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KAPITEL 10 - KRIEG ODER FRIEDE?

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SCHWENNINGEN, 23. Juli 1914, 12.10 Uhr. „Herr Lehrer Rapp, einen Augenblick, warten Sie ...”

Christian wandte sich um. „Wilhelm, was gibt es denn? – Hallo Konrad ...”. Wilhelm Bauer und sein Freund Konrad Müller schoben sich hinter ihm durch das hölzerne Portal der Schwenninger Realschule. Die mächtige Flügeltür fiel hinter den Jungen schwer ins Schloss.

Der junge Lehrer mochte die beiden. Wilhelm, der wegen seiner zurückhaltenden, freundlichen Art sehr viel reifer und damit älter wirkte als die meisten Gleichaltrigen, war ein ausgezeichneter Schüler. Konrad, gut einen halben Kopf größer als der zierliche Wilhelm, war robust und mit einem Temperament ausgestattet, das der Oberlehrer Haber auch durch regelmäßige Tatzen nicht in den Griff zu bekommen schien. Konrads Wangen waren gerötet, die blonden Haare standen wild ab. „Herr Lehrer”, sagte er, „der Wilhelm und ich sind uns in einer Sache nicht einig ...”

„Haben Sie eine Minute für uns, Herr Rapp?”, unterbrach ihn Wilhelm.

Christian lächelte. „Gewiss!”

„Herr Rapp”, druckste Konrad herum. „Sie haben doch auch gedient?”

„Allerdings habe ich das. Wie jeder gesunde Mann im Deutschen Reich gedient hat”, antwortete Christian. „Im Infanterieregiment 125 in Stuttgart.”

Für Lehrer betrug die Dienstzeit beim württembergischen Militär lediglich zwölf Monate, also die Hälfte des regulären Wehrdienstes. Nach der ersten Dienstprüfung als Lehrer hatte Christian zunächst anderthalb Jahre lang unterrichtet und war dann eingerückt. Nach dem Militärdienst war er in seine Heimatstadt Schwenningen zurückgekehrt, da sie ihm an der Realschule eine Stelle als Unterlehrer angeboten hatten. Nach dem Tod seiner Schwester war er zur Mutter ins Häuschen in der Zietenstraße gezogen, da sie nach diesem schweren Schicksalsschlag des Trostes durch ihren Sohn bedurfte.

Bei einem sonntäglichen Spaziergang mit Mutter im Moos hatte er sie dann zum erstenmal gesehen. Katharina war in Begleitung zweier weiterer junger Frauen gewesen. Sie hatte ihm zugelächelt, als sich ihre Blicke trafen. Mutter hatte sofort bemerkt, wie gut ihm die dunkelhaarige Schönheit gefiel, hatte aber nichts gesagt. Als er ihr dann wenige Wochen später erzählen konnte, sie seien nun ein Paar, hatte sie Freudentränen vergossen. So sehr hatte sie sich für ihn gefreut.

Nach dem Schulunterricht war ihm Katharina eines Tages vor der Metzgerei Baumann in der Karlstraße in die Arme gelaufen. Es war reiner Zufall. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und sie angesprochen. Dass er sie einem anderen Mann wegnehmen könnte, war ihm damals nicht in den Sinn gekommen. Erst später war er sich dessen bewusst geworden. Er solle sich darüber den Kopf nicht zerbrechen, hatte Katharina zu ihm gesagt. Sie beide seien füreinander bestimmt. Das habe sie von dem Moment an gewusst, als sie sich das erste Mal begegnet waren.

„Herr Rapp, dann müssen Sie jetzt auch bald wieder einrücken?” Konrad riss ihn aus seinen angenehmen Gedanken an die Geliebte.

„Nur langsam, junger Mann. Noch ist es nicht so weit. Noch ist nicht gesagt, dass es tatsächlich einen Krieg geben wird.”

„Oberlehrer Haber sagt aber, dass wir in den Krieg ziehen werden. Er ist Reserveoffizier und wird für Kaiser und Vaterland einstehen.”

Christian zog die Augenbrauen nach oben. „Das muss jeder deutsche Mann tun, wenn es so weit kommen sollte. Aber sag, du klingst mir, als ob du einen Krieg nicht abwarten könntest, Konrad.”

„Ja, er kann es tatsächlich nicht erwarten”, kam Wilhelm dem Freund zuvor. „Er würde sich am liebsten freiwillig melden, wenn er schon alt genug wäre.”

„Und du?”

„Ich kann nicht verstehen, wofür Krieg gut sein soll. Wir haben doch den Cicero gelesen und über den ‘bellum iustium’ diskutiert!”

„Blödmann”, konterte Konrad. „Du redest daher wie ein Mädchen.”

