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2 Unangenehme Erinnerungen

24. Juni 1958

Ein Cannae für Sepp Herbergers Team!

Damals gab es ihn noch, den deutschen Bildungsbürger, der, ohne zum Konversationslexikon zu eilen, mühelos Anspielungen auf historische, mythologische oder biblische Motive erkannte. Heute sind solche Kenntnisse nahezu ausgestorben, naturgemäß auch unter Fußballkommentatoren, zumal sich Marcel ReifReif, Marcel in den Ruhestand zurückgezogen hat. Allenfalls von einem »Waterloo« ist mitunter noch die Rede, wenn Bremen oder der HSV eine ordentliche Klatsche abbekommen, wobei man sich nicht immer sicher ist, ob diejenigen, die Waterloo im Munde führen, an die schwedische Popgruppe ABBAABBA oder an NapoleonNapoleon denken.

Früher, als Bildung, Kultur, Literatur & Co. noch etwas galten, konnte man den Zuschauern und Zuhörern viel mehr zumuten. Herbert ZimmermannZimmermann, Herbert zum Beispiel, der WM-Reporter von 1954, war ein solcher Mann, der fest darauf setzte, dass selbst Fußballfans über historische Grundkenntnisse verfügten. 1958 kam es bei der Weltmeisterschaft in Schweden zum Halbfinalspiel zwischen dem Gastgeber und Titelverteidiger Deutschland. Fahnen schwenkende und in Megaphone brüllende schwedische Einpeitscher sorgten für eine hitzige Atmosphäre, die Uwe SeelerSeeler, Uwe im Rückblick als »monoton« und »als Sportler gesehen nicht so gut« empfand. Dennoch ging Deutschland durch SchäferSchäfer, Hans in Führung, ehe SkoglundSkoglund, Lennart für Schweden ausglich, was die »Heja! Heja«-Rufe im Stadion anschwellen ließ.

Den Genickbruch erlitt die deutsche Mannschaft in der 58. Minute, als sich Verteidiger Erich »Hammer« JuskowiakJuskowiak, Erich durch den fintenreichen Schweden Kurt HamrinHamrin, Kurt provoziert fühlte und sich kurzerhand mit einem Tritt revanchierte. Der ungarische Schiedsrichter István ZsoltZsolt, István – keine glückliche Ansetzung, wie viele fanden – ahndete nur die Tat des Deutschen und verwies ihn des Feldes. Als kurz darauf Fritz WalterWalter, Fritz derb gefoult wurde und sich nur noch humpelnd fortbewegen konnte, nutzten die Schweden ihre Überzahl und schossen sich mit 3:1 ins Finale.

Die Nachwirkungen der »Hölle«, der »Schlacht« von Göteborg waren heftig. Sepp HerbergerHerberger, Josef »Sepp« sprach tagelang nicht mit Sündenbock JuskowiakJuskowiak, Erich, der sich beim Bankett nach dem Spiel wie auf einem »Begräbnis« fühlte, »als ließen sie mich in einem Sarg ganz langsam hinunter, als hätte ich allein schuld, dass Deutschland nicht Weltmeister werden konnte«. DFB-Präsident BauwensBauwens, Peter Joseph »Peco« fiel mal wieder aus der Rolle und kündigte scharfe Konsequenzen an: »Was hier passiert ist, grenzt an Volksverhetzung. Nie mehr werden wir dieses Land betreten, nie mehr werden wir gegen Schweden spielen.«

Natürlich täuschte sich der Mann, heizte aber die Stimmung zu Hause an: Glaubhaften Augenzeugen zufolge strichen deutsche Gastwirte Smörgåsbord und Schwedenplatte von ihren Speisekarten. Ja, und es kam noch schlimmer, wie sich Der Spiegel erinnert: »Beim internationalen Reitturnier in Aachen reißen Unbekannte die schwedische Flagge vom Mast. Schwedischen Touristen werden die Autoreifen zerstochen, an Tankstellen und Reparaturwerkstätten werden sie abgewiesen oder nur unwillig bedient. Bei der Kieler Woche empfängt das Publikum eine schwedische Kinderkapelle mit Pfuirufen, und Höltjes Gesellschaftshaus in Verden an der Aller teilt mit, ein Konzert des Lars-Lindström-Sextetts könne nicht stattfinden – ›auf Grund der Vorfälle bei den Weltmeisterschaften möchten wir einen Abend mit einer schwedischen Tanzkapelle zur Zeit nicht wagen.‹«

Eingedenk der Schiedsrichterleistung soll in den Folgemonaten sogar der Absatz von Paprikaschnitzel und Paprikagulasch markant zurückgegangen sein. Fortan vermied es die deutsche Hausfrau generell, mit dem roten Pulver aus Ungarn zu würzen; der Spielfilm Ich denke oft an Piroschka mit Liselotte PulverPulver, Liselotte und Gunnar MöllerMöller, Gunnar wurde kaum noch ausgestrahlt. Geglättet wurden die deutsch-schwedischen Wogen erst 1965, als Deutschland sich in Stockholm gegen Schweden die WM-Qualifikation sicherte, doch verblassten die Erinnerungen an HamrinHamrin, Kurt und Heja-Heja! erst endgültig, als IKEA das deutsche Einrichtungswesen von Grund auf veränderte. Seitdem finden Deutsche Schwedisches in der Regel gut und sympathisch, nicht zuletzt, wenn es sich um Kriminalromane handelt.

Welche Folgen JuskowiaksJuskowiak, Erich Tritt für das Spiel selbst haben sollte, erkannte Reporter Herbert ZimmermannZimmermann, Herbert früh. Er notierte eine »Affekthandlung« des Düsseldorfers und rief, als sich Fritz WalterWalter, Fritz verletzte, besorgt ins Mikrophon: »Das wird ja ein Cannae hier!« Man stelle sich das vor: Da geht es um den WM-Einzug, da tobt die Stimmung in Göteborg, da rückt die Titelverteidigung in weite Ferne … und just da sieht der gebildete ZimmermannZimmermann, Herbert keinen Canossagang, kein Königgrätz und keine Kanonade von Valmy kommen, sondern ein Cannae! Für alle, die im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst haben: 216 v. Chr. fügten HannibalsHannibal Karthager den zahlenmäßig überlegenen Römern eine verheerende Niederlage zu. 50.000 der 80.000 römischen Soldaten sollen dabei ihr Leben verloren haben. HannibalHannibal hatte die Schwächen der römischen Kavallerie ausgenutzt und eine der meistgerühmten militärischen Leistungen vollbracht.

Welche Analogie Herbert ZimmermannZimmermann, Herbert genau im Sinn hatte, als ihm die Schlacht von Cannae in den Sinn kam, weshalb er HerbergersHerberger, Josef »Sepp« dezimierte Elf mit den Römern verglich und ob er der schwedischen Spieltaktik hannibaleske Qualitäten zuschreiben wollte – das alles lässt sich im Nachhinein nicht mehr zweifelsfrei beantworten.

Als der Ball noch rund war

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