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Gemeinsamkeiten

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Dag Hammarskjöld, Generalsekretär der Vereinten Nationen in der Zeit, als die Welt am schlimmsten unter den Spannungen des kalten Krieges litt, erklärte einmal, dass er im Umgang mit Gegnern zunächst nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner suchte. Wenn er entdeckte, dass zwei gegnerische Parteien auch nur einen Punkt gemeinsam hatten, arbeitete er daran, Vertrauen und eine Beziehung aufzubauen, die möglicherweise zu einem ehrlichen Dialog auch in den schwierigen Fragen führen könnte. Auf Jesus blickte er als sein Vorbild, denn das war Gottes Art, gemeinsamen Grund mit der Menschheit zu finden: „Er saß mit Zöllnern und Sündern zu Tisch und ging mit Huren um.“51

Wenn wir Skeptikern unseren Glauben vermitteln wollen, geht das im Allgemeinen am besten, wenn wir die Gemeinsamkeiten herausstreichen, nicht die Unterschiede. Ich lerne jetzt, der Versuchung zu widerstehen, andere als Gegner oder Missionsobjekte zu sehen. Stattdessen suche ich nach gemeinsamem Grund, nach einem Boden, auf dem wir zusammen stehen können. Viele Menschen in ihrer postchristlichen Phase richten ihr Leben nach dem aus, was ich „Gewohnheiten der Seele“ nenne. Sie leben nach den christlichen Grundsätzen der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, die auch in einer Gesellschaft bestehen bleiben, die sich immer weiter vom Glauben entfernt. „Aber da gehen wie durch dunkle Gassen von Gott Gerüchte durch dein dunkles Blut“, schreibt Rilke.52

Christliche Apologetik beschäftigt sich mit Argumenten für den Glauben. Das ist wichtig, wird aber vielleicht überschätzt, weil die meisten Menschen nicht allzu viel Zeit darauf verwenden, die Wahrheit zu suchen. Vielmehr handeln sie aus ihrem Instinkt heraus. Manche dieser Instinkte sind sehr gut, und viele davon sind noch ein Vermächtnis der christlichen Vergangenheit. Zum Beispiel tritt jeder Mensch aus meinem Bekanntenkreis, der im medizinischen Bereich arbeitet, dafür ein, dass auch Leute behandelt werden müssen, die es nicht „verdienen“, wie zum Beispiel Leute, die einen verantwortungslosen Lebensstil pflegen und ihre Krankheiten selbst verschuldet haben, und das, obwohl eine Behandlung pragmatisch gesehen kaum Sinn ergibt. (In Indien bin ich Brahmanen begegnete, die niemals daran denken würden, Armen oder Kranken etwas zu geben. Sie glauben, dass diese Art der Nächstenliebe bedeute, Menschen zu belohnen, deren Los die Strafe für ihre Taten in einem früheren Leben ist.)

Oder ich denke daran, was ich mit meinen Freunden aus dem Lesekreis alles gemeinsam habe. Wir teilen manche Interessen und machen uns die gleichen Sorgen, was unsere Gesellschaft betrifft. Sie alle wollen nicht, dass ihre Kinder Crystal Meth konsumieren, als Jugendliche schwanger werden oder Gewaltverbrechen begehen. Sie sind verantwortungsvolle Bürger und tragen mit ihrem Beruf und ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten zum Wohl der Gesellschaft bei. Hauptsächlich durch ihr politisches Wirken setzen sie sich für benachteiligte Kinder, Gesundheitspflege und Umwelt ein. Ich kann Brücken bauen, indem ich solche Instinkte gutheiße, auch wenn ihre Quelle nicht mit Sicherheit auszumachen ist.

Dabei fordern mich Menschen heraus, die religiös nicht festgelegt sind, zu untersuchen, warum ich für diese Werte einstehe. Ich habe mich den Umweltorganisationen Audubon Society und Friends of the Earth angeschlossen, weil ich die Schöpfung als ein Kunstwerk Gottes begreife, und ich möchte diesen wunderbaren Planeten bewahren, auf den Gott uns gestellt hat. Ich unterstütze Amnesty International und die International Justice Mission, die für politische Gefangene und Unterdrückte eintreten, weil ich glaube, dass jeder Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen und darum wertvoll ist. Es ist die reine Selbstsucht, wenn ich in der Versuchung stehe, mich nicht um die Schwachen zu kümmern, wenn mein Glaube mir das Gegenteil gebietet.

