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Vor dem Anpfiff

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Franz KafkaKafka, Franz hat die Problemlage früh erkannt. Am 3. Oktober 1923 schrieb er seinem Schwager Josef DavidDavid, Josef: »Lieber Pepa, sei so gut und schreibe mir ein paar Zeilen, wenn zu Hause etwas Besonderes geschehen sollte. Heute ist Mittwoch abends, ich bin seit 10 Tagen hier und habe insgesamt 2 Nachrichten von zu Hause erhalten. Das würde vollkommen genügen, nur war es nicht gut verteilt, die 2 Nachrichten kamen schnell nacheinander. Also Du wirst mir schreiben, falls etwas geschehen sollte, nicht wahr? Und was machst Du, wenn Du niemanden hast, dem Du vor Berlin Angst machen kannst. Pepa, mir Angst machen, das ist so wie Eulen nach Athen tragen. Und es ist hier wirklich schrecklich, in der inneren Stadt leben, um Lebensmittel kämpfen, Zeitungen lesen. Das alles tue ich allerdings nicht, ich würde es keinen halben Tag aushalten, aber hier draußen ist es schön, nur manchmal dringt eine Nachricht durch, irgendeine Angst bis zu mir, und dann muss ich mit ihnen kämpfen, aber ist es in Prag anders? Wie viele Gefahren drohen dort täglich einem so ängstlichen Herzen. Und sonst ist es hier schön, dem entsprechend sind zum Beispiel der Husten und die Temperatur sogar besser als in Schelesen. – Die 20 K übergab ich einem Kinderhort, darüber werde ich Dir noch Näheres berichten. – Wenn Du ein Referat über die Berliner Zustände haben möchtest, dann schreibe mir nur. Allerdings die Berliner Preise! Es wird ein teures Referat sein. Schlage übrigens die letzte Selbstwehr auf. Professor Vogel schreibt dort wieder gegen den Fußball, vielleicht hört der Fußball jetzt überhaupt auf. Grüße mir schön die Eltern und die Geschwister und Herrn Svojsík. Übrigens kam jetzt ein Brief von ElliKafka, Gabriele »Elli«, es ist also alles in Ordnung.«

Wie ließe sich die Angst eines Fußballbegeisterten besser ausdrücken? »Vielleicht hört der Fußball jetzt überhaupt auf« – Franz KafkasKafka, Franz düstere Ahnung gehört zu den Urbefürchtungen, die alle Jahre ausgesprochen werden. Was tun, wenn es Woche für Woche keine Spiele mehr gibt? Was tun, wenn sich die Leidenschaft für das Rasengeschehen nicht mehr aufrechterhalten lässt, wenn politische oder wirtschaftliche Umstände einem die Freude am Fußball verderben, sie diesen gar unmöglich machen?

Schon im 19. Jahrhundert gab es diese Sorge, wie ein Zitat aus Routledge’s Handbook of Football nahelegt: »Lovers of Football are the most conservative people in the world, and real lovers of Football are necessarily a little bigoted where reform is concerned.« Die Angst vor Veränderung mag vielen Menschen gemein sein, doch der Fußballanhänger scheint in speziellem Maße ängstlich in die Zukunft zu schauen. Am liebsten möchte er sein Spiel unverändert wissen, und wann immer die Regeln geändert, Videobeweise eingeführt, Ligen umstrukturiert werden sollen, darf man sicher sein, dass laute Protestschreie die Folge sind. Der Fußballfreund hat Angst, dass sein Spiel bald nicht mehr sein Spiel sein wird. Er mag progressivsten Gedanken anhängen, was gesellschaftliche Veränderungen angeht, doch wenn es ums Eingemachte, wenn es um den Ball geht, zeigt er Beharrungsvermögen.

Vielleicht dachte man zu allen Zeiten so, vielleicht ist jede Fußballzeit von jener Urangst getrieben, morgen werde es nicht mehr so schön sein, wie es gestern war. Das hält mich freilich nicht davon ab, dieses Hausbuch des deutschen Fußballs nostalgisch auszurichten. Was in den letzten Jahren rund um den Fußball, weltweit, geschehen ist, lässt viele schaudern. Die Machenschaften der Sportfunktionäre und all derjenigen, die am Fußball verdienen wollen, haben dazu geführt, dass selbst ich gelegentlich überlege, meine lebenslange Begeisterung ad acta zu legen, mich vielleicht unverdächtigen Sportarten wie Minigolf, Eiskunstlauf oder Dressurreiten zuzuwenden, um mir nichts mehr von dubiosen Investoren, Millionenablösesummen, chinesischem Wahnsinn, Gewaltexzessen oder FIFA-Seilschaften anhören zu müssen.

Deshalb dieses Buch: Es versammelt Erinnerungen an die deutsche Fußballgeschichte, an persönliche Momente und solche, die Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses wurden. Ein Leben ohne das Aufbewahren solcher Erinnerungen wäre für einen Fußballfan sinnlos. Es benötigt das Heraufbeschwören von Ereignissen, die die Zeit stillstehen lassen. Das können großartige, sensationelle Augenblicke, aber ebenso solche des intensiven Leidens und der deprimierenden Schicksalsschläge sein. Auch das gehört zu einem Fußballleben. Deshalb steigert sich dieses Buch allmählich vom Schrecklichen bis hin zum Grandiosen, vom Vergießen bitterer Tränen bis zu ekstatischen Freudenschreien. Klar ist dabei, dass je nach Vereinsbrille nicht leicht Einigkeit darüber zu erzielen ist, was als »schrecklich« und was als »grandios« einzustufen ist. Dass der Autor schwergeprüftes Mitglied des TSV 1860 München ist, möge als Entschuldigung für gelegentliche historische Verzerrungen angenommen werden.

Ebenso wenig geht es um Vollständigkeit. Viele werden vieles vermissen; das ist unvermeidlich. Mehr als eine Auswahl bietet dieses Buch nicht. Über die »großen« Stunden des deutschen Fußballs ist schon oft geschrieben worden. Deshalb werde ich ganz unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen lassen, Kurioses und Abseitiges einbauen, über Málaga-Eis sprechen, über das Abseits und den Elfmeter an sich und eine Vielzahl publizistischer Stimmen rund um den Ball zitieren. Pure Fakten lassen sich in Nachschlagewerken oder im Internet ohnehin mühelos finden. Der Frauenfußball und das Geschehen in der DDR, als die KreischesKreische, Hans-Jürgen, DörnersDörner, Hans-Jürgen, MingesMinge, Ralf und DuckesDucke, RolandDucke, Peter auf Torejagd gingen, werden nicht gebührend gewürdigt; das sei im Vorhinein eingeräumt.

Möge dieses Hausbuch dazu beitragen, uns über die düstere Gegenwart hinwegzuhelfen. Manchmal braucht man das.

Als der Ball noch rund war

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