Читать книгу Heldenzeit - Ralf Trautwein - Страница 3
ОглавлениеPROLOG
Den Ball hatte Fritz unter den Arm geklemmt. Die Lederkugel war sein ganzer Stolz. Fritz hatte sie von Onkel Hermann bekommen. Vater lachte immer nur über seinen Villinger Schwager und schüttelte den Kopf. „Diese Badenser sind doch verrückt! Wissen nichts Besseres, als einem Lederball nachzurennen und dagegenzutreten.” Fritz allerdings hing an den Lippen des Onkels, wenn dieser ihm von seiner Leidenschaft erzählte. Schließlich machte es ihm ebenso großen Spaß, sich mit seinen Freunden zu treffen und Fußball zu spielen. Und er war ein guter Spieler. Was auch daher rühren mochte, dass er für seine elf Jahre groß gewachsen und recht kräftig war.
„Du bist der ideale Mittelstürmer”, hatte Onkel Hermann bei seinem letzten Besuch gesagt. „Wenn du ein wenig älter bist, Friedrich, dann kannst du bei uns im Club spielen.”
„Blödsinn!”, hatte sich Vater aufgeregt. „Friedrich wird ein Turner werden wie ich. Nächstes Jahr kann er in unsere Riege eintreten. Turnen – das ist richtiger Sport!”
„Lass doch den Jungen”, hatte sich Mutter eingemischt, und ihr jüngerer Bruder hatte Fritz weiter vom FC 08 vorgeschwärmt. Während Hermann seinem Neffen erzählte, wie seine Nullachter ihren letzten Gegner schwindlig gespielt hatten, begannen seine Augen zu glänzen. Für Fritz war klar: Auch er wollte Fußballspieler werden. Warum der Vater Fußball als „blöden Engländersport” bezeichnete, verstand er nicht. Für Paul Link allerdings gab es da keinerlei Diskussion: „Ein Deutscher hat zu turnen! Sollen die auf ihrer Insel doch machen, was sie wollen.”
Fritz sah das anders. Er wollte kicken. Wenn nicht für Schwenningen, dann eben für die Villinger. Dafür trainierte der Junge fleißig. Seit Frühjahr traf er sich jeden Nachmittag mit den Necklemern. Als Spielfeld diente ihnen meist der Paulusplatz, und wenn man sie dort vertrieb, weil sie beim Spielen Lärm machten, suchten sie sich eben eine frisch gemähte Wiese auf dem Sauerwasen oder am Hirschberg.
„Komm, Kleiner”, sagte Fritz und schubste den kleinen Franz vorwärts. „Gustl und die Jungs werden schon auf uns warten.” Der Siebenjährige beklagte sich nicht über die rüde Behandlung. Er war stolz darauf, dass ihn sein älterer Bruder zum Kicken mit den großen Buben mitnahm. Sie gingen die Bahnhofstraße hinunter, vorbei an der Kienzle-Fabrik Richtung Bismarckstraße, wo sie am Steg die Gleisanlage und gleich darauf die Neckarstraße überquerten.
„Du Fritz, heute lasst ihr mich aber auch mal Stürmer spielen?”, fragte Franz.
„Dafür bist zu noch zu klein. Du stellst dich wieder ins Tor, oder du kannst gleich nach Hause gehen.”
„Das ist aber gemein!”
„Sag das dem Gustl, und er gibt dir gleich eine auf die Nase.”
Franz tat, als ob er schmolle, doch insgeheim war er schon zufrieden, dass ihn die Älteren mitspielen ließen. Fritz grinste ihn an, ließ die schwere Lederkugel vor sich auf den Boden fallen und kickte sie vor sich her. „Das Wichtigste, sagt Onkel Hermann, ist es, ein Gefühl für den Ball zu entwickeln.” Ein Gefühl für den Ball – Fränzchen konnte sich so recht nichts darunter vorstellen. Doch das kümmerte ihn nicht weiter. Er würde es Fritz und den anderen Großen schon noch zeigen, wenn er etwas älter sein würde ...
Auf dem Paulusplatz warteten die Spielkameraden: August, den alle nur „Gustl” nannten, und der die Jungs aus dem Neckarviertel anführte. Bei ihm waren Ludwig, Andreas, Urban und Arnold, der seinen kleinen Bruder mitgebracht hatte. Thomas war genauso alt wie Franz. Die beiden drückten zusammen die Schulbank.
„Ha, kommt ihr zwei auch endlich!”, begrüßte sie Gustl unwirsch.