Zu meiner Überraschung können mir viele Menschen, die einmal Christen waren, es aber nicht mehr sind, nicht erklären, woher diese Instinkte stammen. Sigmund Freud zeigte sich davon verwirrt. Er räumte ein, dass ihn etwas in seinem Innern dazu bewegte, moralisch zu handeln, ja sich sogar nach traditionellen sexualethischen Vorstellungen zu richten, an die er nicht glaubte, obwohl er sich dieses Verhalten nicht erklären konnte. Ihm war es ein Rätsel, warum er und auch seine sechs erwachsenen Kinder durch und durch anständige Menschen waren.53 Wie Freud handeln viele Menschen der Moderne aus Gewohnheiten der Seele heraus, die sie von einer von Christen geprägten Kultur übernommen haben.

Die meisten Menschen nehmen an, dass das Leben irgendeinen Sinn hat, auch wenn bekannte Wissenschaftler und Philosophen das Gegenteil behaupten. Albert Camus schrieb einen Roman, Der Fremde, in dem er einen Mann namens Meursalt beschrieb, der seinen Glauben auslebt, das Leben habe weder ein Ziel noch einen endgültigen Sinn. „Liebst du mich?“, fragt seine Freundin, und er antwortet, dass das wohl nicht der Fall sei und er auch keinen Sinn in dieser Frage sehe.54 „Willst du mich heiraten?“, drängt sie ihn. Er hat keine Meinung zu dieser Frage, es ist ihm egal. Auch der Tod seiner Mutter bewegt ihn nicht, am nächsten Tag geht er schwimmen und schaut sich im Kino eine Komödie an. Schließlich bringt Meursault einen Menschen ohne ersichtlichen Grund um. Wieder zeigt er dabei keine Gefühle. Er wird zum Tod verurteilt, das Urteil nimmt er ohne jede Gefühlsregung auf. Für ihn spielt es keine Rolle, ob er irgendetwas tut oder das genaue Gegenteil. Camus sagt, dass es in Wirklichkeit nur ein ernsthaftes philosophisches Problem gebe, und das sei der Selbstmord.55 Sein verstörender Roman spielt diese Philosophie bis zum Letzten durch.

Doch wer lebt wirklich so? Instinktiv leben wir nicht so, dass uns alles egal ist. Wir beurteilen Dinge: Einige sind für uns schöner als andere. Wir beurteilen Menschen: Manche leben tugendhafter als andere. Wir beurteilen Taten: Manche haben mehr Sinn als andere. Wir verlieben uns, wir kümmern uns um hilflose Babys, wir trauern, wenn ein Verwandter stirbt – alles zeugt davon, dass wir so leben, als hätte das Leben einen Sinn, als seien Liebe, Schönheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Moral nicht nur willkürliche Konzepte, sondern irgendwie real.

Wir treffen Entscheidungen, als ob sie eine Rolle spielten – vielen modernen Denkern zum Trotz, die das Gegenteil behaupten. Dieser Instinkt ist seinem Wesen nach theologisch. „Entweder ist das Leben heilig und hat einen Sinn, oder das Leben hat keine verdammte Bedeutung überhaupt“, sagt der Schriftsteller Frederick Buechner.56

In ganz wesentlichen Fragen haben Christen und Nichtgläubige eine Menge gemeinsam. Wie Paulus bei seiner Rede auf dem Areopag können wir die guten Instinkte, die in der uns umgebenden Kultur noch vorhanden sind, bekräftigen, während wir leise darauf hinweisen, aus welcher Quelle sie stammen.

Im Februar 2013 veröffentlichte Christianity Today das Zeugnis von Rosaria Champagne Butterfield, die sich als ehemalige „linksorientierte lesbische Professorin“ beschrieb, die Christen verachtete.57 „Ich hatte die Studenten satt, die offenbar der Meinung waren, ‚Jesus zu kennen‘ bedeute, nur wenig von allem anderen zu kennen. Insbesondere Christen waren keine guten Leser. Immer nutzten sie die Gelegenheit, in einem Gespräch einen Bibelvers zu zitieren, und zwar wie ein Satzzeichen: um die Diskussion zu beenden, statt sie zu vertiefen. Dumm. Sinnlos. Bedrohlich. Das dachte ich damals von den Christen und ihrem Gott Jesus, der auf Gemälden immer so harmlos wirkte wie die Reklamefiguren für ein Haarshampoo.“

Als Professorin für Englisch und Feminismusstudien trat Butterfield für Ethik, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ein. Bei Freud, Hegel, Marx und Darwin suchte sie Orientierung, nicht aber bei Jesus, hauptsächlich wegen seiner „kriegerischen Anhänger“. Als sie die religiöse Rechte und „ihre Hasspolitik gegen Lesben wie mich“ unter die Lupe nahm, zwang sie sich, die Bibel zu lesen, den Quelltext, der ihrer Meinung nach so viele Menschen auf Abwege geführt hatte. In der Lokalzeitung veröffentlichte sie einen Artikel über die Promise Keepers. Die Leserbriefe sortierte sie in zwei Pappkartons ein, einen für Pro, einen für Contra.

