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1.2 Was kann eine Digitale Ethik leisten?

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Eine Digitale Ethik hat zum Ziel, dem Menschen dabei zu helfen, in der sich weiter modernisierenden Gesellschaft mit ihren vielfältigen digitalen Geräten und Anwendungen einen angemessenen Umgang mit diesen Technologien und ihren Auswirkungen zu finden. Menschen sollen dazu befähigt werden, Probleme der Digitalität zu erkennen und Lösungen zu entwickeln bzw. vorwegzunehmen – oder auch einfach die Dilemmata bzw. Unauflösbarkeit von Widersprüchen zu erkennen, die manche Handlungen mit sich bringen können. Wie im obigen Beispiel von Emil und seiner Kinderdemo: Kinder haben sowohl das Recht auf eigenes Spielen als auch auf Aufmerksamkeit und Zuwendung von ihren Eltern. Doch Eltern haben auch das Recht auf Information, Erholung und Rückzugräume – und vielleicht ›erkaufen‹ sie sich ja die Zeit für den Besuch auf einem Spielplatz mit der dortigen Erledigung von beruflichen E-Mails auf ihrem Smartphone. Das moderne Leben in der Digitalität bietet nämlich neue Möglichkeiten und provoziert dadurch neue Dilemmata; Spielplatzbesuche oder das Familienleben waren früher sicher anders. Im analogen Zeitalter waren Eltern vielleicht durch andere Dinge abgelenkt oder durch starrere Arbeitszeitregelungen gar nicht so oft für ihre Kinder präsent.

Hier wie auch in anderen Lebensbereichen gilt es also, alle Faktoren gegeneinander abzuwägen. Als Eltern müssen wir als Erziehende (und auch darüber hinaus) lernen, unseren Kindern gegenüber eine Haltung einzunehmen, die ihnen gerecht wird – und müssen gleichzeitig lernen, digitale Anwendungen dabei angemessen zu integrieren. Ebenso wenig wie unsere Kinder, die ja immer unabhängig davon, wie alt sie sind, unsere Kinder bleiben, wird die Digitalität einfach so verschwinden. Wir müssen also lernen, mit den Herausforderungen der digitalen Welt zu leben – wir haben sie erschaffen. Doch wir müssen sie sinnvoll kontrollieren, sie, wo immer dies nötig sein sollte, auch eingrenzen. Nicht alles, was technisch möglich und faszinierend ist, ist automatisch ein Fortschritt.

Als Erweiterung der Ethik analysiert die Digitale Ethik also, welche legitimen Handlungsoptionen sich aus der Entwicklung, dem Einsatz und der Anwendung digitaler Technologien ergeben. Sie kann hierzu auf das bereits zur Verfügung stehende analytische Instrumentarium der Ethik zurückgreifen. Sie will damit jedoch auf keinen Fall die bestehenden Verhältnisse bloß bestätigen, sondern will dort, wo es sinnvoll und möglich ist, ihre theoretisch-analytischen Erwägungen in die Praxis überführen. Die Digitale Ethik hat zum Ziel, den Menschen zu einem reflexionsfähigen Gestalter seiner Welt zu befähigen, der begründbare Haltungen entwickelt und sich auf dieser Basis verantwortlich in der Digitalität verhält. Die Grundfrage der Digitalen Ethik lautet also: Welche ethischen Positionen kommen hierbei – und gerade auch mit Blick auf ihre praktische Anwendbarkeit im Alltag – zum Tragen?

Die Digitale Ethik blickt zum einen auf die Verwendungszusammenhänge von digitalen Technologien. Was ist der ursprünglich ins Auge gefasste Zweck dieser Anwendungen? Und was sind ihre Folgen? Letztere sind oftmals ganz andere als zunächst gedacht. In einer solchen auf das Ziel ausgerichteten, teleologischen Perspektive (griech. telos, ›Ziel, Zweck‹) analysiert die Digitale Ethik also die Kosten-Nutzen-Relation von digitalen Technologien, und zwar immer in Bezug auf das Individuum und die Gesellschaft insgesamt.

Dies ist wichtig z. B. für Folgenabschätzungen einer digitalen Innovation (man würde philosophisch solch einen Ansatz konsequentialistisch nennen, also von einem Ansatz reden, der auf die Konsequenzen einer Entscheidung schaut), etwa den Einsatz von Pflegerobotern. Was gewinnt man, was verliert man, wenn man Patienten von digital gesteuerten Maschinen pflegen lässt? Und wer gewinnt? Ist es, utilitaristisch (also vom größten Glücksgewinn für die größte Menge Menschen) gedacht, akzeptabel, wenn eine Mehrheit der Menschen zwar von einer Technologie profitiert, eine Minderheit dafür aber im Sinne einer ökonomischen Rationalität in ihren Rechten beschnitten wird? Hier geht es um weit mehr als nur Geld. Speziell der Utilitarismus ist stark mit einer ökonomistischen Sicht auf die Welt verknüpft, derzufolge fast alles als rationales Geschäftsmodell gesehen wird: Anscheinend geht es nur um Leistung für Gegenleistung zum größtmöglichen Nutzen der meisten. Genau aus dieser ethischen Perspektive heraus sind die modernen Wirtschaftswissenschaften entstanden.

