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f) Ruhen des Anspruchs
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aa) Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht während der Zeit, für die Arbeitslose einen Anspruch auf andere Sozialleistungen (zB Krankengeld, Verletztengeld, Mutterschaftsgeld, bestimmte Renten) haben (§ 156 SGB III). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht ferner während der Zeit, für die Arbeitslose Arbeitsentgelt erhalten oder zu beanspruchen haben (§ 157 Abs. 1 SGB III) oder soweit sie wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Urlaubsabgeltung erhalten oder zu beanspruchen haben (§ 157 Abs. 2 SGB III). Soweit allerdings diese Leistungen tatsächlich nicht gezahlt werden, wird das Arbeitslosengeld auch für diese Zeit geleistet (§ 157 Abs. 3 SGB III, sog. Gleichwohlgewährung).
In Fall 12 stand A auch für die Zeit nach dem 15. Januar 2020 ein Anspruch auf Lohnzahlung gegen U zu. Der Lohn wurde ihm aber nicht gezahlt, deshalb bleibt die Festsetzung des (gleichwohl) gewährten Arbeitslosengeldes rechtmäßig.
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Da das Arbeitsentgelt und die Urlaubsabgeltung gemäß § 157 Abs. 3 S. 1 SGB III Arbeitsentgelt im Sinn von § 115 SGB X sind, kommt es in Bezug auf die entsprechenden Ansprüche des Arbeitslosen zu einem Forderungsübergang auf die Bundesagentur für Arbeit. Wenn der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt oder die Urlaubsabgeltung trotz des Rechtsübergangs mit befreiender Wirkung an den Arbeitslosen oder einen Dritten gezahlt hat, muss der Bezieher des Arbeitslosengeldes diese Leistung gemäß § 157 Abs. 3 S. 2 SGB III der Bundesagentur für Arbeit erstatten.
In Fall 12 ist der Anspruch des A aus § 611a Abs. 2 BGB (iVm § 615 BGB) gegen U (in Höhe des geleisteten Arbeitslosengeldes einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge) gemäß § 115 Abs. 1 SGB X auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangen. Wird er erfüllt, entfällt die Minderung der Anspruchsdauer für die entsprechenden Tage des Leistungsbezugs (§ 148 Abs. 3 SGB III).
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bb) Gemäß § 158 Abs. 1 SGB III ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld auch, wenn der Arbeitslose wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine sog. Entlassungsentschädigung (Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung) erhalten oder zu beanspruchen hat und das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist beendet worden ist. Prinzipiell ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld von dem Ende des Arbeitsverhältnisses an bis zu dem Tag, an dem das Arbeitsverhältnis bei Einhaltung der Frist geendet hätte, längstens jedoch ein Jahr (§ 158 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 SGB III). Unter in § 158 Abs. 2 S. 2 SGB III näher bestimmten Voraussetzungen verkürzt sich der Ruhenszeitraum. Während dieser Zeit soll der Arbeitslose seinen Lebensunterhalt aus der Abfindung bestreiten. Nach Ablauf des Ruhenszeitraums setzt der Leistungsanspruch im Fall des § 158 SGB III ohne weitere Auswirkungen ein, das Ruhen des Anspruchs führt nur zu einer Verschiebung des Leistungszeitraums, nicht zu einer Einbuße bei der Anspruchsdauer. Grund für die Ruhensvorschrift ist die Vermutung, dass die Abfindung bei dieser Sachlage Entgeltansprüche für die Zeitspanne zwischen der Aufhebungsvereinbarung und dem Ende der ordentlichen Kündigungsfrist abgelten soll[59]. Diese Annahme ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung in den Fällen des § 1a KSchG nicht gerechtfertigt, weil der gesetzliche Abfindungsanspruch erst entsteht, wenn die Arbeitgeberkündigung als rechtswirksam gilt und die ordentliche Kündigungsfrist abgelaufen ist[60].
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In Fall 11 ist die Abfindung des A gemäß § 158 SGB III zu berücksichtigen. Sein Arbeitsverhältnis zu U ist ohne Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist beendet worden, die hier gemäß § 622 Abs. 2 Nr 1 BGB einen Monat zum Ende eines Kalendermonats betragen hätte. Die Kündigung durch U wurde am 15. Januar 2020 ausgesprochen. Demnach ruht der Anspruch des A auf Arbeitslosengeld bis zum 29. Februar 2020 (§ 158 Abs. 1 S. 1, 2 SGB III). Anders wäre es gemäß § 158 Abs. 2 S. 2 Nr 3 SGB III nur, wenn Arbeitgeber U tatsächlich zur fristlosen Kündigung berechtigt gewesen wäre. Der gegen A gerichtete Verdacht bestand bei Vergleichsschluss aber nicht mehr.
