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Neu werden

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Wie oft habe ich mir gewünscht, im Turbo-Gang neu zu werden. Gern würde ich am Abend als ungeduldiger Mensch zu Bett gehen, um den nächsten Tag langmütig und mit bewundernswerter Demut zu beginnen. Ansätze dazu reichten meist nur bis auf den Weg zur Arbeit: „Warum fährt die da vorn nicht los? Worauf wartet sie eigentlich noch? Da wär ich schon dreimal rübergekommen ...“ Gleich darauf presche ich um so rasanter über die Kreuzung. Ein entsprechender Kommentar von der liebsten aller Ehefrauen zwingt mich zur aufgebrachten Rechtfertigung. Die Bemerkungen der Tochter auf dem Rücksitz ignoriere ich einfach. In ihrem Alter weiß sie doch immer alles besser!

Drehzahlmesser und Puls sind bereits deutlich erhöht. Doch schon kommt die nächste Prüfung. Vor mir kriecht jemand aus einer Seitenstraße mit seinem garagengepflegten Wagen auf meine Spur. Parkende Autos umfährt er grundsätzlich mit Blinken, natürlich nicht, ohne zuvor ängstlich abgebremst zu haben. Er fürchtet wohl, der Fahrtwind reißt ihm die Außenspiegel ab. Immer wieder keimt in mir die Hoffnung auf, der Kerl könnte abbiegen und die Straße freigeben. Aber nein, er bummelt über einige Kilometer provozierend knapp vor meiner Stoßstange her. Der Weg, den ich normalerweise in friedvoller Ausgeglichenheit dahingleite, wird zur endlosen Teststrecke für meine alte Natur. Beim Überholen zuckt es mich in den Armen. Aber nein, das, was in mir neu geworden ist, gewinnt gerade noch die Oberhand. Ich belasse es bei abschätzigen Blicken für den Fahrer. Im Übrigen registriere ich befriedigt, wie beherrscht ich doch geworden bin ...

Umgestaltungsprozesse gehen wohl grundsätzlich nicht ohne Prüfungen ab. Einst im Frühjahr wurde die Außenwand der Bibellesebund-Zentrale mit einem Hochdruckreiniger bearbeitet. Just überkam einer Kollegin ein kühler Schauer – denn es gab eine undichte Stelle! Aber es war ein Leiden um der guten Sache willen. Als später die Fenster mit Folien verklebt wurden, hatten die Herren Arbeiter zwar freie Blicke in die Toiletten, aber das, was sich dort an Aroma entfaltete, konnte nicht mehr nach draußen gelangen. Auch hier bewahrheitete sich meine Binsenwahrheit über das Neuwerden.

Einen besonderen Respekt habe ich vor elektrischen Haarschneidemaschinen entwickelt. Sie ermöglichen es selbst biederen Normalbürgern, unversehens zu Irokesen zu mutieren. Die Alternative dazu heißt dann nur noch Skinhead. Wer sagt da, dass Leute mittleren Alters keinen Mut mehr zu Neuem hätten? Nur preisgünstig muss es eben sein. Das entschuldigt alles.

Wie das Leben so schräg spielt

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