Verfolgen) und die Aufzeichnung des Online-Verhaltens von Nutzern haben sehr grundlegende Veränderungen angestoßen. Hinzu kommt, dass die Strukturen und die Muster, nach denen die Kategorisierungen und Bewertungen erfolgen, in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Es ist für den Einzelnen und zunehmend auch für den Staat immer schwieriger nachvollziehbar, welche Informationen die Tech-Unternehmen besitzen und für welche Zwecke diese verwendet werden. Das Machtmonopol der großen Unternehmen besteht aus einem Wissensvorsprung und lebt von intransparenten Prozessen.

Eine Demokratie ist aber direkt abhängig von einem geteilten und gerechten Wissensstand all ihrer Bürger. Sogenannte Filterblasen zerstören diesen Grundsatz. Sie können durch eine individualisierte Informationszufuhr im Internet entstehen, indem Algorithmen Inhalte und Informationen anhand der persönlichen Interessen sortieren und fortan den Nutzern hauptsächlich thematisch passende Nachrichten empfehlen, woraus sich ein verzerrter Informationsschwerpunkt und kein gemeinsamer Wissensstand ergibt. Eine Demokratie sollte zum Ziel haben, dass für alle Bürger Chancengleichheit herrscht und soziale Unterschiede aus eigener Kraft und eigenem Willen überwunden werden können. Eine geheime Klassifizierung anhand des Konsumverhaltens und der Verkauf sowie die weitreichende Verbreitung dieser Daten und Nutzerprofile ermöglichen aber eine neue Manifestation von sozialer Ungleichheit und ein völlig neues Klassendenken entsprechend diesen digitalen Strukturen. Soziale Ungleichheiten werden in der Folge unhinterfragt festgelegt, und es findet eine schleichende Aushöhlung von demokratischen Grundsätzen und Idealen statt. Wie lassen sich demokratische Prinzipien und Strukturen angesichts der industriellen Überwachungspraktiken für die Gegenwart und die Zukunft schützen? Wie werden sich Staats- und Regierungsformen im Zuge dieser Phänomene des digitalen Zeitalters weiter verändern?

Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten

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