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2.3 Wozu brauchen wir Privatheit?

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Warum Privatheit ein wertvolles Gut ist, lässt sich mit einem Gedankenexperiment nachvollziehen: Angenommen, man würde in einer Gesellschaft leben, in der es nichts Privates mehr gäbe – Unternehmen, Staat, Nachbarn, Kollegen, Chefs und Freunde wüssten, welche Wünsche, Interessen und Gefühle man hat, ob man gesund oder krank ist, wie viel Geld man zur Verfügung hat, welche Partei man wählt, ob man Alkohol trinkt, religiös ist, ob man sich immer moralisch verhält usw. Das Leben jedes Einzelnen wäre also für alle transparent. Was würde sich dadurch verändern?

Keine Geheimnisse mehr haben zu dürfen, nicht mehr entscheiden zu können, wem man etwas mitteilt oder vorenthält, würde unser Zusammenleben, unsere Freiheit und auch unsere Identität betreffen. So hat bereits Anfang des letzten Jahrhunderts der Soziologe Georg Simmel in seinem Aufsatz »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft« auf die Bedeutung von Wissen und Verbergen für das Zusammenleben hingewiesen. Konstitutiv für soziale Beziehungen sei der Respekt vor dem nicht geäußerten »Geheimnis des Anderen«: »So scheiden sich die Verhältnisse der Menschen an der Frage des Wissens umeinander: was nicht verborgen wird, darf gewusst werden, und: was nicht offenbart wird, darf auch nicht gewusst werden.«19 Nichts mehr verbergen zu können würde bedeuten, dass wir nicht mehr entscheiden können, wem wir etwas über uns anvertrauen oder nicht. Eine geschützte Kommunikation wäre nicht mehr möglich. Privates mit bestimmten Menschen auszutauschen oder eben nur zum Teil oder gar nicht, ist der Gradmesser und Faktor für eine vertrauensvolle Beziehung. Nur dadurch, dass man die Wahl hat, Dinge für sich behalten zu dürfen oder sie mit Freunden, Partnern oder der Familie zu teilen, kann eine soziale Bindung zwischen Menschen entstehen und aufrechterhalten werden: Der Verlust von Privatheit und die totale Transparenz führen zu einem Verlust von Vertrauen und Vertrautheit.

Aber nicht nur unser soziales Zusammenleben, auch unsere Freiheit und Autonomie würden ohne Privatheit beeinträchtigt werden. Wenn alles öffentlich wäre, über was wir nachdenken, reden, was wir fühlen, uns erhoffen und wovor wir Angst haben, dann hätten wir keinen Raum für persönliche Gedanken und Gefühle und keinen Ort, wo wir vor Kontrolle, Zwang und Diskriminierung geschützt sind. Das hätte nicht nur Folgen für unsere individuelle Selbstbestimmung, sondern auch für unsere Demokratie, die ohne autonome Bürger keine Demokratie wäre: »Eine Gesellschaft wäre erstickend und unfrei, wenn in ihr der Schutz des Privaten nicht mehr respektiert würde; sie wäre keine Gesellschaft mehr, in der wir leben wollten und frei leben könnten.«20

Wenn unsere Privatheit nicht respektiert wird, dann birgt dies auch ein erhöhtes Risiko für Manipulation. Denn wer alles über uns weiß, kann nicht nur unsere Konsumwünsche beeinflussen, wie dies schon bei der personalisierten Online-Werbung gang und gäbe ist. Auch das politische Wahlverhalten kann durch zielgenaue Wahlwerbung (Microtargeting und Dark Ads) manipuliert werden. Beispiele hierfür sind die US-Wahlen 2016 und der britische Wahlkampf vor dem Brexit-Referendum. So zeigt der 2018 vom Ausschuss für Digitales, Kultur und Medien des britischen Parlaments vorgelegte Zwischenbericht, dass die Leave-Kampagne auf Facebook Falschinformationen und Ängste schürende Wahlwerbung betrieb, bei der mithilfe von Psychogrammen die Nutzer gezielt desinformiert werden sollten.21