Christian lächelte. Der kluge, nachdenkliche Wilhelm. „Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg”, zitierte er den römischen Philosophen und lächelte den Jungen zu. Der römische Politiker und Philosoph hatte als Erster den Begriff von einem „gerechten Krieg” verwendet und damit die Legitimität des Kriegführens hinterfragt. Bis heute hatte dieses Thema nichts an Bedeutung verloren, fand Christian, und deshalb hatte er Ciceros Werke mit der Klasse gelesen. Vor allem die Klassiker „De re publica” und „De legibus”, wo es um den Staat und seine Gesetze ging.

„Warum ist Ungerechtigkeit besser als Gerechtigkeit?”, blaffte Konrad. „Das muss man nicht verstehen. Und überhaupt, ich kenne den Cicero auch: ‘Einen sicheren Freund erkennt man in unsicherer Sache’. Und unser Kaiser ist ein solcher sicherer Freund. Indem er für unser Bündnis mit Österreich-Ungarn einsteht, macht er uns Deutschen Ehre!”

Christian konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Sehr gut gekontert, Konrad. Aber sag mir: Hast du diese Weisheit tatsächlich bei deinem Studium Ciceros erworben, oder stammt sie wohl doch eher von Oberlehrer Haber?”

Konrad zögerte einen Augenblick. „Nein, nicht vom Haber”, druckste er herum.

„Das hat der Reallehrer Eggler in der Sportstunde gesagt”, sprang Wilhelm ein. „Der Eggler meint, dass es an der Zeit ist, den Russen und den Franzosen mal wieder zu zeigen, wer in Europa das Sagen hat.”

„Wie Siebzig-Einundsiebzig!”, strahlte Konrad.

Seit dem Vorabend lief in Serbien die Generalmobilmachung. Obwohl die Serben im Zuge des österreichisch-ungarischen Ultimatums versprochen hatten, das ihnen Graf Berchthold gestellt hatte, wesentliche Punkte zu erfüllen, standen die Zeichen auf Sturm. Denn Ermittlungen von k.u.k.-Beamten zum Attentat von Sarajewo auf eigenem Territorium wollten die Serben partout nicht zulassen.

Christian hatte das Gefühl, dass die Österreicher ihr Ultimatum, von dem er in der „Neckarquelle” gelesen hatte, bewusst unannehmbar gehalten hatten. Nein, es sollte gar nicht angenommen werden. Das gab ihm zu denken. Denn die serbische Schutzmacht Russland würde wohl nicht stillhalten, wenn Österreich zu den Waffen rief.

„Ja, wer hat das Sagen in Europa? Ich fürchte, die Russen werden jetzt keine weitere diplomatische Demütigung wie 1908 mehr hinnehmen”, sagte Christian leise – mehr zu sich selbst als zu den beiden Schülern. Bereits während der bosnischen Annexionskrise vor sechs Jahren hatte Franz Joseph die Zündschnur am Pulverfass Balkan in Brand gesetzt.

„Dann werden wir es den Russen eben zeigen. Und dem Franzmann gleich mit.” Konrads Wangen leuchteten jetzt noch mehr als vorher. Er setzt seine Mütze auf den Kopf, zog den Schild tief ins Gesicht und warf Christian und Wilhelm einen herausfordernden Blick zu. „Ich werde mich jedenfalls freiwillig melden, wenn es so weit ist. Bald bin ich siebzehn. Ich lass unseren Kaiser nicht im Stich!” Er drehte sich auf dem Absatz um und lief Richtung Mauthe-Fabrik davon. Wilhelm sah dem Freund zweifelnd nach. Er machte ein trauriges Gesicht.

„Herr Rapp, ich weiß nicht, was ich denken soll”, sagte Wilhelm. „Braucht uns der Kaiser denn wirklich für einen Krieg? Ist es nicht besser, wenn die Politiker erst einmal miteinander eine Lösung suchen?”

Morgen würde Wilhelm II. aus dem Norwegenurlaub zurückkehren. Während er auf seiner Jacht die Fjorde abgesegelt hatte, war der deutsche Botschafter in Wien, Heinrich von Tschirschky, bei k.u.k.-Außenminister Berchtold vorstellig geworden. Der Deutsche hatte dem Österreicher erklärt, man erwarte in Berlin nun eine Aktion gegen Serbien. In Deutschland verstehe man es nicht, wenn jetzt die Gelegenheit verpasst werde, endlich loszuschlagen.

Christian legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. „Du hast Recht, lieber Wilhelm. Miteinander zu reden ist immer besser, als aufeinander zu schießen. Lass’ dir da nichts anderes erzählen. Nicht vom Eggler, und auch nicht von Konrad.”

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