Читать книгу Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten - Petra Grimm - Страница 4

1. Digitale Ethik: Positionsbestimmung und Perspektiven 1.1 Was ist Ethik? Und was ist eine Digitale Ethik?

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Der Begriff Ethik kann befremden, klingt er doch vielen nach »moralischer Überlegenheit« oder Besserwisserei – oder sogar nach Bevormundung: Da ist anscheinend jemand, der vorgibt, den richtigen Weg zu kennen, und der andere über diesen einzigen richtigen Weg belehren will. Diese Vorbehalte sind verständlich, aber letztlich unbegründet, wie in diesem Band gezeigt werden soll: Ethik ist wichtig, organisiert unser Leben, gibt Hilfestellung und Orientierung – und das gilt für jeden von uns.

Ethik ist ein Teilgebiet der Moralphilosophie. Ethik und Moral sind dabei nicht dasselbe. Der Begriff Ethik stammt vom griechischen Wort ethos (›Sitte, Gewohnheit, Charakter‹) ab. Ethos beschreibt die sittliche Gesinnung einer Person oder einer Gruppe. Ethik ist demgegenüber der Ausdruck für eine wissenschaftliche Disziplin, oder anders ausgedrückt: für eine Reflexionstheorie der Moral.

Was bedeutet das? Ethik reflektiert über die in einer (digitalen) Gesellschaft geltenden Wertmaßstäbe und Überzeugungen (in diesem Sinne hat sie also eine beschreibende, deskriptive Funktion). Sie muss gute Argumente dafür vorbringen, warum bestimmte Werte und Normen gelten sollen, und formuliert konsensfähige Kriterien sowie ethische Standards, die Handlungsorientierung bieten (in diesem Sinne hat sie eine Regeln vorgebende, also eine normative Funktion).

Anders ausgedrückt begründet Ethik die Antworten auf die Frage »Was soll ich tun?« und kann daher auch als »Theorie des richtigen Handelns« bezeichnet werden. Ethik bezieht sich somit auf das Bewusstsein bzw. die Grundhaltung, die ein Mensch oder ein Kollektiv gegenüber einem bestimmten Sachverhalt hat: Indem man eine Position etwa zu einer problematischen Handlung oder einem fragwürdigen Phänomen einnimmt, beginnt man, sich mit dieser Position auseinanderzusetzen – und eine Lösung für das Problem zu suchen. Man findet vielleicht nicht immer sofort eine perfekte Lösung, doch stößt man bei seiner Suche mindestens schon einmal auf Werthaltungen, die im Konflikt miteinander stehen und die durch diese Spannung den eigentlichen Kern des Problems offenlegen und verstehbar machen. Dies könnte dann der erste Ansatz zur Lösung des Konflikts werden.

Im Lateinischen hat das Wort mos (Plural: mores) eine ähnliche Bedeutung wie ethos und verweist auf verbindliche Verhaltensregeln oder gar Verhaltenskodizes, also Regelwerke. Wir verstehen Moral heute oft als eine Botschaft oder Lektion, die man zu lernen hat. Im Kern stimmt dies insofern, als Moral die gültigen Normen einer Gesellschaft beschreibt, der die Menschen folgen – oder der sie vielleicht auch nicht folgen.

Und genau hier fängt das Problem an: Wer bestimmt diese Regeln überhaupt, wer schreibt sie vor? Die Antwort gibt der grundlegende Ansatz der Ethik: Wir als Menschen handeln diese Normen, die mores, miteinander aus. Wir verstehen sie nicht als gesetzt und für immer fixiert, sondern wir suchen nach den optimalen Wegen, mit auftretenden Problemen, Konflikten und Zweifelsfällen angemessen umzugehen und Lösungen für diese Konflikte und Zweifelsfälle zu finden. Dafür müssen wir aber eine eigene, begründete Haltung den Sachverhalten und Handlungen gegenüber entwickeln. Wir müssen wissen, »was Sache ist«, wir müssen ein Gespür dafür entwickeln, was überhaupt das Problem ist, wessen berechtigte Interessen berührt werden, welche Konflikte sich aus dem Aufeinandertreffen mehrerer Positionen, Handlungen und Handlungsträger ergeben. Dies ist nicht immer eindeutig zu klären – oft überlappen sich beispielsweise die berechtigten, aber nicht miteinander zu vereinbarenden Interessen mehrerer Akteure.

