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9. August 1986

Frank Mill will alles richtig machen … und trifft nur den Pfosten

Fangen wir beim Allgemeinen und Grundsätzlichen an, sprechen wir darüber, ob es auf die Größe ankommt. Ja, großgewachsene Menschen haben es leichter. Kaum betreten sie einen Raum, scheint es, als stünden sie im Mittelpunkt, als würde von ihrer physischen Präsenz eine Aura von Macht und Geist ausgehen. Nicht umsonst mangelt es nicht an (populär-)psychologischen Deutungen, die insbesondere zu kurz geratenen Männern unterstellen, ständig in der Angst vor dem Zu-kurz-Kommen zu leben und deshalb zur Profilierungssucht zu neigen. Die Weltpolitik kennt solche Beispiele, als nicht zum Hünenhaften tendierende Figuren wie NapoleonNapoleon oder Oskar LafontaineLafontaine, Oskar auf dem Schlachtfeld oder am Rednerpult kompensatorische Großtaten begingen, die es ihren Zeitgenossen kaum noch erlaubten, leichtfertig über sie hinwegzugehen und -zusehen. Heinz SchubertSchubert, Heinz als Ruhrpottekel Alfred Tetzlaff schließlich machte die Figur des großmäuligen Winzlings bildschirmfähig.

Randy NewmansNewman, Randy böse Liedzeile »Short people got nobody to love« macht auch vor den Toren der Sporthallen und Stadien nicht halt. Man muss nicht auf die Notwendigkeiten des Basketballs oder Zehnkampfs verweisen, um zu sehen, dass in vielen Sportarten Größe und Kraft ein entscheidendes Plus darstellen. Wer nicht als ringender Papiergewichtler, Jockey oder Steuermann Erfolge feiern will, tut sich vielerorts schwerer, wenn er zu den gut zehn Prozent der (deutschen) Männer zählt, die weniger als 1,70 Meter messen.

Im Fußball liegen die Dinge komplizierter. Auf die Größe kommt es hier nicht immer an, und das viele Lob, das Barcelonas Wunderstürmer Lionel MessiMessi, Lionel, der einst unter Wachstumsstörungen litt und es nun auf 1,69 Meter (ohne Stollenschuhe) bringt, seit Jahren ereilt, zeigt die besonderen und oft unberechenbaren Umstände dieser Disziplin. Selbst in Metin TolansTolan, Metin Buch So werden wir Weltmeister. Die Physik des Fußballspiels, wo viel von Luftwiderstand und Reibungskräften die Rede ist, erhalten wir keine letztgültige Auskunft.

Einigkeit scheint lediglich auf der Torwartposition zu herrschen. Die Großen dieses Faches waren meist auch körperlich Große, von Ausnahmen wie Bernhard WesselWessel, Bernhard, Gerhard HeinzeHeinze, Gerhard oder Peter KunterKunter, Peter abgesehen, die ein paar fehlende Zentimeter durch immense Sprungkraft auszugleichen suchten. Auch im Abwehrzentrum einer Mannschaft dominieren die kopfballstarken Recken – wir erinnern uns an Berlins »Funkturm« Uwe KliemannKliemann, Uwe –, die wie Per MertesackerMertesacker, Per, Anthony BrooksBrooks, John Anthony, Jérôme BoatengBoateng, Jérôme oder Jan VestergaardVestergaard, Jannik die Oberhoheit im Strafraum für sich reklamieren und mit robustem Körpereinsatz die gegnerischen Angreifer in Schach halten. Anders auf den Außenpositionen, wo ein Philipp LahmLahm, Philipp nie unter seinen Dustin-Hoffman-Dimensionen litt und wo die gefürchteten »Terrier« und »Wadenbeißer« zu Hause waren. Rackerer wie BernardBernard, Günter DietzDietz, Bernard oder Berti VogtsVogts, Hans-Hubert »Berti« pflegten wie Kletten an ihren technisch meist beschlageneren Gegenspielern zu hängen, die vergeblich versuchten, sie wie lästige Fliegen abzuschütteln. Und wer in den sechziger Jahren jemals gegen England zu spielen hatte, erinnerte sich ein Leben lang an den zahnlosen Zerstörer Nobby StilesStiles, Norbert »Nobby«, der als Manndecker mit nicht immer feinen Mitteln zuerst danach trachtete, das gegnerische Kreativspiel rustikal zu unterbinden.

