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Nach dem Amen war ich schlauer

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Es war eine Kanzel in einer altehrwürdigen Kirche, an der ich bei meinem ersten Gottesdienst scheiterte. Das gute Stück hing in beachtlicher Höhe über den Köpfen der gespannt lauschenden Gemeindeglieder. Statt meiner Worte hörten sie aber zunächst nur den Aufschlag meiner Bibel. Sie war vom schrägen Pult abgerutscht und zu Boden gefallen. Und das gleich zweimal hintereinander. Ein drittes Mal sollte mir das nicht passieren. Mit meiner Linken hielt ich nun die Bibel und mit der Rechten das Konzept, was jedoch den kleinen Nachteil hatte, dass ich nichts von beidem lesen konnte. Egal: Ich redete, was ich von der Vorbereitung behalten hatte. Und ich redete lang – glaubte ich. Nachprüfen konnte ich es nicht, denn über der Armbanduhr lag der Ärmel des Jacketts. Nach dem Amen war ich schlauer: Knapp sechs Minuten hatte meine Predigt gedauert. Erfrischend kurz, wie jemand später wohlwollend meinte.

Aber das war noch nicht alles. Beim Abendmahl sollte ich die „Einsetzungsworte“ sagen. Nach der Blamage auf der Kanzel wollte ich nicht zugeben, dass mir allein schon der Begriff fremd war. Ich wusste von nichts und faselte beim Austeilen des Abendmahls das, wovon ich glaubte, dass es die Leute hören wollten.

Doch schon bahnte sich die dritte Prüfung an. Die Gemeindeglieder hatten inzwischen Platz genommen. Zurück blieben der Pfarrer, der das Abendmahl geleitet hatte, und ich. Wir standen vor dem Altar. Alle Leute starrten auf uns. Offenbar sollte ich schon wieder etwas sagen. Die Orgel verstummte, aber mir fiel nichts ein. Der Blick des Pastors über den Brillenrand signalisierte Ungeduld. Was gab es noch zu bereden? Worauf wartete er? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Hau doch endlich ab, dachte ich verzweifelt. Dann fasste ich meine Gedanken in die feierlichen Worte: „Gehe hin in Frieden!“ Ich sagte es sehr laut und deutlich. Dabei hob ich theatralisch beide Arme. Der gute Mann zuckte zusammen und ging. Endlich. Er ging!

Am Ende des Gottesdienstes gab es für mich nur noch eines: auf schnellstem Wege durch einen Seitenausgang ins Freie. Ich hatte versagt. Ich war gescheitert. Nie wieder würde ich einen Gottesdienst halten, schwor ich. Das war vor vielen Jahren. Inzwischen habe ich Hunderte Male auf Kanzeln gestanden und gepredigt.

Wie das Leben so schräg spielt

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