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2. Hintergrund

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a) Die Krankheit gehört zu den Lebensrisiken, die der weitaus größte Teil der Bevölkerung auf sich allein gestellt nicht tragen könnte. Krankheit führt oftmals zu erheblichen finanziellen Aufwendungen (Arztkosten, Krankenhauskosten) und Einbußen (Verdienstausfall), die die Leistungsfähigkeit des Einzelnen schnell übersteigen. Wie andere typische Lebensrisiken (Arbeitsunfall, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Alter) ruft das Risiko der Krankheit geradezu nach einer versicherungsmäßigen Absicherung, durch die es auf viele Schultern verteilt wird. Die Vorsorge gegen das Risiko der Krankheit erfolgt zum einen durch die öffentlich-rechtlich organisierte gesetzliche Krankenversicherung, zum anderen durch die private Krankenversicherung[2]. Der Absicherung der Beamten dient die auf dem beamtenrechtlichen Dienstverhältnis beruhende beamtenrechtliche Beihilfe. In der gesetzlichen Krankenversicherung sind nach den Erhebungen des Bundesministeriums für Gesundheit derzeit (Stand: Dezember 2019) rund 73 Millionen Menschen versichert, das sind rund 88% der Bevölkerung[3]. Bei den privaten Krankenversicherungen waren mit 9,29 Millionen rund 11% der Bevölkerung vollversichert (Stand: Dezember 2019)[4]. Die Bedeutung der gesetzlichen Krankenversicherung ist damit evident.

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b) Die Kosten der Vorsorge gegen das Risiko der Krankheit sind enorm, und die Ausgaben sind gerade in den letzten Jahren besonders stark angestiegen. Insgesamt hat die gesetzliche Krankenversicherung 2018 für Versicherungsleistungen und Verwaltungskosten Ausgaben von über 239 Mrd. Euro bestritten, davon 77 Mrd. Euro (rund 32%) für die Krankenhausbehandlung, 39 Mrd. Euro (rund 16%) für die ärztliche Behandlung, 55 Mrd. Euro (rund 23%) für Arzneimittel einschließlich Heil- und Hilfsmittel, 3,3 Mrd. Euro (rund 1,4%) für Zahnersatz, 13 Mrd. Euro (rund 5%) wurden für Krankengeld aufgewandt. 2007 lagen die Ausgaben noch bei insgesamt 153,9 Mrd., 2010 bei 176,5 Mrd., 2012 bei 184 Mrd. Euro[5]. Die Aufwendungen für die Leistungen der Krankenversicherung wachsen seit Jahrzehnten schneller als Löhne und Gehälter, nach denen sich die Beitragseinnahmen der Krankenkassen richten, und der Anteil der aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung finanzierten Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt hat sich beständig erhöht. Die Folge war ein Anstieg der Beitragssätze. Während die Beitragssätze für die gesetzliche Krankenversicherung 1960 durchschnittlich bei 8,43% lagen, betrugen sie 2009 durchschnittlich 14,6%; im Jahr 2020 liegen sie, inzwischen gemäß § 241 SGB V festgelegt, – ohne Zusatzbeitrag – bei 14,6% (Rn 170).

