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Verloren und gefunden

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Thomas Merton schrieb in sein Tagebuch: „Geistliche Dürre ist die intensivste Sehnsuchtserfahrung, die wir machen können.“46 Ich schaue in mich hinein, sehe meinen geistlichen Durst und denke auch an Menschen, die ich kenne. Wie sehen die Symptome aus? Eine rastlose Jagd nach Zerstreuung, Angst vor dem Tod, vor Langeweile, vor Abhängigkeit – all das kann auf eine Sehnsucht hinweisen, die im Grunde eine geistliche Suche ist, die Schreie und das Geflüster eines Menschen, der sich verirrt hat.

Wie anders begegne ich Menschen, wenn ich sie nicht als böse oder nicht errettet betrachte, sondern als verloren. Für manche beschwört das Erinnerungen an Evangelisten herauf, die gegen „die Verlorenen“ wettern. Ich meine es in einem anderen Sinn, bei dem Mitgefühl mitschwingt. Beim Wandern in Colorado passiert es mir hin und wieder, dass ich Wegweiser übersehe und vom Weg abkomme. Verwirrt starre ich auf meine Karte und den Kompass und versuche, nicht in Panik zu verfallen. Schon habe ich kostbare Zeit und Kraft verschwendet. Ich weiß, wie gefährlich es ist, die Nacht unvorbereitet im Gebirge zu verbringen. Endlich sehe ich einen anderen Wanderer und rufe ihm etwas zu. Als wir aufeinander treffen, nimmt er meine Karte zur Hand und zeigt mir, wo ich bin und in welche Richtung ich gehen muss. Die Angst weicht, als ich begreife, dass ich nicht mehr verloren bin. Ich kenne den Weg nach Hause.

Andererseits habe ich auf meinen Abwegen im Gebirge auch Aussichten genossen und Dinge entdeckt, die nur wenige Wanderer zu Gesicht bekommen. Wenn ich weiß, dass ich in Sicherheit bin, kann ich auf die Stunden, in denen ich umherirrte, als ein Abenteuer zurückblicken, und zwar ein Abenteuer, aus dem ich etwas lernen kann. Die Stunden, in denen ich mich am meisten fürchtete, wenn ich zum Beispiel auf einem Felsen herumkletterte und es keinen Weg mehr nach unten gab, ergeben heute die besten Geschichten, die ich mit anderen Wanderern austausche.

Barbara Brown Taylor erinnert sich an ihre eigenen Wanderungen: „Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich in meinem Leben einen Irrweg eingeschlagen habe. Ich nahm mir vor zu heiraten, und die Ehe endete mit einer Scheidung. Ich nahm mir vor, gesund zu bleiben, und wurde krank. Ich nahm mir vor, in Neuengland zu leben, und landete in Georgia. Als ich dreißig war, nahm ich mir vor, Pastorin zu werden, und plante den Rest meines Lebens in einer Gemeinde zu verbringen, die mich haben wollte, und mich dort um die Menschen zu kümmern. Fast dreißig Jahre später unterrichte ich in einer Schule.“47 Sie schließt mit den Worten:

Keiner dieser Abwege hat mir zunächst gefallen, aber ich würde nichts davon eintauschen. Während ich verloren umherirrte, habe ich Dinge gefunden, die ich nie entdeckt hätte, wenn ich auf dem Weg geblieben wäre. Ich habe Lebenswege beschritten, die niemand, der bei vollem Verstand ist, bewusst gewählt hätte. Und die versteckten Schätze, die ich auf dem Weg gefunden habe, wiegen den geplanten Profit, den ich niemals eingefahren habe, mehr als auf. Aus diesen und anderen Gründen habe ich mich entschlossen, nicht mehr gegen die Möglichkeit anzukämpfen, dass ich mich verirren und verloren gehen könnte, sondern es als geistliche Übung zu begrüßen. Die Bibel hilft mir sehr dabei, denn sie erinnert mich daran, dass Gott in den Menschen, die sich wirklich verirrt haben und verloren sind, am meisten und am besten wirkt.

Mein Leben lang lese ich schon die Bibel und habe immer nach einem Oberthema Ausschau gehalten, einer Zusammenfassung, die uns sagt, worum sich dieses lange Buch eigentlich dreht. Mir ist Folgendes in den Sinn gekommen: „Gott holt seine Familie wieder zu sich.“ Vom ersten bis zum letzten Buch erzählt die Bibel von Kindern, die auf Abwege geraten sind, und von Gott, der Unsägliches auf sich nimmt, um sie wieder nach Hause zu bringen. Dieses biblische Drama schließt mit einem gigantischen Familientreffen in der Offenbarung.

