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23. April 1994

Das Phantom des Olympiastadions

Beginnen wir mit dem Duden, der wie immer Bescheid weiß. Ihm zufolge versteht man unter einem »Phantom« eine »unwirkliche Erscheinung«, ein »Trugbild«. Im weiteren Sinne ist der Fußballsport reich an »unwirklichen Erscheinungen«; jeder Spieltag liefert solche frei Haus. Im engeren Sinne jedoch hat sich in der Fußballsprache eingebürgert, das »Phantom« vor allem mit dem Kompositum »Phantomtor« zu verwenden. Gemeint sind damit Tore, die – bei aller Berücksichtigung aller subjektiver Wahrnehmungsbeeinträchtigungen – keine waren, das heißt, Tore, die gegeben werden, obwohl sie beim besten Willen nicht als Tore gemäß Regel 10 verstanden werden können: »Ein Tor ist gültig erzielt, wenn der Ball die Torlinie zwischen den Torpfosten und unterhalb der Querlatte vollständig überquert, sofern das Team, das den Treffer erzielt hat, zuvor nicht gegen die Spielregeln verstoßen hat.«

Phantomtore sind somit von besonderem Reiz, da sie eine unwirkliche Erscheinung letztlich zu einer wirklichen Erscheinung, zu einem unumstößlichen Tatbestand machen. Unumstößlich? Nun, das ist so eine Sache, wie sich am Ende der Bundesligasaison 1993/94 im Münchner Olympiastadion zeigte. Obwohl die Bundesligageschichte mehrere Phantomtore aufzuweisen hat, gilt jenes, das Thomas HelmerHelmer, Thomas in der 24. Minute erzielte bzw. nicht erzielte, als die Mutter oder der Vater aller Phantomtore.

Wie es dazu kam, ist schnell erzählt: Ein Eckball fällt dem knapp einem Meter vor der Torlinie stehenden HelmerHelmer, Thomas vor die Füße bzw. an die Wade, worauf dieser in seiner Überraschung den Ball wenige Zentimeter neben den Torpfosten ins Aus stochert. HelmerHelmer, Thomas ärgert sich und wird von Nürnbergs Keeper Andreas KöpkeKöpke, Andreas »Andy« getröstet. Doch in Sekundenbruchteilen verändert sich dessen Gesichtsausdruck, weil er zu seinem Entsetzen feststellen muss, dass Schiedsrichter Hans-Joachim OsmersOsmers, Hans-Joachim und sein Assistent Jörg JablonskiJablonski, Jörg, der hurtig seine Fahne emporgereckt hat, auf Tor, also nicht auf Phantomtor, erkennen. Die Bayern-Spieler tun so, als sei das normal, fallen dem kurz zuvor noch mit sich hadernden HelmerHelmer, Thomas um den Hals, worauf dieser so tut, als brauche er nicht mehr mit sich zu hadern. Sämtliche Proteste der Nürnberger nützen erst mal nichts, man verliert das Spiel mit 1:2 (inkl. Phantomtor).

Nach dem Spiel legen die Besiegten Protest ein, dem – obwohl es sich auf den ersten Blick um eine nicht revidierbare Tatsachenentscheidung handelt – stattgegeben wird. Es kommt zum Wiederholungsspiel, das der Club nun 0:5 verliert und damit seinen Abstieg besiegelt.

Für die Neuansetzung des Spiels bedurfte es einiger juristischer Verrenkungen. Die Tatsachenentscheidung musste zu einer Nicht-Tatsachenentscheidung umgemünzt werden, was dadurch gelang, dass der Eindruck erweckt wurde, Schiedsrichter OsmersOsmers, Hans-Joachim und Linienrichter JablonskiJablonski, Jörg hätten sich missverstanden und unterschiedliche Szenen – HelmersHelmer, Thomas Gestochere mit der Wade und HelmersHelmer, Thomas Absatzkick, der den Ball ins Toraus rollen ließ – bewertet. »Beide«, so das DFB-Sportgericht, »gingen damit von zwei verschiedenen Spielvorgängen aus mit der Folge, dass die Feststellung, dass der Ball im Tor war, keine Tatsachenfeststellung des Schiedsrichters, sondern eine solche des Linienrichters – und dazu noch eine falsche – war.« Gemäß dieser Logik habe es OsmersOsmers, Hans-Joachim versäumt, JablonskiJablonski, Jörg zu fragen, welcher Aktion sein Fahnenschwenken gegolten habe, womit »keine unanfechtbare Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters gemäß Regel V Abs. 2, Satz 2« mehr vorliege. Zu bewundern ist diese Spitzfindigkeit allemal; für Leserinnen und Leser, die sich in die Materie weiter vertiefen wollen, empfehlen wir Horst HilpertsHilpert, Horst Die Fehlentscheidungen der Fußballschiedsrichter (2010), das mit 89,95 Euro nur so viel wie eine gute Tribünenkarte kostet.