Ein weiterer Grund, warum der Schutz des Privaten für den Einzelnen und die Gesellschaft wichtig ist, ist dessen Bedeutung für die Identität und Integrität einer Person. Wenn der Einzelne nicht überschauen kann, was Dritte über ihn wissen, kann dies sein Verhalten beeinflussen und zu einer Normierung führen. Auf diesen Aspekt hat auch das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem legendären Volkszählungsurteil (1983) zum sogenannten Recht auf informationelle Selbstbestimmung hingewiesen: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung beschreibt das Recht des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen – ist also ein Grundrecht auf Datenschutz. Begründet wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung damit, dass durch die Bedingungen der modernen Datenverarbeitung die Selbstbestimmung bei der freien Entfaltung der Persönlichkeit gefährdet werde: Wer nicht weiß oder beeinflussen kann, welche Informationen bezüglich seines Verhaltens gespeichert und bevorratet werden, werde aus Vorsicht sein Verhalten anpassen. Man nennt dies chilling effect: Damit ist ein vorauseilendes, selbstbeschränkendes Handeln aus Angst vor möglichen Folgen gemeint. So kann die Tatsache der ständigen Datenerfassung Menschen dazu veranlassen, sich in ihrem Verhalten einzuschränken, nicht aufzufallen bzw. sich an vermeintlich Normatives zu halten. Sich nur stromlinienförmig zu verhalten und zu äußern bzw. die eigene Meinung zu verschweigen oder gar den Kontakt zu Menschen zu unterbinden, die sich kritisch äußern, bedeutet einen Verzicht auf Meinungsfreiheit, Integrität und Authentizität. Dies würde fatale Folgen für unsere auf diesen Werten begründete Demokratie haben. Es würde sich damit im digitalen Zeitalter eine selbstzensorische Schweigespirale in Gang setzen.

Ein in der Privatheitsforschung noch weitgehend vernachlässigter Aspekt ist die Bedeutung der Privatheit für die Identitätsbildung. Die eigene Identität zu bilden, indem man mit Widerständen des Lebens umzugehen lernt, sich die Fähigkeit zur Resilienz (d.h. zum Widerstand gegen negative Einflüsse) also anzueignen, ist ohne den Schutz des Privaten kaum möglich. Denn dieser ermöglicht es, einen eigenen Raum für Reflexionen zu bewahren und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Insbesondere Kinder und Jugendliche, die ihre Identität erst bilden müssen, jedoch in den sogenannten sozialen Medien zur Preisgabe von privaten Informationen veranlasst werden, benötigen einen Schutzraum. Hannah Arendt hat diese Bedeutung des Privaten in einer Metapher zum Ausdruck gebracht. Demnach brauchen Kinder einen Raum der »Geborgenheit«, der sie vor dem »hellen Licht der Öffentlichkeit« bewahre.22 So gesehen wird der digitale Kosmos, in den Kinder heute hineingeboren werden, nicht nur von ökonomischen Prinzipien geprägt. Er ist auch die Bühne, auf der sich jeder im »hellen Licht der Öffentlichkeit« präsentieren soll. Für Kinder und Jugendliche ist dieser Kosmos, den sie in sozialen Medien erleben, selbstverständlich, denn sie kennen keinen anderen. Gerade für Jugendliche, die sich über soziale Medien ständig vergleichen (Wer ist attraktiver? Wer hat die schönsten Urlaubsfotos, wer besucht die originellsten Locations? usw.) und nach Orientierung suchen, stellt der Schutz der Privatsphäre eine besondere Herausforderung dar. Denn Instagram, Facebook und Snapchat geben die Struktur vor, wie man kommuniziert und wie man sich präsentieren soll. So werden Jugendliche durch die Kommunikationsstruktur der sozialen Medien dazu veranlasst, ihre persönlichen Informationen und Bilder preiszugeben und damit Einblick in ihre Privatsphäre zu geben. Damit erhöht sich ihr Verletzungsrisiko, z. B. wenn andere sich über sie lustig machen oder sie gar mobben.

Folgende Übersicht fasst die wesentlichen Funktionen der Privatheit zusammen:


Abb. 2: Funktionen der Privatheit

Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten

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