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cc) Der Anspruch ruht ferner, wenn gemäß § 159 SGB III eine Sperrzeit eintritt[61]. Das ist insbesondere der Fall, wenn Arbeitslose ihr Beschäftigungsverhältnis selbst gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt haben (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe, § 159 Abs. 1 S. 2 Nr 1 SGB III). § 159 Abs. 1 S. 2 Nr 1 SGB III ist insbesondere einschlägig, wenn Arbeitnehmer einen Aufhebungsvertrag oder einen Aufhebungsvergleich schließen[62]. Es genügt nach der Rechtsprechung aber auch, wenn der Arbeitnehmer durch einen sog. Abwicklungsvertrag nach einer Kündigung des Arbeitgebers mit diesem innerhalb der Dreiwochenfrist für die Erhebung der Kündigungsschutzklage (§ 4 S. 1 KSchG) eine Vereinbarung über die Hinnahme der Kündigung und die Bedingungen der Beendigung trifft[63]. In allen diesen Fällen bleibt der Arbeitslose nur dann von der Sperrzeit verschont, wenn er für sein Verhalten einen wichtigen Grund hat (§ 159 Abs. 1 S. 1 SGB III). Die bloße Hinnahme einer Arbeitgeberkündigung führt dagegen nicht zum Eintritt einer Sperrzeit. Dies gilt auch für die durch § 1a KSchG eröffnete Möglichkeit der Hinnahme einer betriebsbedingten Kündigung gegen Abfindungszahlung gemäß § 1a Abs. 2 KSchG[64]. Die Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe beträgt im Regelfall zwölf Wochen (§ 159 Abs. 3 SGB III). Sie bewirkt nicht nur das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (§ 159 Abs. 1 S. 1 SGB III), sondern führt gemäß § 148 Abs. 1 Nr 4 SGB III auch zu einer Minderung der Anspruchsdauer.
In Fall 11 konnte A durch den Abschluss des Prozessvergleichs, mit dem die Parteien das Arbeitsverhältnis aufgehoben haben, seine Arbeitslosigkeit nicht mehr im Sinn des § 159 Abs. 1 S. 2 Nr 1 SGB III schuldhaft herbeiführen, weil sein Beschäftigungsverhältnis schon am 15. Januar 2020 geendet hatte[65]. Er hatte auch nicht zuvor (durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten) Anlass zu dessen Lösung durch U gegeben. Das untersucht die Agentur für Arbeit von Amts wegen ohne Rücksicht auf arbeitsrechtliche Vereinbarungen. Nach dem Sachverhalt hat sich jedoch der Diebstahlsverdacht nicht bestätigt. Folglich ist keine Sperrzeit eingetreten.
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Weitere Fälle, in denen § 159 Abs. 1 SGB III eine Sperrzeit anordnet, sind die Ablehnung einer dem Arbeitslosen von der Arbeitsagentur angebotenen Beschäftigung (Nr 2), der fehlende Nachweis von der Arbeitsagentur geforderter Eigenbemühungen (Nr 3), die Weigerung, an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen (Nr 4) oder deren Abbruch (Nr 5), die Weigerung, an einem Integrationskurs bzw einer berufsbezogenen Deutschsprachförderung teilzunehmen (Nr 6) oder deren Abbruch (Nr 7), die Verletzung von Meldepflichten (Nr 8) sowie die verspätete Arbeitsuchendmeldung (Nr 9). In den Fällen der Nummern 2–9 setzt der Eintritt einer Sperrzeit eine vorherige Belehrung über die Rechtsfolgen eines solchen versicherungswidrigen Verhaltens voraus. Eine Sperrzeit tritt generell nicht ein, wenn der Arbeitslose einen wichtigen Grund für sein Verhalten hatte. Insoweit trifft ihn die objektive Beweislast für Tatsachen aus seinem Verantwortungsbereich. Die Dauer der Sperrzeit variiert in diesen Fällen zwischen einer und zwölf Wochen[66] (§ 159 Abs. 4-6 SGB III).
One-Page-Fälle: BSG, NZS 2020, 318 (Lehmann); LSG Niedersachsen-Bremen, NZS 2019, 195 (Mittelbach).