Viele Geschichten, die Jesus erzählte, handeln vom Verlorensein. Am bewegendsten wird das vielleicht im Gleichnis vom Verlorenen Sohn deutlich. Die Geschichten Jesu zu diesem Thema – eine verlorene Münze, ein verlorenes Schaf und ein verlorener Sohn – machen zwei Punkte deutlich. Zunächst einmal sind die Verlorenen wichtig. Es ist jede Anstrengung wert, sie wiederzufinden, selbst wenn das bedeutet, die zurückgebliebenen neunundneunzig Schafe allein zu lassen. Zweitens: Wenn man etwas Verlorenes wiederfindet, muss das gefeiert werden. „Wir mussten diesen Freudentag feiern, denn dein Bruder war tot und ist ins Leben zurückgekehrt! Er war verloren, aber jetzt ist er wiedergefunden!“, ruft der Vater von Freude überwältigt aus und verteidigt sich vor seinem älteren Sohn dafür, dass er seinen Bruder mit offenen Armen willkommen heißt (Lukas 15,32).

Die Pharisäer fühlten sich von solchen Geschichten bedroht, denn sie gingen den Verlorenen aus dem Weg und pflegten lieber Gemeinschaft mit anderen Pharisäern. Man achtete sie, weil sie sich an vertraute Regeln hielten. Und ich fühle mich von solchen Geschichten ebenfalls bedroht, weil ich die Bequemlichkeit der vorhersagbaren Religion der schwierigen Aufgabe vorziehe, die Verlorenen zu suchen. Insbesondere das Gleichnis vom Verlorenen Sohn bringt meine säuberlich geordneten Schubladen durcheinander, die verantwortungsvolles von verantwortungslosem Handeln trennen, Gehorsam von Rebellion, Moral von Unmoral. So ist Gnade.

Ein Fluss, der vor einem Haus in Colorado vorbeifließt, ist mir zu einem Bild für Gottes unverdiente Gnade geworden. Wie Wasser fließt auch Gnade bergab. Der Fluss entspringt als kleines Rinnsal in einem schmelzenden Schneefeld hoch in den Bergen, nimmt seinen Weg als Bach, fließt durch wunderschöne Bergseen, wird zu einem reißenden Strom und schließlich zu einem großen blauen See. Wenn ich an diesem See vorbeikomme, geht mir manchmal der Choral There’s a Wideness in God’s Mercy („Dt. etwa: „So weit reicht Gottes Gnade“, Anm. d. Übers.) durch den Kopf.

Vom Theologen Jürgen Moltmann habe ich eine neue Sichtweise auf die Verlorenen entdeckt. Im Zweiten Weltkrieg kam er als deutscher Soldat in ein britisches Kriegsgefangenenlager. Schottische Frauen brachten den Gefangenen Selbstgebackenes und eine Bibel. Moltmann rührte diese Geste an und er begann, in der Bibel zu lesen. Nach dem Krieg kehrte er in seine Heimat zurück, wurde Pastor und Professor für Theologie und war damit in die kirchliche Hierarchie eingebunden. Später jedoch begann er ein religiöses System infrage zu stellen, das Bischöfe, Pastoren und Laien hierarchisch ordnet und sie alle gegen die Ungläubigen abgrenzt. Hatte nicht Jesus seine Nachfolger Schwestern und Brüder genannt? Hatte er damit nicht zu verstehen gegeben, dass sie eher eine Familie als ein Unternehmen waren? Herrschte Gott nicht über die ganze Welt, eingeschlossen diejenigen, die nicht zur Herde zählten?

„Kirche ist da, wo Christus ist“, schloss Moltmann.48 Die manifeste Kirche besteht aus denjenigen, die Christus annehmen und dem Evangelium glauben. Doch es gibt auch eine latente Kirche. „Christus ist aber auch da, wo die Armen, Kranken, Hungrigen und Gefangenen sind: ‚Was ihr einem unter diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan‘ “ (Matthäus 25,40). Man kann die Bibel nicht lesen, ohne laut und deutlich die Botschaft zu hören, dass Gott sich um die Heimatlosen, die Benachteiligten, die Unterdrückten, die Demütigen, die Bedürftigen kümmert – mit anderen Worten um die, die um ihre Verlorenheit wissen und sich danach sehnen, dass man sie findet.49

In den Seligpreisungen heißt es, dass die Ruhelosen und Unzufriedenen – die latente Kirche, um mit Moltmann zu sprechen – Gott vielleicht schon ganz nah sind. Denken Sie einmal darüber nach. Die Reichen handeln so, als hätte dieses Leben niemals ein Ende; die Armen dagegen verspüren Hunger nach etwas, das darüber hinausgeht. Wer trauert, spürt, dass diese Welt sich von Gott abgeschnitten hat, und kommt näher zum Vater, der versprochen hat, dass er alles neu machen wird. Friedensstifter und Barmherzige, wie ihre Motive auch aussehen mögen, streben nach Harmonie, danach, dass die Menschheit wieder wie eine Familie zusammenlebt.