Jörg JablonskiJablonski, Jörg zeigte auch im Nachhinein eine gewisse Uneinsichtigkeit und gab an, dass sich »99 Prozent« wie er verhalten hätten. Seine Karriere beendete er kurz darauf, zermürbt von den »Anfeindungen« der sich ans Phantomtor erinnernden Zuschauer. Sein Sohn SvenJablonski, Sven, der sich trotz der familiären Belastung für den Schiedsrichterjob entschied, stieg 2017/18 in die erste Bundesliga auf. Auf den Irrtum seines Vaters werde er nicht mehr angesprochen, sagt er. Hans-Joachim OsmersOsmers, Hans-Joachim durfte noch ein Jahr weiterpfeifen, bis er die Altersgrenze erreicht hatte. Mit seiner fatalen Fehlentscheidung arrangierte sich der gelernte Kaufmann offensichtlich; hinter seinem Büroschreibtisch hing lange ein großformatiges Foto des Phantomtors.

Der Ordnung halber seien noch zwei weitere bemerkenswerte Phantomtore aufgeführt. Eines erzielte Leverkusens Stefan KießlingKießling, Stefan per Kopf am 18. Oktober 2013 gegen Hoffenheim. Der Ball, der knapp am Tor vorbeistrich, schlich sich so geschickt durch die Maschen des Netzes ins Tor, dass der eigentlich sehr gut postierte Schiedsrichter Felix BrychBrych, Felix auf Tor entschied. Eine Spielwiederholung gab es diesmal nicht. Als weiterführende Literatur sei auf einen Aufsatz von Christian Schäfer-HockSchäfer-Hock, Christian aus dem Jahr 2017 verwiesen: Stefan Kießlings Phantomtor und die Zunahme gesellschaftlicher Überwachung. Vorschlag für eine Intensivierungsspirale auf Grundlage eines Mehrebenenmodells der Öffentlichkeit.

Mein liebstes Phantomtor fiel jedoch in einem Zweitligaspiel, am 15. Januar 2010. Erzielt hat es der Duisburger Christian TiffertTiffert, Christian zum 5:0 gegen den FSV Frankfurt. Nach einem Torwartfehler nahm TiffertTiffert, Christian den Ball an und schoss ihn aus knapp zwanzig Metern gegen die Querlatte. Von da sprang dieser herunter und landete rund einen Meter vor der Torlinie auf dem Rasen. Pech, dachte sich TiffertTiffert, Christian, bis plötzlich ein Pfiff von Schiedsrichter Marco FritzFritz, Marco zu hören war, der auf Anraten seines Assistenten Thomas MünchMünch, Thomas auf Tor entschied. Im Vergleich zu dieser krassen optischen Täuschung wirken HelmersHelmer, Thomas und KießlingsKießling, Stefan Phantomtore fast wie richtige Tore.

»Ich habe es nicht gesehen, nur reagiert«, gab FritzFritz, Marco später als Entschuldigung an, wohingegen Lehrwart Eugen StrigelStrigel, Eugen deutlichere Worte fand: »Dass der Ball einen Meter vor der Torlinie aufspringt und auf Tor entschieden wird – das hat es noch gar nie gegeben.« Marco FritzFritz, Marco erholte sich von diesem Schock und stieg zum FIFA-Schiedsrichter auf. Thomas MünchMünch, Thomas nicht.

Als der Ball noch rund war

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