Dieser Ansatz von Ethik ist nicht präskriptiv, er schreibt uns also nicht von vornherein vor, was wir tun sollen. Ethik in diesem Sinne ist vielmehr diskursiv, ist ein Gespräch: Sie lädt uns ein, darüber nachzudenken, was für Menschen wir sein wollen. Tatsächlich ist dies eine der großen Herausforderungen für uns Menschen: in Freiheit zu entscheiden, wie wir sein wollen und wie wir angemessen handeln können. Wir können in unserem Leben lernen, die richtigen Dinge zu tun. Wir müssen jedoch auch lernen, mit den Folgen umzugehen, wenn wir uns falsch entscheiden (was man leider meist erst im Nachhinein bemerkt).

Ethik umfasst somit auch eine Praxis: Anschlusshandlungen in der realen Welt, die im besten Fall zu einer Verbesserung der Situation führen. Das heißt: Wir müssen uns entscheiden, uns so oder anders einem Sachverhalt gegenüber zu verhalten. Das schließt durchaus ein, einander gegenläufige, jedoch gerechtfertigte bzw. legitime Haltungen oder Interessen im Sinne eines »vernünftigen Pluralismus« anzuerkennen, wie es der amerikanische Philosoph und Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls formuliert hat. Auch wenn wir nicht vorschreibend bzw. präskriptiv agieren, also Vorschriften setzen wollen: Wir haben es am Ende stets mit Normen zu tun, mit denen wir uns differenziert auseinandersetzen müssen.

Und genau an dieser Stelle setzt die Digitale Ethik an. Sie sucht nach solchen angemessenen und legitimen Haltungen und Handlungsweisen für zunehmend digitalisierte Lebensumwelten und allgemein für das Leben in der Digitalität. Computer, ihre Softwares und deren Algorithmen, der Einsatz von Robotern, das Sammeln und Auswerten von persönlichen Daten, die Vernetzung zu fast jeder Tageszeit: All diese Innovationen erfordern das (neue) Aushandeln von Regeln und Normen, für die es vor kurzem noch keine Notwendigkeit gab. Nur ein Beispiel: Seit der Markteinführung des Smartphones (2007) trägt fast jeder einen solchen internetfähigen Kleincomputer mit sich herum, mit dem man auch jederzeit und (fast) überall telefonieren kann. Hier fangen Konflikte oft schon im Kleinen an und berühren dennoch Probleme in der Gesellschaft insgesamt: Wie das folgende Beispiel zeigt, geht es um die Frage, wie wir zusammenleben wollen.1

Im September 2018 wurde der siebenjährige Emil aus Hamburg deutschlandweit bekannt. Gemeinsam mit anderen Kindern organisierte er eine Demonstration, um gegen den übermäßigen Gebrauch von Smartphones durch seine Eltern zu protestieren: »Spielt mit MIR! Nicht mit Euren Handys«, war auf den Pappschildern zu lesen, die Kinder auf der Demo hochhielten. Emils Vater Martin (37) hatte seinen Sohn bei der Organisation unterstützt, war aber wohl auch ein wenig peinlich berührt. Immerhin war er der Auslöser für den Unmut seines Sohnes: Zu oft wollte Emil mit seinem Papa spielen, »der hat aber nur auf sein Handy geguckt«. Tatsächlich scheint es für die Entwicklung von Kindern nicht gut zu sein, wenn Eltern ständig auf ihre digitalen Geräte konzentriert sind und so den Augenkontakt mit ihren Kindern meiden bzw. ständig abgelenkt sind und ihren Kindern weniger Aufmerksamkeit widmen als ihrem Smartphone. Emils Vater Martin muss sich also ethisch gesehen fragen: Was für ein Mensch will ich als Vater sein?

Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten

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