Eine deontologische Sichtweise (griech. deon, ›Pflicht‹, hier also etwa: eine Sichtweise, die aus Pflichten oder Gesetzen Aussagen ableitet) betrachtet den intrinsischen, also den verinnerlichten moralischen Status einer Handlung oder einer Anwendung. Ist es etwa richtig, einen bettlägerigen alten oder kranken Menschen ganz oder teilweise von einem Roboter behandeln zu lassen, von einem Roboter, der vielleicht sogar wie ein Mensch aussieht, aber eben keiner ist? Der Pflichtethiker geht davon aus, mit einer solchen Handlung einen höheren Wert zu verletzen, der besagt, dass man Alten und Kranken dieselbe Wertschätzung – und genau deshalb auch dieselbe Qualität der Pflege und Zuwendung – zukommen lassen soll wie etwa Kindern. Wir haben die Pflicht zur Humanität, zur Menschlichkeit, und sollten daher der Verlockung widerstehen, rein aus Kosten- oder Zeitgründen pflegebedürftige Menschen komplett von Robotern versorgen zu lassen. Doch was wäre, wenn es in einem konkreten Fall anders nicht ginge?

Deontologische Analysen verweisen auf das Potenzial der Digitalen Ethik, absolute Werte herauszuarbeiten, zugleich jedoch auch andere Werte gegen jene Werte abzuwägen, die mit dem Fall verbunden sind – Pflichten und Rechte von Menschen stehen ja in einem Wechselverhältnis. Manchmal mag die Pflege durch einen Roboter besser sein als gar keine. Die Deontologie zwingt uns dazu, zu nuancieren, und oft auch dazu, Dilemmata auszuhalten. Sie kann aber auch sehr rigide sein in der Durchsetzung bestimmter Maximen (Leitpflichten) der Lebensführung: Immanuel Kant (1724–1804) lehnte jede Form von Notlüge ab (auch wenn sich dadurch ein Menschenleben retten ließe). Dürfte man also mit Kant heute unter falschem Namen bei Facebook angemeldet sein oder aus legitimen Gründen seine IP-Adresse im Netz verschleiern?

In einer tugendethischen bzw. eudämonistischen Perspektive lädt uns die Digitale Ethik zum Nachdenken und Erproben in Bezug darauf ein, wie wir mit anderen Menschen zusammenleben möchten. Ziel ist das »gute« oder »gelingende Leben«, wie es Aristoteles (384–322 v. Chr.) genannt hat. Das altgriechische Wort eudaimonía ließe sich auch in etwa mit ›Glück‹ oder ›Glückseligkeit‹ übersetzen. Hinter diesem Begriff steckt immer die Frage, wie Menschen so handeln können, dass sie zum individuellen, aber eben auch zum kollektiven, gesellschaftlichen Glück beitragen.2 Ein solches Streben nach der »Vortrefflichkeit« (man könnte auch sagen: der Exzellenz) der Lebensweise stellt entsprechend dieser Sichtweise die höchste Tugend dar: Was für ein Mensch will ich sein? Mit Blick auf Pflegeroboter würde eine Digitale Ethik etwa hinterfragen, ob die Auslagerung von menschlicher Zuwendung an Maschinen geeignet zu sein scheint, menschlich zusammenzuleben, oder wie wir uns trotz aller Widrigkeiten und vielleicht guter Gegenargumente mehr anstrengen sollten, die Würde eines pflegebedürftigen Menschen so weit wie es irgend geht zu wahren. Dessen individuelles Glück könnte Ausdruck eines größeren gesellschaftlichen Glücks sein. Dies zu reflektieren, müssen wir in praktischer Vernunft lernen. Was genau Tugenden sind oder was die greifbaren Ergebnisse der Reflexion sind, bleibt in dieser Perspektive notgedrungen oft unklar, wie Kritiker bemängeln.

Infobox: Analytische Betrachtungsebenen der Digitalen Ethik


Indem die Digitale Ethik nun aber aus so unterschiedlichen Perspektiven auf Handlungen und Phänomene (in) der Digitalität blickt, vermag sie eine differenzierte und zugleich ganzheitliche Analyse des Lebens in digitalen Umwelten zu liefern. Dies ist angesichts der zunehmenden Komplexität von digitalen Technologien und ihren Anwendungen dringend geboten. Die (wenn man so will) werkseitigen Standardeinstellungen – die der technischen Hilfsmittel und (metaphorisch ausgedrückt) die unseres eigenen Denkens – sind nicht von Anfang an perfekt oder bräuchten keine Anpassung oder Veränderung; wir müssen sie aber nicht nur updaten, sondern auch weiterentwickeln.

Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten

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