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Das Böse

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In einem kleinen Buch, das Nicholas Woltersdorff zum Andenken an seinen Sohn verfasste, der bei einem Kletterunfall ums Leben gekommen war, schrieb er: „Nun, da wir die Abwesenheit anderer Menschen durch das Telefon überwunden haben, die Tatsache, dass wir keine Flügel besitzen, durch das Flugzeug, und die Sommerhitze durch Klimaanlagen – wenn wir all das und noch mehr überwunden haben, werden doch zwei Dinge bleiben, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen: dem Bösen in unserem Herz und dem Tod.“64 Das Böse und der Tod stellen alle Menschen vor Fragen, zu denen Christen Trost und vielleicht eine neue Perspektive anbieten können.

Vor vielen Jahren führte ich in Chicago mit einem freundlichen Pastor ein Gespräch, bei dem ich dem Bösen praktisch in die Augen sah. Im Gemeindebrief hatte ich gelesen, dass dieser Pastor im Zweiten Weltkrieg an der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau beteiligt gewesen war. Ich fragte ihn nach seinen Erlebnissen. In den nächsten zwanzig Minuten erinnerte er sich an den Anblick, die Geräusche und vor allen Dingen an die Gerüche, die seiner Einheit entgegenschlugen, als sie durch die Tore des unweit von München gelegenen Konzentrationslagers Dachau marschierten. Nichts hatte sie darauf vorbereitet und nichts hätte sie darauf vorbereiten können, was sie dort erwartete.

„Ein Kamerad und ich wurden einem Güterwagen zugeteilt“, erzählte er. „Drinnen lagen menschliche Körper, säuberlich gestapelt, genau wie Feuerholz. Die meisten waren schon tot, aber bei einigen schlug noch ein schwacher Puls. Die Deutschen hatten, ordentlich wie man ihnen nachsagt, die Reihen genau durchgeplant. Köpfe und Füße wechselten einander ab, die Körper in unterschiedlichen Formen und Größen schmiegten sich aneinander. Unsere Aufgabe glich der eines Möbelpackers. Jeden Körper hoben wir hoch – so leicht waren sie! – und trugen ihn zu einem bestimmten Platz. Zwei Stunden verbrachte ich in dem Güterwagen, zwei Stunden, in denen jedes erdenkliche Gefühl in mir hochkam: Wut, Mitleid, Scham, Ekel – jedes negative Gefühl, sollte ich sagen. Die Gefühle kamen in Wellen hoch, abgesehen von der Wut. Die war immer gegenwärtig und beflügelte uns während der Arbeit.“65

Dann erzählte er mir von Chuck, einem seiner Kameraden, der sich bereit erklärt hatte, zwölf SS-Offiziere, die in Dachau stationiert gewesen waren, zum Verhör in der Nähe zu eskortieren. Chuck stammte aus Cicero, einem rauen Viertel in Chicago, und behauptete, vor dem Krieg für Al Capone gearbeitet zu haben. Ein paar Augenblicke später hörten die Soldaten, die im Güterwagen arbeiteten, drei Maschinengewehrsalven. Kurz darauf kam Chuck, aus der Mündung seiner Waffe kräuselte noch der Rauch. „Sie haben alle versucht zu fliehen“, sagte er mit einem Grinsen.

Ich unterbrach den Pastor und fragte, ob jemand Chucks Tat gemeldet hatte oder es zu disziplinarischen Maßnahmen gekommen war. Er lachte nur. So ist der Krieg eben.

„Und das war für mich der entscheidende Auslöser. An diesem Tag spürte ich, dass Gott mich zum Pastor berufen hatte. Erst der schreckliche Anblick der Leichen im Güterwagen. Diese Szene habe ich nicht verkraftet. Ich hatte nicht einmal geahnt, dass dieses absolut Böse so existiert. Aber als ich es sah, wusste ich ohne jeden Zweifel, dass ich dem dienen musste, der diesem Bösen gegenübertritt – also Gott.

Und dann passierte das mit Chuck. Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass unser Kommandant mir befehlen würde, die nächste Gruppe von SS-Wachen zu eskortieren. Noch mehr fürchtete ich mich davor, dass ich in dem Fall genau wie Chuck handeln würde. Das Tier, das in diesen Wachen steckte, steckte auch in mir.“

Die Realität des Bösen, das Menschen tun, verstört den säkularen Verstand immer wieder. Wie konnte eine Kulturnation in Europa so tief herabsinken und den Holocaust begehen? Wie konnten ausgebildete Ärzte in Nazideutschland groteske Menschenversuche an KZ-Häftlingen durchführen? In den letzten Jahren habe ich Orte besucht, an denen schreckliche Verbrechen stattgefunden hatten: im ehemaligen Jugoslawien, wo über 100 000 Menschen ums Leben kamen, viele von ihnen auf eine Art und Weise abgeschlachtet, die der in Deutschland nicht unähnlich war; an der Virginia Tech und in Newtown, Connecticut, wo junge Männer bei einem Amoklauf Schüler und Studenten umbrachten. Ich hörte verzweifelten Familien zu, deren Leben sich durch sinnlose Gewalt für immer verändert hatte, und die Erklärungen, die die Medien anboten – aufgestaute Wut, psychische Krankheit – scheinen als Erklärung nicht angemessen zu sein. Wie der Pastor in Chicago sah ich dem Bösen ins Gesicht.

Einen großen Teil meines Schriftstellerdaseins habe ich damit zugebracht, der Frage nach dem Leid und dem Bösen nachzugehen. Warum handelt Gott nicht so, wie wir es uns von ihm wünschen, warum greift er nicht öfter ein und gebietet solchen furchtbaren Verbrechen Einhalt? Und warum handeln wir nicht so, wie Gott es sich von uns wünscht? Der Bibel nach zu urteilen hängen diese beiden Dinge zusammen. Wir leben auf einem Planeten, der von bösen Mächten heimgesucht wird, und Gottes Nachfolger sind berufen, zur Lösung beizutragen.

Der Pastor in Chicago meinte: „Ich will nicht melodramatisch klingen, aber ich frage mich manchmal, was wohl geschehen wäre, wenn ein befähigter und sensibler Mann mit Adolf Hitler Freundschaft geschlossen hätte, als er innerlich orientierungslos durch die Straßen von Wien streifte. Vielleicht wäre der Welt, wäre Dachau dieses Blutvergießen erspart geblieben. Ich kann niemals wissen, wer mir gerade in dem Sessel gegenübersitzt, auf dem Sie gerade Platz genommen haben.

Und selbst wenn ich schließlich mein Leben mit einer Reihe von ‚Niemanden‘ verbringen sollte … in dem Güterwagen habe ich gelernt, dass es so etwas überhaupt nicht gibt. Diejenigen, die mit kaum fühlbarem Puls überlebt haben, waren fast ein Niemand: bloße Skelette mit papierner Haut überzogen. Aber ich hätte alles getan, um diese armen Menschen am Leben zu erhalten. Unsere Sanitäter blieben die ganze Nacht auf, um ihr Leben zu retten; einige in unserer Einheit hatten ihr Leben geopfert, um sie zu befreien. Es gibt keine ‚Niemande‘. An diesem Tag in Dachau habe ich gelernt, was es bedeutet, dass der Mensch ‚nach dem Bild Gottes‘ geschaffen ist.“

Dass es das Böse gibt, beweist uns, dass die menschliche Rasse „verloren“ ist. Es kann jedoch auch eine Sehnsucht wecken, die zum Glauben führt, zu einem Durst nach einer besseren Welt als unserer. Und das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, spitzt sich zu, wenn wir mit dem Tod konfrontiert werden.

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