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Der Fremde
ОглавлениеWir haben die ganz natürliche Neigung, uns in eine Enklave zurückzuziehen und uns mit Menschen zu umgeben, die uns ähnlich sind. So vermeiden wir es, uns mit denen auseinandersetzen zu müssen, die die Welt anders sehen als wir.
Ich gebe zu, dass ich auch lieber mit Freunden zusammensitze, die so ähnlich denken wie ich, statt mich einer unbehaglichen Situation auszusetzen. „Ach, Sie sind Schriftsteller … was schreiben Sie denn so?“ Die korrekte Antwort klingt in etwa so: „Ich verfasse populärtheologische Bücher, in denen ich Fragen nachgehe, die alle Menschen bewegen.“ In vielen Situationen starren mich die Menschen mit großen Augen etwas beunruhigt an, und der Fragesteller macht sich dann meistens ganz schnell aus dem Staub. Und doch brauche ich diese Unterhaltungen: Erstens, damit ich schärfer sehe, was meinen eigenen Glauben betrifft, und zweitens, damit ich meinen Glauben auslebe. Um jemandem, der aussieht, denkt und handelt wie ich, von meinem Glauben zu erzählen, brauche ich keine Gnade.
Jonathan Sacks, der ehemalige Oberrabbiner von Großbritannien, sagte einmal: „Die Hebräische Bibel [das Alte Testament] befiehlt uns in einem Vers: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Doch in 36 Versen heißt es: ‚Du sollst den Fremdling lieben.‘ “ Dann fügte er noch hinzu: „Die größte religiöse Herausforderung besteht darin, das Bild Gottes in einem Menschen zu erkennen, der nicht nach unserem Bild geschaffen ist.“28
Nur allzu oft verfolgen Christen den entgegengesetzten Ansatz. Manche dämonisieren ihre Gegner, brandmarken sie als „säkulare Humanisten“, „Häretiker“ oder „Perverse“ und verschanzen sich hinter ihren eigenen Anschauungen. Vor nicht allzu langer Zeit erklärte die Romanschriftstellerin Anne Rice, die immer, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, über ihre Bekehrung einige Jahre zuvor gesprochen hatte: „Ich habe aufgehört, Christ zu sein … Ich bleibe Christus treu … aber ich betrachte mich nicht mehr als Christ oder dem Christentum zugehörig. Es ist mir einfach unmöglich, zu dieser streitsüchtigen, feindseligen, zänkischen und zu Recht berüchtigten Gruppe zu gehören.“29 Eine wesentliche Rolle für ihre Entscheidung, so gab sie an, habe die Feindschaft vieler Christen gegen Homosexuelle gespielt.
Gerade in der Politik geht man gern in die Opposition – das Gegenteil von Liebe –, und Christen, die sich in den Kampf der Kulturen stürzen, neigen dazu, Menschen, mit denen sie nicht einer Meinung sind, als links oder sogar unmoralisch zu bezeichnen und ihnen aus dem Weg zu gehen. Will Campbell, ein radikaler Südstaatenprediger, erfuhr einmal, dass eine Gemeinde in seinem Viertel eine Oben-Ohne-Bar verklagt hatte. „Man stelle sich vor, die verklagen sie!“, meinte er. „Sollten wir den Sündern nicht nahe sein, Freundschaft mit ihnen schließen, sie bekehren?“30
Liebe hat die Macht, den Fremden zu gewinnen. 1995 ging eine Nachricht durch die USA, die beide Seiten in diesem Kampf der Kulturen aufrüttelte. Norma Leah McCorvey, die „Jane Roe“ im Prozess Roe vs. Wade, der 1973 vor dem Obersten Gerichtshof der USA geführt wurde und in dem es um das Recht auf Abtreibung ging, bekehrte sich, ließ sich taufen und wechselte zur Seite der Lebensrechtler über. Erstaunlicherweise war es der Direktor der Anti-Abtreibungsorganisation Operation Rescue, der ihr den entscheidenden Anstoß gab. Sie änderte ihre Meinung, als dieser Direktor aufhörte, sie wie eine Gegnerin zu behandeln. Wie sie erzählt, entschuldigte er sich öffentlich dafür, sie als „Babymörderin“ bezeichnet zu haben, und hin und wieder leistete er ihr bei ihren Rauchpausen auf dem Parkplatz Gesellschaft – denn der gehörte, wie es der Zufall so will, zu beiden Büroblocks. Irgendwann nahm McCorvey die Einladung eines siebenjährigen Mädchens zum Essen an, dessen Mutter ebenfalls für Operation Rescue arbeitete. Die Abtreibungsbefürworter hatten McCorvey fallen gelassen. Ihre zweifelhafte Vergangenheit – Drogendealen, Alkohol und häufig wechselnde Sexualpartner – sorgten für schlechte Schlagzeilen, doch christliche Leiter nahmen sich die Zeit, mit ihr über den Glauben zu reden, während sie sie gleichzeitig eine Zeit lang aus dem Scheinwerferlicht heraushielten.31
