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30. Juli 1966

Ein Schuss gegen die Querlatte, alles gut, bis …

Tore sind die Erfüllung des Fußballspiels. Taktiktüftler oder intellektuell sich aufspielende Reporter mögen uns tausendmal erklären, warum ein 0:0 raffinierteste Winkelzüge bereitzuhalten, warum das Abtasten und Ausschalten des Gegners größten Genuss zu schenken vermag. Befriedigung im echten Sinn wird das auf Dauer niemandem verschaffen. Wir wollen Tore sehen, viele Tore, gekonnt herausgespielte, und nur im Notfall, wenn der Abstieg unseres Vereins am letzten Spieltag verhindert werden muss, akzeptieren wir einen mickrigen Abstauber und pfeifen auf die Ästhetik.

Manchmal jedoch schenkt auch ein Nicht-Tor Erfüllung, sind wir vom Nicht-Gelingen berührt. Damals in den frühen siebziger Jahren zum Beispiel, als wir uns nach der Schule zum spontanen Fußballspielen auf dem steinernen Pausenhof des Heilbronner Mönchseegymnasiums trafen. Für ein richtiges Match fehlten Zeit und Mitspieler, also versammelten wir uns vor einem der beiden Handballtore und versuchten uns an »Ball aus der Luft«. Drei oder vier spielten sich den Ball zu, der den Boden nicht berühren durfte, und machten uns daran, den Torhüter per Direktabnahme, also »aus der Luft«, zu überwinden.

Dieses einfache Spiel, auch »Hochball« oder »Hoch eins« genannt, kann man zu einem Wettkampf ausgestalten, bei dem erfolgreiche Torschüsse oder Paraden mit Punkten honoriert werden. Ob wir das damals auf dem Pausenhof taten, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall erinnere ich mich gut daran, dass es nicht immer die satten Volleys oder platzierten Kopfbälle waren, die – wenn das Netz zappelte – Genugtuung verschafften. Nein, ein außergewöhnliches Glücksgefühl, gepaart mit leiser Tragik, bereiteten gerade jene Momente, da der prächtig getroffene Ball sein Ziel um Haaresbreite verfehlte und wuchtig gegen die rot-weiße Latte oder den Pfosten knallte. Was für ein schönes Geräusch, dieses mal dumpfe, mal helle Abprallen! Was für ein erwartungsvolles Aufschauen, was für eine Wonne, das Leder so schön getroffen, am Torwart vorbeigezirkelt und dennoch die Vollendung um wenige Zentimeter verfehlt zu haben!

Latte ist besser als Pfosten, das galt einst, das gilt heute. Am Quergebälk zu scheitern war erhabener, fataler als am in den Boden gerammten, quasi geerdeten Pfosten. Wer die Latte traf, hatte nicht versagt, musste nicht Spott und Hohn ertragen. Lattenknaller verschaffen paradoxerweise ein Gefühl der befriedigenden Enttäuschung: Ja, gewiss, man hatte nicht ins Tor getroffen, doch man war an höheren Mächten, am dummen Pech gescheitert. Wer Pech hat, ist kein Versager. Wer an der Latte scheitert, ist ein Held, ein gebrochener Held, denn wahre Größe zeigt sich erst, wenn das Schicksal sich gegen einen verschwört und winzige Widrigkeiten den Triumph verhindern.

Noch heute erfreut es mich vor dem Fernseher oder im Stadion, wenn ich das Klatschen höre, das Klatschen des gut getroffenen Balles, der von der Querlatte zurückspringt. Ich sehe, wie das Gesicht des Spielers, der die Flugbahn verfolgt, vor Schreck erstarrt, wie der Ball abprallt und der Torschrei, wie es so dramatisch heißt, auf den Lippen erstirbt. Dann vielleicht ein kurzes Aufstöhnen, ein Niedersinken auf den Rasen, ein Die-Hände-vor-den-Kopf-Schlagen – in der Ahnung, dass dieser herrliche Fehlschuss womöglich den Sieg der eigenen Mannschaft vereitelt. Und dagegen die auflodernde Erleichterung des Torhüters, dessen Blick ängstlich dem unerreichbaren Ball hinterherfliegt und der in Sekundenschnelle die Rettung erkennt. Noch einmal davongekommen, das sagt dieser Blick. Lattenknaller schenken eine Erfahrung, die es im Leben selten gibt: Genuss im Misslingen.

