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1.3 Narrative Ethik für die Praxis

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Menschen erzählen sich Geschichten, sie erinnern sich an Geschichten und erstellen ihre Biographie aus einer Anzahl von Geschichten, die wiederum ihre Identität begründen. Menschen sind sozusagen narrative Wesen, die ihre Ideen, Wünsche, Vorstellungen und Erinnerungen in Erzählungen, also Narrativen, kommunizieren. Narrative sind zentrale Bedeutungsvermittler und können Werte und Normen, abstrakte Sachverhalte und Prozesse veranschaulichen sowie Emotionen auslösen. Sie vermitteln letztlich auch Moral bzw. Unmoral. Narrative finden sich in unterschiedlicher Gestalt: in Alltagsgeschichten, Romanen, Comics, Filmen oder auch in Szenarien der Technologieforschung.

Eine Ethik, die solche Narrative analysiert und ihre ethischen Implikationen reflektiert, lässt sich als narrative Ethik beschreiben. Erste theoretische Ansätze zu einer solchen Ethik entwickelten z. B. die amerikanischen Philosophen Martha Nussbaum und Richard Rorty, während in Deutschland Dietmar Mieth diesen Begriff im Kontext einer christlichen Moraltheorie prägte.

Narrative Ethik, wie sie im vorliegenden Band verstanden wird, analysiert zum einen die in Geschichten konstruierten Weltentwürfe und die darin vorhandenen Werte- und Normensysteme. Dazu greift sie auf die Analysemethode der Narratologie (Erzählforschung) zurück. So können z. B. mit ihrer Hilfe die Figurenperspektive, die Handlungsstrukturen und die in Geschichten vermittelten Werte nachvollziehbar ermittelt werden. Zum anderen untersucht und reflektiert die narrative Ethik, welche ethischen Semantiken (Bedeutungen) in Erzählungen zu finden sind und welche Bezüge diese zu ethischen Fragestellungen unserer Gesellschaft haben. Die narrative Ethik kann aber auch Geschichten, Szenarien oder moralische Dilemmata selbst entwickeln und diese für die Schärfung von ethischen Aspekten und Konflikten nutzen. Mit ihrer Hilfe können also ethische Problematiken, die ggf. nicht von vornherein bedacht werden oder nicht sichtbar sind, aufgezeigt werden. Sie kann damit für ethische Fragen sensibilisieren. Ebenso kann sie mittels Geschichten bzw. Szenarien Motivation dafür generieren, sich mit ethischen Fragen zu befassen und Lernprozesse in Gang zu setzen. Diese Wirkung wird durch die emotionale Ansprache der narrativen Ethik und ihren Rückgriff auf Erfahrungen aus dem Alltag bekräftigt. In diesem Sinne kann sie auch didaktisch für Bildungsprozesse und Medienkompetenzförderung unterstützend wirken. Narrative können allerdings nicht selbst Reflexionstheorie der Moral sein, sie sind vielmehr ein Mittel für die ethische Reflexion.

Für eine Ethik der Digitalisierung erscheint die narrative Ethik ein probater Ansatz zu sein: Sie macht oftmals abstrakt und schwer zu fassende Sachverhalte, wie z. B. Big Data (Massendaten), autonomes Fahren oder Künstliche Intelligenz, in ihrer ethischen Dimension narrativ leichter zugänglich und arbeitet normative Aspekte und Werte in Anwendungs- und Zunftsszenarien kritisch heraus. Ebenso kann sie dabei helfen, zukünftige digitale Entwicklungen antizipierend zu reflektieren. In dem vorliegenden Band zur Digitalen Ethik wurden deshalb Geschichten zur Reflexion und auch Veranschaulichung ethischer Konflikte bewusst eingesetzt.

Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten

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