Die Armen im Geiste gehören genauso dazu wie die wirtschaftlich Armen. Christian Wiman, der Redakteur des Magazins Poetry, gebraucht genau dasselbe Wort wie Moltmann, um den Anstoß zu beschreiben, der ihn wieder zum Glauben führte. Er schreibt: „Als ich zu dem Glauben, der latent in mir lebte, ein Ja fand – und ich formuliere das ganz bewusst so vorsichtig, denn da war kein Licht, kein Schutz- und kein Racheengel, der mein Leben entzweiriss schien es mir, als hätte ein winziges Saatkorn des Glaubens endlich eine Blüte hervorgebracht oder, genauer gesagt, als wäre ich in der Wüste auf eine seltene Blume gestoßen und hätte gewusst, obwohl ich sie gerade in diesem Augenblick entdeckt hatte, dass sie in mir schon lange, ein Dürrejahr nach dem anderen, geblüht und all die Zeiten des Unglaubens in mir überlebt hatte.“

Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich einen nicht gläubigen Menschen als jemanden behandle, der unrecht hat, oder als jemanden, der auf dem Weg ist, sich jedoch verirrt hat. Ein hilfreiches Vorbild für mich ist die Rede, die Paulus auf dem Areopag in Athen gehalten hat und die man in Apostelgeschichte 17 nachlesen kann. Statt seinen Zuhörern wegen ihres Götzendienstes mit der Hölle zu drohen, lobt Paulus sie zunächst dafür, dass sie geistlich auf der Suche sind und den „unbekannten Gott“ anbeten. Die gesamte Schöpfung und das menschliche Leben ist Gottes Idee, verkündet Paulus den Athenern: „Von Anfang an war es sein Plan, dass die Völker Gott suchen und auf ihn aufmerksam werden sollten und ihn finden würden – denn er ist keinem von uns fern“ (Apostelgeschichte 17,27). Er argumentiert von einer gemeinsamen Grundlage her und zitiert zwei ihrer Schriftsteller, um grundlegende Wahrheiten zu bekräftigen. Demütig und respektvoll tritt er vor seine Zuhörer und spricht zunächst über das Verlorensein und Entfremdung, bevor er dann einen tieferen Zugang zu Gott eröffnet, den man nicht mit goldenen, silbernen oder steinernen Statuen einfangen kann.

Alles hat seine Zeit. Die uns umgebende Kultur zu kritisieren hat seine Zeit, zuzuhören hat seine Zeit, und vielleicht bringen wir dabei einen Menschen dazu, seinen latenten Durst zu erkennen. „Ich machte mich auf die Suche nach dem Geist und fand Alkohol, ich machte mich auf die Suche nach der Seele und kaufte Stil, ich wollte Gott begegnen, doch man hat mir Religion verkauft“, ruft Rockstar Bono manchmal ins Publikum.50 In einem überfüllten Stadion hörte ich ihn einmal Yahwe singen. In diesem Lied bietet er Gott seine Hände dar, zu Fäusten geballt, seinen Mund, „der so schnell zu kritisieren bereit ist“, und schließlich sein Herz: „Take this heart, and make it break“ (Dt. etwa: „Nimm mein Herz und lass es brechen“, Anm. d. Übers.). Gegen Schluss des Konzertes stimmten zwanzigtausend Fans in den Refrain von Leonard Cohens „Hallelujah“ ein.

Als sich Bono entschloss, öffentlich über seinen Glauben zu reden, suchte er sich einen Mitarbeiter aus, den man nicht erwartet hätte, weil er nichts mit dem Glauben anzufangen wusste. In dem Buch, das daraus entstand, fordert der französische Journalist Michka Assays, ein Agnostiker, Bono auf zu erklären, wie er in der säkular geprägten Welt des Rock ’n’ Roll an das Christentum glauben könnte. Bono beantwortet all seine Fragen. Freimütig räumt er ein, dass die Kirche Fehler gemacht habe, sagt jedoch auch, dass Jesus die Antwort auf seine eigene Suche nach Lebenssinn sei und ihm Ziele geschenkt habe, die über Ruhm und Vergnügen hinausgehen.

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