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Modernes Samarien
ОглавлениеReagiere ich über? Ich fragte mich, ob negative Gefühle gegenüber Religion vielleicht ein lokal begrenztes Phänomen wären, bis ich auf eine Meinungsumfrage stieß, bei der achtzehntausend Menschen in dreiundzwanzig Ländern befragt wurden.14 Zur Vorbereitung einer 2010 geführten Debatte zwischen dem ehemaligen britischen Premier Tony Blair und dem Atheisten Christopher Hitchens gaben die Sponsoren aus Toronto eine kleine Umfrage in Auftrag. Hier nun die Ergebnisse der Umfrage zum Thema „Ist Religion eine Kraft, die Gutes bewirkt?“:
Land | Prozentsatz derjenigen, die mit Ja antworteten |
Saudi-Arabien | 92 |
Indonesien | 91 |
Indien | 69 |
USA | 65 |
Russland | 59 |
Italien | 50 |
Türkei | 43 |
Kanada | 36 |
Deutschland | 36 |
Australien | 32 |
Großbritannien | 29 |
Japan | 29 |
Frankreich | 24 |
Belgien | 21 |
Schweden | 19 |
Insgesamt waren 52 Prozent der Befragten der Meinung, dass Religion mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt. Obwohl die Umfrage nicht weiter untersuchte, was hinter diesen Antworten stehen mochte, fiel mir auf, dass gerade die Länder, die am engsten mit der Geschichte des Christentums verknüpft sind – vor allen Dingen in Europa – Religion am wenigsten respektierten und für gut hielten. Im Gegensatz dazu lag der Prozentsatz in Russland viel höher, obwohl der atheistische Staat im letzten Jahrhundert versucht hatte, Religion auszumerzen. Darüber hinaus fiel mir auf, dass Länder in Afrika und Südamerika, in denen Religion eine neue Blüte erfährt, in der Umfrage nicht berücksichtigt wurden.
In den Vereinigten Staaten bringt man der Religion grundsätzlich noch Respekt entgegen, obwohl sie in einer Hinsicht möglicherweise einem europäischen Trend folgt: Umfragen zeigen ein stetiges Anwachsen der Religionslosen (heute ein Drittel der Unter-Dreißigjährigen). Das sind mehr als Episkopale, Presbyterianer, Methodisten und Lutheraner zusammengenommen.
Die Umfrageergebnisse gingen mir noch im Kopf herum, als ich mich an einen Artikel erinnerte, den Tim Stafford vor einigen Jahren in Christianity Today veröffentlicht hatte.15 Er zog eine Parallele zur biblischen Zeit und sagte, dass Christen in den USA manchmal glaubten, wir lebten in Babylon als Flüchtlinge in einer Kultur, die Werte lebt, die unseren widersprechen (man denke nur an Hollywoodfilme). In Wirklichkeit leben wir eher in Samarien. Zur Zeit Jesu bewohnten die Samaritaner ein Gebiet, das unmittelbar an das ihrer Cousins, den Juden, angrenzte. Obwohl sie so viel gemeinsam hatten, kamen die beiden Gruppen nicht miteinander zurecht. Wie einander entfremdete Verwandte hegten sie Groll gegeneinander. Für die Juden waren die Samaritaner schlicht und einfach Häretiker. Im Johannesevangelium 4,9 heißt es: „Die Juden verkehren nicht mit den Samaritern“ (ELB).
Es ist eigenartig, aber gerade Gruppen, die sich am nächsten stehen, können sich oft nicht ausstehen. Außerhalb von Ruanda und Jugoslawien kann man die Unterschiede zwischen Hutu und Tutsi oder zwischen Bosniern, Serben und Kroaten kaum benennen – und doch gab es Massaker um dieser Unterschiede willen. Heute schauen wir uns die Gewaltausbrüche im Nahen Osten an und bemühen uns, die Spannungen zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen zu verstehen. Zwischen Menschen, die eigentlich gleich, aber nicht ganz gleich sind, kann, warum auch immer, mehr Hass entstehen als zwischen Menschen, die offensichtlich unterschiedlich sind. Das galt auch zur Zeit Jesu. Die Pharisäer gebrauchten das böse Wort mit „S“, als sie Jesus beleidigten, und warfen ihm vor, ein Samaritaner und von Dämonen besessen zu sein (Johannes 8,48). Und als die Samaritaner Jesus in einem Dorf nicht willkommen hießen, schlugen seine Jünger vor, Feuer vom Himmel regnen zu lassen, um sie zu vernichten.