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dd) Arbeitskämpfe können bei beteiligten und oft auch bei unbeteiligten Arbeitnehmern zu Arbeitslosigkeit führen. Der rechtliche Fortbestand des Arbeitsverhältnisses steht dem Eintritt von Beschäftigungslosigkeit nicht entgegen.
Der rechtmäßige Streik suspendiert die Arbeitspflicht der Arbeitnehmer für die Dauer des Arbeitskampfes. Damit verlieren die Arbeitnehmer gemäß § 326 Abs. 1 BGB ihren Anspruch auf das Arbeitsentgelt[67].
Was die Gewährung von Arbeitslosengeld angeht, sind zwei Konstellationen unproblematisch: Gemäß § 160 Abs. 2 SGB III ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn Arbeitnehmer durch persönliche Beteiligung an einem inländischen Arbeitskampf (Streik, Aussperrung) arbeitslos geworden sind. Auf der anderen Seite hat gemäß § 160 Abs. 1 S. 2 SGB III Anspruch auf Arbeitslosengeld, wer in einem Betrieb außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs des umkämpften Tarifvertrags beschäftigt ist oder war. In dem ersten Fall würde sonst die Streikkasse auf Kosten der Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung entlastet, in dem zweiten Fall können die Betreffenden an dem angestrebten Tarifabschluss nicht teilhaben. Problematisch und umstritten ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen Ansprüche auf Arbeitslosengeld bei von einem Arbeitskampf nur mittelbar betroffenen Arbeitnehmern ruhen sollen, wenn diese dem fachlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags unterfallen[68]. Dabei sind wiederum zwei Fälle zu unterscheiden: der Fall, dass der Arbeitnehmer dem fachlichen und räumlichen Geltungsbereich angehört, und der Fall, dass der Arbeitnehmer nur dem fachlichen, nicht aber dem räumlichen Geltungsbereich angehört.
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(1) Der Gesetzgeber hatte 1986 die Vorgängerregelung des § 116 AFG (politisch umstritten) in der Weise neu gefasst, dass mittelbar betroffene Arbeitnehmer im räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags kein Arbeitslosengeld erhalten, wenn die umkämpften oder geforderten Arbeitsbedingungen nach Abschluss eines entsprechenden Tarifvertrags auch für sie (normativ) gelten oder wenn sie zu ihren Gunsten (durch Bezugnahme im Arbeitsvertrag) angewendet würden (§ 116 Abs. 3 S. 1 Nr 1 und S. 3 AFG). Außerhalb des räumlichen, aber innerhalb des fachlichen Geltungsbereichs des umkämpften Tarifvertrags ruhte der Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn folgende Voraussetzungen gegeben waren: Es musste in dem räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags, dem der Betrieb zuzuordnen ist, eine der Hauptforderung des Arbeitskampfes gleichwertige Forderung erhoben worden sein. Ferner musste das Verhandlungsergebnis voraussichtlich in dem räumlichen Geltungsbereich, in dem nicht gekämpft wurde, im Wesentlichen übernommen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung bestätigt[69].
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(2) § 160 SGB III regelt die Frage genauso wie § 116 AFG. Der Anspruch der mittelbar Betroffenen ruht gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 SGB III nur, wenn der Betrieb, in dem der Arbeitslose zuletzt beschäftigt war, (1) dem räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags zuzuordnen ist oder (2) nicht dem räumlichen, aber dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags zuzuordnen ist und im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags, dem der Betrieb zuzuordnen ist, (a) eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen und (b) das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach im Wesentlichen übernommen wird. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht nur, wenn die umkämpften oder geforderten Arbeitsbedingungen nach Abschluss eines entsprechenden Tarifvertrags für den Arbeitnehmer gelten oder auf ihn angewendet würden (§ 160 Abs. 3 S. 3 SGB III). Der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit kann gemäß § 160 Abs. 4 SGB III ausnahmsweise bestimmen, dass Personen Arbeitslosengeld zu leisten ist, wenn das Ruhen des Anspruchs für eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern ausnahmsweise nicht gerechtfertigt ist. Die Feststellung, ob die Voraussetzungen für ein Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs mittelbar Betroffener gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 Nr 2 lit. a und b SGB III erfüllt sind, trifft der Neutralitätsausschuss der Bundesagentur (§ 380 SGB III). In jüngerer Zeit ist die Verfassungsmäßigkeit dieser gesetzlichen Konzeption erneut hinterfragt worden.[70]