Lange Zeit scheuten sich Manager und Trainer, kleingewachsene Spieler, die auch vom Gewicht her als »halbes Hemd« wirkten, unter Vertrag zu nehmen. Zu gering schien die Chance, dass sich die Schmalbrüstigen gegen Kopfballgiganten wie Horst HrubeschHrubesch, Horst oder Jan KollerKoller, Jan durchsetzen würden. »Der Junge ist zu schmächtig, der muss erst mal was auf den Rippen haben«, urteilte Trainer Sepp PiontekPiontek, Josef »Sepp« skeptisch über seinen Zögling Klaus AllofsAllofs, Klaus, und sein Kollege Herbert WidmayerWidmayer, Herbert ging noch einen Schritt weiter und musterte Flügelflitzer Calle Del’HayeDel’Haye, Karl »Calle« mit großer Skepsis: »Wenn der unter der Dusche steht, hat man Schwierigkeiten ihn zwischen den Wasserstrahlen zu entdecken.«

Die so Geschmähten wussten jedoch aus der Not oft eine Tugend zu machen und glichen fehlenden Wuchs durch technische Raffinesse aus. Als Dribbelkönige und Wirbelwinde nutzen sie bis heute ihre größere Bodennähe aus, spielen Gegenspieler schwindlig oder ackern sich wie Münchens »kleines, dickes MüllerMüller, Gerd« oder Hamburgs »Uns’ UweSeeler, Uwe« zum entscheidenden Torschuss vor. Reich ist die Liste der fintenreichen Mittelfeldspieler mit Tordrang, die WuttkesWuttke, Wolfram, WoszWosz, Dariusz’, HäßlersHäßler, Thomas oder KeegansKeegan, Kevin die sich bei den Anhängern meist großer Beliebtheit erfreuen, da es ihnen als David immer wieder gelingt, ungestüme Goliaths zu düpieren. Zu tricksen und zu täuschen, den Gegner mit Beinschüssen zu narren, das war seit jeher eine Spezialität der Außenstürmer, ob sie nun Allan SimonsenSimonsen, Allan, Ludwig KöglKögl, Ludwig »Wiggerl« oder Francisco GentoGento, Francisco hießen. Da manche von ihnen nicht immer auf festen Füßen stehen und schon bei dezentestem Körperkontakt zu Boden gehen, beschworen diese den einen oder anderen Elfmeterpfiff herauf. Und ungerecht, wie die Welt nun mal ist, verdankt die eine oder andere Zaubermaus ihre Triumphe anatomischen Eigentümlichkeiten. Pierre LittbarskisLittbarski, Pierre Beinstellung wurde gern fotografisch festgehalten, und Brasiliens zweifacher Weltmeister GarrinchaGarrincha (Manuel Francisco dos Santos) behielt trotz medizinischer Behandlungen zeitlebens höchst ungleich geformte Beine, die es ihm ermöglichen, seine überforderten Gegenspieler mit unvorhersehbaren Winkelzügen zu überraschen.

Das Unberechenbare des kleinen Kickers macht seinen Stellenwert im Fußball bis heute aus. Wo jeder Quadratmeter auf dem Rasen im Blick der Trainerstrategen ist, braucht es Überraschungselemente, die den Ausschlag geben, und manchmal lohnt es sich, auf die wendigen Überraschungskünstler zu vertrauen, wie Trainerurgestein Hennes WeisweilerWeisweiler, Hans »Hennes«, dem dereinst an Prognostischem zu Pierre LittbarskiLittbarski, Pierre einfiel: »Aus dem Kleinen wird ein Großer.«

Einer dieser bewunderten Wirbler war Frank MillMill, Frank, der es immerhin auf 17 Länderspiele und über einhundert Bundesligatore brachte. Der – so sein Teamkollege Norbert DickelDickel, Norbert – »mit allen Abwassern gewaschene« MillMill, Frank zählte nicht zu den Recken im Sturmzentrum, was er durch schlitzohrige Finten ausglich. Bundesligageschichte schrieb er freilich mit einem Unglücksschuss, als er in seinem ersten Bundesligaspiel für Borussia Dortmund Bayern Münchens Abwehrreihen und zuletzt Torwart PfaffPfaff, Jean-Marie umkurvte und aufs leere Tor zulief. Jede Oma mit Krückstock hätte, möchte man sagen, den Ball versenkt, doch offenkundig ließ sich MillMill, Frank vom hechelnden Atem eines Münchner Verteidigers beeindrucken, geriet ins Straucheln und schob den Ball an den Pfosten. Für solche tragischen Momente hat die Fußballsprache den Ausdruck »eine Tausendprozentige vergeben« geschaffen. Das Beispiel Frank MillMill, Frank zeigt es: Man kann sich nicht aussuchen, womit man in die Ewigkeit eingeht.

Als der Ball noch rund war

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