„Das Problem ist nicht, dass meine Religion irgendwie seltsam wäre“, sagte Stafford. „Das Problem ist, dass ihnen meine Religion vertraut ist. Wie Samaritaner und Juden haben Christen und Nichtchristen eine in großen Teilen gemeinsame Weltsicht (unsere westlichen Traditionen, eingeschlossen die Bibel), einen gemeinsamen Ursprung (das Christentum) und wohldefinierte Punkte, in denen sie sich uneinig sind (der Exklusivitätsanspruch Christi). Wir wissen genau, was der andere glaubt. Wir hegen Misstrauen gegeneinander. Also sind wir uns nicht grün.“
Mir fallen meine Freunde in der Lesegruppe ein, die sich für Menschenrechte einsetzen, für Bildung, Demokratie, Mitgefühl mit den Schwachen, und die meisten dieser Anliegen haben christliche Wurzeln. Trotzdem glauben sie, dass Christen gegen diese Anliegen arbeiten. Mittlerweile betrachten konservative Christen Agnostiker und Atheisten ebenfalls als Bedrohung. Das sind die, die das Schulgebet verboten haben und Weihnachten den christlichen Bezug nehmen wollen. Sie haben unser christliches Erbe verraten, indem sie die Ehe neu definieren und Abtreibungen erlaubt haben, und jetzt wollen sie auch noch die Beihilfe zur Selbsttötung legalisieren. Beide Gruppen, säkular eingestellte Menschen und Christen, neigen dazu, sich zu isolieren und die anderen zu verurteilen, ohne miteinander ins Gespräch zu kommen.
Als ich ein Zitat des verstorbenen Andy Rooney auf meiner Facebookseite postete, bekam ich etwas von den leidenschaftlichen Emotionen hinter diesem Kulturkrieg zu spüren. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich gegen Abtreibung bin“, sagte Rooney. „Ich halte das für Mord. Aber ich stecke in dem Dilemma, dass ich Abtreibungsbefürworter den Lebensrechtlern vorziehe. Ich würde viel lieber mit einer Gruppe der ersteren essen gehen.“16 Die Kommentare darunter glichen einem kleinen Vulkanausbruch. Manche zerrissen Rooney in der Luft, weil er ja nur ein aus dem Fernsehen bekannter Prominenter sei, der keine wirkliche Glaubwürdigkeit besitze. Andere verteidigten Menschen, die gegen das Recht auf Abtreibung kämpften, und grenzten sich von der verhassten Gegenseite ab. Eine Frau schrieb: „Was wollen Sie damit sagen? Dass Sie genau wie Rooney die Gesellschaft von Menschen, die Mord an Unschuldigen gutheißen, auf oberflächliche Weise angenehmer finden als die Gesellschaft derjenigen, die glauben, dass man diese Babys beschützen muss? Das ist fleischlich gesinnt … Ihr Kommentar macht mich krank.“
Kurz: Die Kommentare bestätigten genau das, was Andy Rooney gesagt hatte. Würde ich gerne mit solchen Giftspritzen essen gehen? Ich antwortete darauf – und dieses Motiv wird sich durch das ganze Buch ziehen –, dass es nicht darauf ankommt, ob ich mit jemand anders einer Meinung bin, sondern wie ich mit jemandem umgehe, dessen Meinung ich überhaupt nicht teile. Wir Christen sind dazu berufen, die „Waffen der Gnade“ einzusetzen, und das bedeutet, sogar unsere Gegner mit Liebe und Respekt zu behandeln.
Wie immer zeigt uns Jesus hier den Weg. Als die Pharisäer ihn als „von einem bösen Geist besessenen Samaritaner“ niedermachten, stritt er ab, besessen zu sein, doch gegen die rassistische Diskriminierung wehrte er sich nicht. Er tadelte seine Jünger, als sie zu Gewalt gegen die Samaritaner aufriefen. Ganz bewusst machte er einen Samaritaner zum Helden eines Gleichnisses. Er machte sich die Mühe, ein samaritanisches Dorf zu besuchen, und befahl seinen Jüngern, das Evangelium an solchen Orten zu verkündigen.
Schließlich verstanden seine Jünger den springenden Punkt: Als die Samaritaner nach der Himmelfahrt Jesu ihm „mit großer Freude“ nachfolgten (vgl. Apostelgeschichte 8,8-17), bekamen sie durch Petrus und Johannes den Heiligen Geist geschenkt – durch denselben Johannes, der einmal Feuer vom Himmel rufen lassen wollte, um sie zu vernichten.