Jesus befiehlt uns, nicht nur Fremde und Sünder zu lieben, sondern sogar unsere Feinde – dieses Gebot gibt es in keiner anderen Religion. „Liebt eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen!“, sagt Jesus in der Bergpredigt (Matthäus 5,44). Als ich einmal einen Vortrag in meiner eigenen Gemeinde hielt, zitierte ich dieses Jesuswort und zeigte dazu ein Foto von einem Dutzend Al-Kaida-Terroristen. Dann stellte ich die Frage: „Was würde geschehen, wenn jede Gemeinde in den Vereinigten Staaten Pate eines Al-Kaida-Mitglieds würde, lernen würde, wie man seinen Namen ausspricht, und für ihn betet?“
Bald darauf hörte ich, dass Thomas Bruce, Armeekaplan der Reserve, diese Herausforderung angenommen hatte. Kurz vor seiner Abreise in den Irak, wo er einen einjährigen Dienst ableisten sollte, rief er die internetbasierte Gebetsbewegung Adopt a Terrorist for Prayer ins Leben. Die Website ließ er auf die Adresse ATFP.org registrieren, ein ironischer Anklang an die „Anti-Terrorism Force Protection“ des US-Verteidigungsministeriums. Hier postet er Fotos von gefährlichen Terroristen, die auf der Liste der meistgesuchten Kriminellen von FBI und Außenministerium stehen, und lädt die Besucher ein, einen von ihnen zu „adoptieren“ und für ihn zu beten. Bisher haben das eintausend Menschen getan.32
Nicht jeder weiß Bruces Bemühungen zu schätzen. Einer machte sich über ihn lustig: „Christen lassen sich manchmal völlig bescheuerte Dinge einfallen. Das hier gehört dazu. Liebe deine Feinde, und deine Feinde werden dich UMBRINGEN.“ Manche waren mit dem gesamten Konzept nicht einverstanden: „Wenn man für diese Terroristen außer Hass noch irgendetwas empfindet, stimmt der moralische Kompass nicht.“
Warum sollte Jesus uns solch ein unerhört schweres Gebot geben? Vielleicht um eventuelle Einwände zu entkräften, gibt er uns die Antwort: „So handelt ihr wie wahre Kinder eures Vaters im Himmel. Denn er lässt die Sonne für Böse und Gute aufgehen und sendet Regen für die Gerechten wie für die Ungerechten“ (Matthäus 5,45). Lukas wird sogar noch deutlicher: „Dann wird euer Lohn im Himmel groß sein und ihr handelt wirklich wie Kinder des Allerhöchsten, denn er erweist auch den Undankbaren und den Bösen Gutes“ (Lukas 6,35). Je mehr wir lieben, und je mehr wir Menschen lieben, bei denen es uns schwerfällt, umso mehr gleichen wir Gott – der immerhin solche störrischen, unangenehmen Menschen wie uns liebt.
Martin Luther King hatte oft Gelegenheit, das Prinzip der Feindesliebe in die Praxis umzusetzen. In einer Predigt, die mit eben diesen Worten überschrieben ist und die im Gefängnis entstand, nachdem man ihn während des Busboykotts von Montgomery verhaftet hatte, erklärt er seine Methode:
Unseren Gegnern sagen wir: „… Tut mit uns, was ihr wollt, wir werden euch trotzdem lieben. Wir können euren ungerechten Gesetzen nicht mit gutem Gewissen gehorchen, denn wir sind nicht nur verpflichtet, zum Guten zu wirken, sondern auch die Zusammenarbeit mit dem Bösen zu verweigern. Werft uns ins Gefängnis, wir werden euch trotzdem lieben. Werft Bomben in unsere Häuser, bedroht unsere Kinder, wir werden euch trotzdem lieben. Schickt eure Mietlinge um Mitternacht in unsere Wohnungen, dass sie uns schlagen und halbtot liegen lassen, wir werden euch trotzdem lieben. Und seid sicher, dass wir euch mit unserer Leidensfähigkeit überwinden werden. Eines Tages werden wir die Freiheit gewinnen. Aber sie wird nicht nur für uns selbst errungen werden. Wir werden so lange an euer Herz und eure Seele appellieren, bis wir auch euch gewonnen haben. Und dann wird unser Sieg ein doppelter sein.33
Thomas Bruce hat im Irak an vorderster Linie gedient und macht sich keine romantischen Illusionen über Terroristen. Auf der anderen Seite unterschätzt er jedoch auch nicht die Macht der Feindesliebe und führt ein Beispiel aus der Apostelgeschichte an. Stephanus war das erste Opfer der Terroristen, die die Nachfolger Jesu bekämpften. Als seine Feinde Steine auf ihn schleuderten, betete er: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an“ (Apostelgeschichte 7,60). Später begegnete Saulus, der bei der Steinigung dabei gewesen war, Jesus in einer Vision und bereute.
„Können wir heute so beten wie Stefanus?“, fragt Bruce. Er schließt noch eine bohrende Frage an: „Wäre Saulus, aus dem der Apostel Paulus wurde, Jesus begegnet, wenn Stephanus nicht für seine Feinde gebetet hätte?“