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a) Der Versicherungsfall der Krankheit
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Die Leistungen der Krankenbehandlung (§§ 27–43c SGB V) und die Zahlung von Krankengeld (§§ 44–51 SGB V) sind abhängig vom Eintritt des Versicherungsfalls der Krankheit (siehe §§ 27 Abs. 1 S. 1, 44 Abs. 1 SGB V). Den Versicherungsfall der Krankheit hat das Gesetz nicht bestimmt, Rechtsprechung und Lehre definieren ihn als einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat[54]. Dieser Begriff meint nicht die Krankheit in einem medizinischen, sondern in einem funktional auf die gesetzliche Krankenversicherung bezogenen juristischen Sinn.
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aa) Für die Frage, ob ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand im Sinn dieses klassischen sozialrechtlichen Krankheitsbegriffs vorliegt, orientieren sich Rechtsprechung und Lehre am Leitbild des gesunden Menschen[55]. Der gesunde Mensch ist dabei nicht ein Ideal, sondern gemeint ist das Normalbild des Menschen in seiner ganzen Bandbreite (klein oder groß, mit Adler- oder Stupsnase, mit Glatze oder dichtem Haupthaar, dick oder dünn) und mit den Gegebenheiten der einzelnen Lebensabschnitte. Die Regelwidrigkeit des Körper- oder Geisteszustandes beginnt erst dort, wo dem Einzelnen die Ausübung der üblichen körperlichen oder geistigen Funktionen erschwert ist. So ist zB eine auffällige Kiefer- oder Zahnfehlstellung nur dann regelwidrig, wenn durch sie eine oder mehrere der Körperfunktionen des Kauens, Beißens, Sprechens oder Atmens in nicht unerheblichem Maß beeinträchtigt werden (vgl § 29 Abs. 1 SGB V)[56]. Auf die Ursache der Regelwidrigkeit kommt es nicht an, im Krankenversicherungsrecht gilt das Finalitätsprinzip (Rn 81).
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bb) Das altersbedingte Nachlassen der körperlichen und geistigen Kräfte entspricht ebenso wie die Schwangerschaft dem natürlichen Gang der Dinge, beides ist also nicht regelwidrig und somit nicht Krankheit in dem dargelegten Sinn. Der dargelegte Krankheitsbegriff ist aber nach allgemeiner Auffassung für eine wertende Betrachtung offen, man kann insoweit von einem normativen Krankheitsbegriff sprechen. Bei der Schwangerschaft nimmt man vor diesem Hintergrund Regelwidrigkeit an, wenn typische Beschwerden auftreten, die das Übliche übersteigen. Bei altersbedingtem Nachlassen der körperlichen und geistigen Kräfte (Sehvermögen, Merkfähigkeit, Beweglichkeit) trägt die Rechtsauslegung den Möglichkeiten und Bestrebungen der Medizin Rechnung, die typischen altersbedingten Beeinträchtigungen zu überwinden. Wenn also solche Beeinträchtigungen zB des Sehvermögens (Altersweitsichtigkeit) durch Verordnung von Brillen, altersbedingte Schwerhörigkeit durch Verordnung von Hörgeräten, altersbedingte Hüftgelenksarthrose durch künstliche Hüftgelenke behoben werden können (behandlungsfähig sind), sind diese Beeinträchtigungen Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinn[57]. Auch die Entwicklung der Medizin kann folglich den Maßstab der Normalität verschieben.
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cc) Die Regelwidrigkeit des Körper- oder Geisteszustandes allein genügt nicht, damit Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinn vorliegt. Es muss hinzukommen, dass der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat. Auch darin liegt ein funktionales Element des krankenversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffs: Der Begriff der Krankheit wird im Hinblick auf die Leistungen der Krankenversicherung definiert, er ist aber nicht mit dem medizinischen Krankheitsbegriff identisch. Das ist sinnvoll, denn Leistungen der Krankenversicherung kommen nur für die Behandlung der Krankheit und als Ausgleich für den durch Krankheit eintretenden Einkommensverlust in Betracht.
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(1) Behandlungsbedürftigkeit ist gegeben, wenn durch den regelwidrigen Gesundheitszustand die körperlichen oder psychischen Funktionen so beeinträchtigt sind, dass zu ihrer Wiederherstellung ärztliche Hilfe notwendig ist. Zugleich muss Behandlungsfähigkeit des regelwidrigen Zustandes gegeben sein, wobei den Hintergrund das durch § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V normierte Behandlungsziel bildet, den regelwidrigen Gesundheitszustand zu erkennen, zu heilen, seine Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.[58]
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(2) Arbeitsunfähigkeit ist gegeben, wenn der Versicherte wegen des regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes nicht oder nur unter der Gefahr einer Verschlimmerung seines Zustandes der bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit oder einer sonst vertraglich geschuldeten Tätigkeit nachgehen kann[59]. Welche Konsequenzen es hat, wenn Beschäftigte teilarbeits(un)fähig sind, ist (wie auch im Arbeitsrecht im Hinblick auf die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall) umstritten. BSG und BAG gehen in Einklang mit der hL in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein Arbeitnehmer entweder nur voll arbeitsfähig oder aber arbeitsunfähig ist[60].
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dd) Damit Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn gegeben ist, genügt es, wie dargelegt, dass der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand entweder zur Behandlungsbedürftigkeit oder zur Arbeitsunfähigkeit führt. Für die einzelnen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung kann es dagegen darauf ankommen, ob speziell Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Krankengeld setzt gemäß § 44 Abs. 1 SGB V Arbeitsunfähigkeit voraus. Ärztliche und zahnärztliche Heilbehandlung haben Behandlungsbedürftigkeit (um die Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern) zur Voraussetzung (§§ 28, 27 Abs. 1 SGB V). Unter dem Strich wird der Anspruch auf Krankenbehandlung in seinem Inhalt durch eine Reihe von Rechtsquellen bestimmt[61]: Durch die gesetzlichen Anspruchsgrundlagen (§§ 27–51 SGB V), durch Rechtsverordnungen (§§ 31 Abs. 4, 34 Abs. 4, 35a Abs. 1 S. 7 SGB V), durch Satzungen der Krankenkassen (§§ 37 Abs. 2, 38 Abs. 2 SGB V) und durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (§§ 55 ff, 91 ff SGB V).
One-Page-Fall: LSG Nordrhein-Westfalen, NZS 2019, 870 (Prange).