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Es gehört zu den sozialstaatlichen Herausforderungen der nächsten Zukunft, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen[6] in den Griff zu bekommen. Das gilt im Interesse der sozialversicherungsrechtlichen, der privaten und der steuerfinanzierten Absicherung gleichermaßen. Die Probleme sind vielfältig. Ein teilweise zu hohes Preisniveau, prüfungsbedürftige Verteilungsschlüssel, die partielle Unwirtschaftlichkeit des Medizinbetriebs und vorkommende (zum Teil wirtschaftskriminelle) Misswirtschaft[7] führen zur Verschwendung von Finanzmitteln und kennzeichnen einen ersten Problembereich, dem man seit längerem mit Reformen beizukommen versucht. Nach wie vor gilt es, Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen und Überkapazitäten, die das Gesundheitswesen durchaus prägen, zu verringern. Effizienz ist nicht die Stärke des deutschen Gesundheitswesens. Sie zu erreichen ist auch deshalb nicht leicht, weil im Gesundheitswesen die Anbieter in wesentlichen Bereichen Art und Menge der Leistungen in beträchtlichem Umfang selbst bestimmen können; ein Wettbewerb auf der Seite der Leistungsanbieter ist nur wenig ausgeprägt. Das deutsche Gesundheitswesen ist, wie OECD-Studien regelmäßig ergeben, eines der teuersten der Welt[8], vor allem die Arzneimittelausgaben liegen höher als in fast allen europäischen Ländern. Das deutsche Gesundheitswesen liefert dabei insgesamt gesehen durchschnittliche Ergebnisse. Hohe Qualität wird der Akutbehandlung in Krankenhäusern bescheinigt. Als prüfungsbedürftige Kostenfaktoren gelten viele Krankenhausbetten, hohe Ausgaben für Medikamente und vergleichsweise hohe Ärztehonorare (bei eher mäßiger Bezahlung der Pflegeberufe). Zweitens wird die Alterung der Bevölkerung steigende Ausgaben mit sich bringen; mit den absehbaren wirtschaftlichen Auswirkungen einer alternden (und voraussichtlich schrumpfenden) Gesellschaft werden nicht nur die Nachfrager, sondern auch die Anbieter von Gesundheitsleistungen konfrontiert sein. Vor eine andauernde Herausforderung werden die Sicherungssysteme gegen das Krankheitsrisiko (nicht nur die gesetzliche Krankenversicherung) schließlich durch die Weiterentwicklung der Möglichkeiten moderner Medizin gestellt. Mit fast jedem Fortschritt des medizinisch-technisch Möglichen nimmt der Finanzbedarf des Medizinbetriebes weiter zu. Dabei ist der medizinisch-technische Fortschritt vielfach nicht dadurch gekennzeichnet, dass er vorhandene Verfahren und Maschinen durch effizientere ersetzt und das Angebot somit verbilligt („substitute technologies“), sondern dadurch, dass er auf das, was bereits möglich ist, eins obendrauf setzt („add-on-technologies“). Früher Unmögliches ist heute möglich, sodass nicht selten ein Bedarf dort entsteht, wo zuvor höchstens theoretische Wünsche bestanden haben: Solange ein künstliches Hüftgelenk nicht zufrieden stellend implantiert werden konnte, bestand bei Patienten mit altersbedingter Hüftgelenksarthrose kein Verlangen nach einem derartigen chirurgischen Eingriff, so sehr man sich eine Verbesserung der Situation gewünscht hätte. Heute ist der Einbau künstlicher Hüftgelenke eine medizinische Routinebehandlung, über deren Nutzen kein Zweifel bestehen kann. Mit diesem wenig spektakulären Beispiel für die Fortschritte der Medizin ist das Problem gekennzeichnet: Haben noch Ende des 19. Jahrhunderts die Bemühungen der Ärzte und sonstigen Heilkundigen den Patienten nicht selten bestenfalls nicht geschadet, laufen heute die Kosten des mit Erfolg Machbaren den verfügbaren Finanzen immer schneller davon. Dabei entwickelt sich die medizinische Diagnostik schneller als die Möglichkeiten der Therapie. Man wird sich darauf einrichten müssen, dass in der alternden Gesellschaft zwischen dem, was medizinisch machbar wäre, und dem, was an finanziellen Mitteln für medizinische Diagnostik und Therapie zur Verfügung steht, eine Diskrepanz bestehen wird. Das betrifft nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, und dies betrifft die öffentlich-rechtlich organisierte gesetzliche Krankenversicherung und die private Krankenversicherung gleichermaßen. In einer Gesellschaft steht indessen nur eine endliche Geldmenge für die Gesundheit zur Verfügung, wobei es nicht darauf ankommt, über welche Systeme (öffentlich-rechtliche Sozialversicherung, private Versicherung, Zahlung aus der eigenen Tasche, Zuschüsse von Arbeitgebern, Steueraufkommen oder Mischung solcher Systeme) die Finanzierung vermittelt ist. Bei der privaten Krankenversicherung, die unter beträchtlichem Kostendruck steht, wird man das Problem möglicherweise auf die Frage beschränken können, welchen medizinischen Standard man durch seine Versicherungsprämien erkaufen kann oder will. Die gesetzliche Krankenversicherung steht vor der weit größeren Herausforderung, auf die anstehende Tatsache der Diskrepanz zwischen Möglichkeiten und Finanzierbarkeit gesellschaftspolitisch überzeugend reagieren zu müssen. Dabei wird sich die Herausforderung auf der Einnahmenseite nicht lösen, sondern nur auf der Ausgabenseite begrenzen lassen.

Schrifttum: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Übersicht über das Sozialrecht, Sozialgesetzbuch, 5. Buch, Krankenversicherung, Stand: 2019; Ebsen/Wallrabenstein, Krankenversicherungsrecht, in: SRH, § 15, insb. Rn 27 ff mwN; Gaßner, Korruption im Gesundheitswesen, NZS 2012, 521; Igl/Naegele (Hrsg.), Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen, 2000; Postler, Nachhaltige Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung, 2010; Schlicht/Dickhuth (Hrsg.), Gesundheit für alle: Fiktion oder Realität?, 1999; Sommer, Gesundheitssysteme zwischen Plan und Markt, 1999.

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