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20. Oktober 1971

Eine Cola-Dose und ein vom Schlag getroffener Italiener

Eigentlich genießt die Dose an sich bei Fußballern ein gutes Ansehen. Wer hat nicht als Kind der Verlockung nachgegeben und eine auf dem Gehsteig angetroffene, eingedellte Getränkedose lustvoll weggekickt? Das scheppert so schön, viel besser, als wenn man einen Kiesel oder eine Kastanie als Schussobjekt verwendet. So war es auch in Uruguay dereinst, wie sich der Schriftsteller Eduardo GaleanoGaleano, Eduardo erinnert: »Auch ein Apfel kann, zumindest solange er ganz ist, als Fußball dienen, ebenso ein zusammengebundenes Stoffzeug oder zusammengeknülltes Papier oder sogar eine gar nicht runde Konservendose, wenn sie sich nur bewegen lässt; denn wenn sie sich bewegt, so hat sie in ihrer Bewegung schon den Anschein, rund zu sein.«

Dass die Dose an Renommee verlor, hat viel mit einem Europapokalabend am Gladbacher Bökelberg zu tun, mit dem 20. Oktober 1971. Die Gastgeber empfingen Inter Mailand und führten nach einer knappen halben Stunde bereits mit 2:1, als eine Dose, genauer: eine klassisch rote Coca-Cola-Dose auf den Rasen flog und den italienischen Stürmer Roberto BoninsegnaBoninsegna, Roberto am Kopf traf. Was dann geschah, lässt sich – das Spiel wurde nicht im Fernsehen übertragen – nur anhand von Augenzeugenberichten erahnen. Gladbachs fränkischer Abwehrrecke Ludwig MüllerMüller, Ludwig, offenbar des Italienischen kundig, machte zweckdienliche Angaben: »Ich habe gesehen, wie die Dose BoninsegnaBoninsegna, Roberto an der Schulter traf. Zunächst schaute er nur ganz verdutzt. Dann kam Inter-Kapitän Sandro MazzolaMazzola, Alessandro »Sandro« auf ihn zugestürmt und rief, er solle sich fallen lassen. Und schon sank er wie vom Blitz getroffen zu Boden. Dabei war die Dose so gut wie leer. Das habe ich gemerkt, als ich sie Richtung Bande gekickt habe. BoninsegnaBoninsegna, Roberto wollte aufstehen, doch ein Inter-Masseur drückte ihn immer wieder zu Boden. Dann ließ er sich auf einer Trage abtransportieren. Wir haben aber gesehen, dass er dabei noch seinen Mitspielern zugezwinkert hat. Es war eine große schauspielerische Leistung.«

Ein erschütternder Bericht, den Jahre später der niederländische Schiedsrichter Jef DorpmansDorpmans, Jef bestätigte. Auch er hatte den Eindruck, dass der Werfer die Dose zuvor leer getrunken hatte, ehe er BoninsegnaBoninsegna, Roberto ins Visier nahm. DorpmansDorpmans, Jef unterbrach das Spiel für mehrere Minuten, dachte über Abbruch nach, doch »dann kam der Polizeihauptkommissar von Mönchengladbach und bat mich, das Spiel fortzusetzen, weil auch 7000 bis 8000 Italiener im Stadion waren«. Was folgte, weiß jedes Kind: Der »tote Mann« (Udo LattekLattek, Udo) BoninsegnaBoninsegna, Roberto ließ sich auswechseln; Gladbach war nicht mehr zu bremsen und fegte die Mailänder am Ende mit 7:1 aus dem Stadion – wohl das beste Spiel, das NetzerNetzer, Günter, KulikKulik, Christian, le FevreLe Fevre, Ulrik, HeynckesHeynckes, Josef »Jupp« & Co. je ablieferten.

Genützt hat ihnen das nichts. Die UEFA annullierte das Spiel. In Mailand verlor Gladbach mit 2:4; das Wiederholungsspiel in Berlin endete 0:0. Ludwig MüllerMüller, Ludwig brach sich dabei das Bein – nach Foul von BoninsegnaBoninsegna, Roberto. Dessen filmreife Einlage trübte das deutsch-italienische Verhältnis über Jahre. Da hatten sich die »Gastarbeiter« allmählich eingelebt; da hörte man gern Rocco GranataGranata, Rocco, Adriano CelentanoCelentano, Adriano, Rita PavonePavone, Rita & MinaMina zu und freundete sich damit an, dass mit allerlei Dingen bestückte Hefefladen, Pizza genannt, tatsächlich essbar waren. Sogar mein in solchen Dingen stets skeptischer Vater griff beherzt zu, zu Hause eher als im Lokal. Bereits beim WM-Halbfinale Italien gegen Deutschland 1970 hatte man sich über die Italiener erregt, die alle paar Minuten den sterbenden Schwan mimten. Mit einem wie BoninsegnaBoninsegna, Roberto wollte man nichts zu tun haben. Gab es nicht auch andere Urlaubsziele als den Teutonengrill von Bibione und Rimini?

Das verhasste Objekt, die Dose, nahm Schiedsrichter DorpmansDorpmans, Jef mit nach Hause, nach Arnheim, wo sie viele Jahre lang zu besichtigen war. Erst 2011 gelang es den Gladbachern, sie an den Ort des Geschehens zurückzuführen. Die auf Hochglanz polierte Büchse, inzwischen gänzlich leer, schmückt seitdem das Vereinsmuseum von Borussia Mönchengladbach. Was aus Roberto BoninsegnaBoninsegna, Roberto geworden ist? Keine Ahnung. Wahrscheinlich spielt er seine Paraderolle in irgendeinem italienischen Provinztheater und hofft, dass Besucher aus Mönchengladbach ihn nicht erkennen.

Als der Ball noch rund war

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