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Demut
ОглавлениеMartin Marty, lutherischer Theologe an der University of Chicago, berichtete im Magazin The Christian Century, dass ihn Leser gefragt hätten, wann er denn etwas zum Neuen Atheismus sagen wolle, den die Medien als Thema entdeckt hatten. Er stellte eine Liste mit Ratschlägen zusammen, „für mich und alle anderen, die sich dafür interessieren“. Unter anderem findet man dort Folgendes:41
– Cool bleiben. Amerika hat solche Zyklen schon früher erlebt und überlebt.
– Dankeskarten schreiben. Diese Verfasser bringen Unterschiede in einem Zeitalter der Gleichgültigkeit zur Sprache.
– Nicht darüber lustig machen. Viele dieser Autoren machen sich ihrerseits über den Glauben lustig. Ja, und?
– Nicht triumphieren. Manche sagen, dass „wir“ „ihnen“ zahlenmäßig überlegen sind, im Verhältnis 97 zu 3. Wenn das stimmt, ist das für Gläubige natürlich schön, aber was beweist das?
– Sich nicht auf Streitgespräche einlassen. Niemand gewinnt eine Debatte – deren Ausgang ja davon bestimmt wird, dass einer die richtige Antwort kennt – über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes. Jeder aber kann von einem Gespräch profitieren, in dem gute Fragen gestellt werden und in dem man versucht, darauf zu antworten.
– Man sollte von den betreffenden Verfassern die besseren Bücher lesen, aus denen man etwas lernen kann, anstatt die Bücher voller sensationslüsterner Polemiken zu Themen, in denen sie nicht besonders bewandert sind.
– Den betreffenden Autoren beipflichten, dass im Namen der Religion furchtbare Dinge geschehen sind und heute noch geschehen, aber auch darauf hinweisen, dass Religion noch andere Seiten hat. Wer Religion von innen heraus kritisiert, geht den Dingen auf den Grund und fördert Wesentlicheres zutage.
– Wenn Sie selbst gläubig sind, schauen Sie in den Spiegel und fragen sich, ob das, was irgendjemand sagt oder tut, antireligiös eingestellten Menschen einen legitimen Grund an die Hand gibt, die Stimme zu erheben, und einen Markt für solche Bücher schafft.
Der demütige Ton Martys, der zu Amerikas führenden Religionswissenschaftlern zählt, fällt mir angenehm auf.
Fragen Sie einen religionsfernen Menschen, wie er Christen beschreiben würde. Höchstwahrscheinlich hören Sie Antworten wie „selbstzufrieden“, „exklusiv“ und „selbstgerecht“. Christen können hochnäsig und verurteilend wirken und als Menschen gelten, die den Glauben anderer Leute abtun, während sie ihren eigenen eifrig verteidigen. Wenn ich merke, dass ich selbst zu solch einer Haltung neige, versuche ich mich daran zu erinnern, wie ich mich fühle, wenn jemand mir nachweisen will, dass ich in irgendeiner Frage falsch liege – und das liefert mir einen deutlichen Hinweis darauf, wie sich andere fühlen müssen, wenn ich es bei der Darstellung meines eigenen Glaubens an Fingerspitzengefühl vermissen lasse. Ich jedenfalls bin noch nie einem Menschen begegnet, der zum Glauben fand, weil man ihn kritisiert hatte.
Als ich meinen Abschluss an einem christlichen College gemacht hatte, wusste ich alles: wer die „echten“ Christen waren und wer das nur vorgab, welche Theologen rechtgläubig waren und welche Ketzer, wer sich geistlich verhielt und wer nicht. Seit meinem Abschluss verstehe ich mit jedem Jahr besser, wie wenig ich eigentlich weiß. Ich musste meinen falschen Stolz in den Griff bekommen und Demut lernen – denn das ist eine Voraussetzung für Gnade. Gleichzeitig habe ich gelernt, mit Geheimnissen zu leben, so wie ich es in den biblischen Büchern Hiob, Prediger und den Psalmen finde. Und ich versuche zumindest in Gedanken die Worte hinzuzufügen: „Natürlich könnte ich auch falsch liegen.“
Wir Christen haben nicht alle Antworten. Wir stolpern vorwärts, glauben an die Existenz eines unsichtbaren Gottes, glauben, dass am Leben mehr dran ist als Schall und Wahn, dass das Universum, auch wenn es nicht den Anschein hat, die Schöpfung eines Gottes ist, der uns persönlich liebt. Auf dem Weg verlieren wir uns in ethischen Fragen und vergessen, was in Gottes Reich eigentlich wichtig ist. Wir haben kaum Grund, stolz zu sein.
Der Priester Henri Nouwen lernte Demut auf einer Missionsreise nach Südamerika. Er fuhr in der Erwartung los, den Armen und Unerleuchteten seine Weisheit weiterzugeben. Während seines sechsmonatigen Aufenthalts kam Nouwen zu dem Schluss, dass der Wunsch, Menschen zu retten – sei es aus ihren Sünden, aus der Armut oder aus der Ausbeutung –, das Motiv ist, das im geistlichen Dienst am meisten zerstören kann. „Demut ist die wahre christliche Tugend“, sagt Nouwen. „Wenn wir begreifen, dass … Gott allein rettet, haben wir die Freiheit zu dienen und können ein wahrhaft demütiges Leben führen.“42 Nouwen änderte sein Vorgehen: Nun „verkaufte“ er nicht mehr „wertvolle Perlen“, ging also nicht mehr mit der guten Nachricht hausieren, sondern suchte die „Schätze“, die in den Menschen, die zu lieben er berufen war, schon verborgen waren. Nun teilte er Gnade aus statt Religion.
Es ist ein entscheidender Unterschied, ob ich meinen Nächsten als potentiellen Bekehrten sehe oder als Menschen, den Gott schon lange liebt.