Читать книгу Wie das Leben so schräg spielt - Ralf Mühe - Страница 13
Der Herr des Zorns
ОглавлениеDa kenne ich jemand, der als Negativbeispiel geradezu brilliert. Nennen wir ihn mal „M“, um ihn nicht bloßzustellen. Er ist ein Meister darin, seinen Zorn zu beherrschen. Wenn andere ihm allzu forsch kommen, bleibt ihm nämlich die Spucke weg. Selbst an schlagende Gegenargumente erinnert er sich in solchen Situationen nicht mehr. Er wirkt dann nach außen hin so wunderbar friedlich. Ja, es scheint geradezu, als beseelte ihn eine heilige Gelassenheit. Aber in Wirklichkeit kocht es in ihm. Er ist nur nicht fähig, punktgenau den Dampf abzulassen. Erst zu Hause ändert sich das. Etwa wenn seine Frau ihn mit unüberhörbarem Vorwurf fragt: „Warum hast du dieses oder jenes nicht gesagt?“ Es ist ihm eben nicht eingefallen! Warum, warum nur hatte er sich an eben dieses Argument nicht erinnert? Das Gehirn war wie umnebelt. Was er öffentlich versäumt hat, holt er in privaten Scheingefechten nach – Argument und Gegenargument. Bis tief in die schlaflose Nacht.
Es hat „M“ beileibe nicht an Vorbildern gefehlt. Voller Staunen hatte er schon erlebt, wie eine Kollegin loslegte, wenn sie wütend wurde: mit einer Wortflut, die schon fast den Tatbestand der Körperverletzung erfüllte, und mit Argumenten, deren bizarre Logik seiner spröden Fantasie vermutlich für immer verschlossen bleiben wird. Wie einsilbig fühlte er sich jeweils, wenn er aufgefordert wurde: „Jetzt sag du doch auch mal etwas!“ Was sollte er noch hinzufügen? Es war weit mehr als alles gesagt.
Wenn „M“ im Zorn schweigt, erntet er Kritik. Redet er, ergeht es ihm auch nicht besser, denn dummerweise greift er in der höchsten Bewegung seines Gemütes oft zu wahllos in die Armut seines Wortschatzes. Dabei kommen dann Worte zutage, die zu scharf, zu derb oder beleidigend sind. Wie demütigend, wenn er später auf diese Art gewonnene Wortgefechte durch eine schnöde Entschuldigung wieder annullieren muss!
Wen wundert’s, dass er da die hohen Weihen eines Zeitgenossen nur mit gewissem Neid bestaunt! Wo andere heftig reagieren, gereicht es bei jenem nur zu tiefer Traurigkeit. Dieser Seelenzustand war in der Vergangenheit allerdings stets mit dem akuten Bedürfnis verbunden, sie auch möglichst weit zu streuen. „M“s Chef erhielt stets auch eine Trauerbekundung, wenn „M“ sich wieder mal verfehlt hat. Man hat gehört, dass „M“ inzwischen geflüchtet sei – zum Sarkasmus, dem kleinen Bruder des Zorns. Hoffentlich eckt er damit nicht auch so an.