Diese Betrachtung über den feinen Lattenschuss wäre noch schöner, wenn sie sich auf die fatale, oft beschriebene Verlängerung des WM-Finales 1966 England gegen Deutschland anwenden ließe. Dort nämlich im Wembley-Stadion war in der Verlängerung ein solcher prächtiger Lattenschuss des Briten Geoff HurstHurst, Geoffrey Charles »Geoff« zu bewundern, der freilich eine unglückliche Flugbahn nahm und auf (natürlich: auf!) die Torlinie zurückprallte. Den von da hochspringenden Ball köpfte der tapfere Abwehrspieler WeberWeber, Wolfgang leider ins Toraus, denn hätte er ihn irgendwie im Spiel gehalten, hätte es kaum mehr als ein bisschen Geschrei gegeben und es wäre ruckzuck weitergegangen. So aber ruhte das Geschehen, es gab Zeit zu protestieren und Schiedsrichter Gottfried DienstDienst, Gottfried aus der Schweiz Zeit, nachzudenken und hinüber zu seinem Linienrichter Tofik BachramowBachramow, Tofik aus Baku zu blicken. Mit prophetischer Gabe ahnte Reporter Rudi MichelMichel, Rudi, der kurz zuvor noch räsonierend zurückgeblickt hatte (»Ich sag ja immer: Die Engländer haben das Fairplay erfunden, aber nicht alle Spieler wissen das«), das Kommende: Sein spontaner und korrekter Ausruf »Nicht im Tor, kein Tor« blieb ungehört, und als die beiden Schuldigen jenes 30. Juli, DienstDienst, Gottfried und BachramowBachramow, Tofik, auf 3:2 für England entschieden, seufzte MichelMichel, Rudi »Das wird nun wieder Diskussionen geben«. Recht hatte er.

Computeranalysen haben, zumindest wenn sie von deutschen Fachleuten angestellt wurden, längst ergeben, dass der Ball, als er von der Latte nach unten prallte, keineswegs die Linie in vollem Umfang überschritten hatte. DienstDienst, Gottfried und BachramowBachramow, Tofik agierten offenbar in Unkenntnis der Verse Reinhard UmbachsUmbach, Reinhard: »Soll der Schuss ein Treffer sein, / muss der Ball ins Tor hinein. / Ob er reinrollt oder -fliegt / oder unterm Tormann liegt, / ist im Grund höchst egal; / im Gegensatz zu jener Zahl, / mit der vom Ball der Radius / noch malgenommen werden muss, / um schon rein rechtlich so zu liegen, / dass letzte Zweifel rasch verfliegen. / 2 Pi macht Balls Umdrehung voll, / die er die Linie drüber soll. / So wird erst mathematisch klar, / was vorher unumstritten war.«

Die Debatten über das »Wembley-Tor« halten bis heute an. Gerhard HenschelHenschel, Gerhard und Günther WillenWillen, Günther schrieben darüber sogar ein ganzes Buch (Drin oder Linie?), in dem die entscheidende Frage schonungslos gestellt wurde: Wie bitte verständigten sich DienstDienst, Gottfried und BachramowBachramow, Tofik? Allein nonverbal? Telepathisch? Entschied das hektische Winken des schlechtfrisierten aserbaidschanischen Linienrichters? Oder sprachen die beiden irgendwie miteinander? HenschelHenschel, Gerhard und WillenWillen, Günther liefern in ihrem Buch mehrere Versionen des bis heute nicht zweifelsfrei überlieferten Dialogs. Am besten gefällt uns die »Kleines Missverständnis« betitelte Fassung: »DienstDienst, Gottfried: Was fuchteln Sie denn hier so aufgeregt mit der Fahne rum, Mann? Ist ja furchtbar! – BachramowBachramow, Tofik (zeigt mit der Fahne zur Ehrentribüne): Da vorne ist de GaulleGaulle, Charles de, de GaulleGaulle, Charles de! – DienstDienst, Gottfried: Was? – BachramowBachramow, Tofik: De GaulleGaulle, Charles de, de GaulleGaulle, Charles de, de GaulleGaulle, Charles de! – DienstDienst, Gottfried: Goal? Na, von mir aus … (Er entscheidet auf Goal.)«

Nicht verschwiegen sei der diplomatische Skandal, dass das Stadion in Baku heute nach jenem Tofik BachramowBachramow, Tofik benannt ist und eine viel zu große Statue des Pfeifenmannes den Eingang verunstaltet. Dass deutsche Mannschaften in dieser Arena Spiele austragen müssen, ist eine Zumutung, ein Affront. Dass Geoff HurstHurst, Geoffrey Charles »Geoff« zu jenen gehörte, die diese Statue enthüllten, verwundert nicht.

Als der Ball noch rund war

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