Ein Brief aber sperrte sich gegen diese Katalogisierung. Ein presbyterianischer Pastor aus Syracuse, New York, ermutigte sie auf freundliche Art, ihre Nachforschungen noch weiter zu treiben. Wie war sie zu ihren Schlussfolgerungen gelangt? Auf welcher Grundlage traf sie ihre moralischen Entscheidungen? Zunächst warf sie den Brief weg, fischte ihn dann jedoch wieder aus dem Papierkorb heraus und sah ihn sich genau an. Schließlich nahm sie die Einladung des Pastors zum Essen an. Im Lauf der nächsten beiden Jahre freundete sie sich mit Ken und seiner Frau Floy an. „Sie betraten meine Welt“, erinnert sie sich. „Sie lernten meine Freunde kennen. Wir liehen uns gegenseitig Bücher. Offen sprachen wir über Politik und Sexualität. Sie taten nicht so, als ob bei solchen Gesprächen Dreck an ihnen haften geblieben wäre. Sie behandelten mich nicht so, als ob sie mich gleich verändern wollten.“

In der Zwischenzeit las Butterfield immer weiter in der Bibel, viele Male, in vielen Übersetzungen. Schließlich besuchte sie auch die Gottesdienste in der Gemeinde dieses Pastors. Mit ihrem Männerhaarschnitt hatte sie das Gefühl, sie würde allen auffallen. „Dann, an einem ganz gewöhnlichen Tag, kam ich zu Jesus, mit offenen Händen und nackt. In diesem Krieg der Weltanschauungen war Ken da. Floy war da. Die Gemeinde, die schon jahrelang für mich gebetet hatte, war da. Jesus triumphierte. Und ich war innerlich zerbrochen. Meiner Bekehrung ging ein völliger Zusammenbruch voraus. Ich wollte nicht alles verlieren, was ich geliebt hatte. Doch Gottes Stimme sang ein fröhliches Liebeslied auf dem Trümmerhaufen meines Lebens.“

Rosaria Butterfield, heute selbst Frau eines Pastors, tritt immer noch für Moral, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ein. Sie kam zum Glauben, weil sie nach einer Grundlage für ihre Werte suchte, und sie fühlte sich von zwei Christen angezogen, die sie still und sanft auf diese Grundlage hinwiesen.

Religionsferne Menschen teilen viele unserer wichtigsten Werte, doch wenn wir selbst diese Werte nicht ausleben, werden wir in ihnen nicht den Durst wecken, nach der eigentlichen Quelle zu suchen. Christen können nichts Besseres tun, als nach dem Vorbild Jesu zu leben, der sich nicht auf Techniken und Argumente spezialisierte, sondern auf den Geist Gottes und darauf, Vorbild zu sein. Er nahm Skeptiker ernst, hörte ihnen zu und gab direkte und doch barmherzige Antworten. Im Markusevangelium, Kapitel 10,21, finden wir ein vielsagendes Detail in der Szene, in der ein reicher Mann, der sich vielleicht bekehren könnte, die Botschaft Jesu ablehnt und weggeht: „Da sah Jesus den Mann voller Liebe an.“

Ich komme noch einmal auf das Gespräch zwischen Jesus und der Samaritanerin zurück, die Trost in einer anderen Religion gefunden hatte. Was wäre passiert, wenn Jesus sich auf ein Streitgespräch mit ihr eingelassen und darüber diskutiert hätte, wo man Gott anbeten darf? Stattdessen macht er ihr ihren Durst bewusst, den sie schon immer in sich trug, mit ihrer belasteten Biografie und fünf gescheiterten Ehen. „Wenn die Menschen dieses Wasser getrunken haben, werden sie schon nach kurzer Zeit wieder durstig“, sagt er und meint damit das Brunnenwasser, das sie für ihn schöpft. „Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird niemals mehr Durst haben. Das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm zu einer nie versiegenden Quelle, die unaufhörlich bis ins ewige Leben fließt“ (Johannes 4,13f).

In dieser kurzen Unterhaltung zeigt uns Jesus, wie wir eine pluralistische Kultur erreichen können. Wir dürfen keinesfalls die Entscheidungen, die andere Menschen getroffen haben, geringschätzen, denn damit würden wir keine Liebe zeigen. Stattdessen sollten wir auf ihren Durst eingehen.

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