Читать книгу Wie das Leben so schräg spielt - Ralf Mühe - Страница 10
Vergeben und vergessen
ОглавлениеAls einer, der sich lieber Positivem widmet, eigne ich mich vermutlich am wenigsten dazu, zum Thema vergeben etwas zu schreiben. Ich vermute, dass ich darüber hinaus oft zu naiv bin, um zu verstehen, dass ich eine Aussage auch als Kränkung hätte auffassen können. Ich bin einfach nicht der Typ, der einen hohen Umschlag von Verletzungen und Vergebung aufzuweisen hat. Immerhin bin ich im Vergessen groß. Das trifft meist auch auf negative Kleinigkeiten zu. Vermutlich beraube ich mich damit der Fähigkeit, wesentlich hingebungsvoller über die Lasten des Lebens klagen zu können.
Ganz anders verhielt es sich diesbezüglich mit einem älteren Herrn, dessen Würde sich an einem bedeutungsvollen Notizbuch festmachte. Er hatte nämlich eine Methode wider das Vergessen entwickelt. Markante Aussagen notierte er sofort in ein Heft. Offenbar war ich so einer, bei dem sich Aufzeichnungen lohnten. Manchmal musste ich schnell dahingeworfene Aussagen Wort für Wort wiederholen, damit er mit dem Schreiben nachkam. Dabei spielte stets ein Lächeln um seine Lippen. Sicher rechnete er schon mit einer reichen Ernte späterer Entschuldigungen.
Eine großartige Lektion in Seelenhygiene erhielt ich einmal vor vielen Jahren von einer Frau. Mit gnadenloser Offenheit bekannte sie mir: „Vergib mir, dass ich dich oft für arrogant halte.“ War ihr Verlangen nach einem reinen Gewissen nicht beispielhaft? Augenblicklich taten sich Abgründe bei mir auf. Dummerweise sah ich mich jedoch nicht in der Lage, die Gefühle der Frau zu vergeben. Vielleicht waren sie ja berechtigt und stellten gar keine Schuld dar. Da sie aber so sehr nach Vergebung verlangte, sprach ich ihr – sozusagen als Ersatz – meine Vergebung für ihre unangebrachte Schwatzhaftigkeit zu. Damit war sie allerdings auch nicht zufrieden. Komplizierte Welt!
Können Sie sich selbst verzeihen? Auch das ist ein Lernprozess. Als Bibelschüler erlaubte ich mir einmal ausgerechnet im Fahrstuhl einen Druckausgleich des Leibes. Ich war ja allein. Doch die augenblickliche Veränderung der Luftverhältnisse in diesem engen Raum war über alles Erwarten fulminant. Gerade jetzt stoppte der Fahrstuhl und eine würdige ältere Lehrerin gesellte sich zu mir. Ziemlich irritiert sog sie die Luft ein, sagte aber nichts. Ich versuchte eine Unschuldsmiene aufzusetzen und fächerte mir Luft zu. Ansonsten wäre ich gern im Boden versunken. Verziehen habe ich mir diese Fehlleistung lange nicht.