„Nur langsam, Gustl. Ihr Necklemer könnt ja auch zu uns in die Sedanstraße hochlaufen, wenn ihr mitkicken wollt.”
„Heut` wird nicht gekickt”, antwortete Gustl und richtete grinsend ein Holzgewehr auf die beiden Neuankömmlinge. Ludwig und Andreas hatten ähnliche Spielzeugwaffen dabei. „Heute spielen wir Soldaten”, krähte der kleine Thomas.
„Soldaten?”, fragte Fritz. „Warum das denn?”
„Weil wir Patrioten sind”, entgegnete Gustl.
„Was ist das?”, wollte Franz wissen. Fritz zuckte die Schultern und schaute ratlos in die Runde.
„Ihr wisst nicht, was Patrioten sind?”, grinste Gustl. „Na, dann wird’s Zeit, dass ihr das lernt.”
„Meinetwegen. Und was ist nun so ein Patriote?”, wollte Fritz wissen.
„Das heißt Patriot, du Ochse! – Ein Patriot ist ein guter Deutscher.”
„Gut, das sind wir. Dann spielen wir jetzt eben Soldaten. Und gegen wen kämpfen wir?”
„Gegen den Franzmann”, erwiderte Gustl.
„Gegen mich? Wieso gegen mich?” Der kleine Franz begann zu weinen. „Ich hab euch doch gar nichts getan.”
Die großen Jungen lachten.
„Die meinen doch nicht dich!” – Fritz ärgerte sich über seinen kleinen Bruder. „Die meinen die Franzosen.”
Franz zerdrückte eine Träne und wischte sie mit der Hand schnell weg. „Kann ich doch nicht wissen. Und was haben die uns getan?”
„Mensch Kleiner”, regte sich Andreas auf. „Du hast aber auch gar keine Ahnung! Der Franzmann, das ist unser Erbfeind.”
„Genau”, sagte Gustl und stemmte den Schaft seines Gewehrs in die Hüfte. Er hoffte, in dieser Pose verwegen zu wirken. Wie ein richtiger Soldat. „Der Erbfeind!”, wiederholte er. „Und deshalb machen wir ihn fertig.”
„Und wie geht das?”, fragte ihn Franz.
„Sag mal, hast du noch nie Soldaten gespielt, du kleiner Idiot?”
„Idiot? Ich denke, das heißt Patriot!” – Der Siebenjährige verstand gar nichts mehr.
Gustl schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Die anderen hielten sich die Bäuche vor Lachen.
„Lasst ihn in Ruhe”, rief Fritz. „Fangen wir lieber an.”
„Ihr habt ja keine Gewehre”, stellte Ludwig fest und zog ein Taschenmesser hervor. „Damit könnt ihr euch da hinten ein paar Ruten schneiden. Die könntet ihr wenigstens als Säbel verwenden.”
Nachdem sich die Buben entsprechend ausgerüstet hatten, ließ August sie in einer Reihe antreten. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass man das beim Militär so mache.
„Also Männer”, sagte er, bemüht, seiner Stimme einen möglichst tiefen Ton zu geben. „Ich bin General Hindenburg. Und du, Ludwig, bist der Ludendorff.”
„Dann bin ich von Moltke”, forderte Fritz.
„Du bist nicht der Moltke. Du bist ein Franzmann.”
„Ich? – Spinnst du?”
„Wir müssen ja gegen irgendwen kämpfen. Kämpfen ohne Feind geht nun mal nicht”, dozierte Gustl.
„Ich will aber auch ein Deutscher sein”, wandte Fritz ein.
„Jetzt pass mal auf, Fritz: Ihr beide seid die idealen Franzmänner.” Gustl grinste gemein.
„Warum das denn?”
„Erstens: Weil dein Bruder Franz heißt!”
„Und zweitens, weil ihr in der Sedanstraße wohnt”, sekundierte Ludwig.
„Was hat das damit zu tun?”, wollte Fritz wissen.
„Sedan liegt ja wohl in Frankreich, oder?” – Dagegen gab es aus Sicht der Link-Brüder nichts mehr zu sagen.
„Also gut”, brummte Fritz, der Diskussion mit den Buben aus dem Neckarviertel allmählich überdrüssig. „Dann sind wir eben die Franzosen. Und was sollen wir jetzt tun?”
„Was wohl? - Ihr verliert natürlich gegen uns! Die Franzosen verlieren immer gegen die Deutschen”, rief Andreas.
Schließlich einigten sich die Jungs: Der kleine Thomas wurde noch der „Franzosenarmee” als Verstärkung zugeteilt, die in der Folge bei der Schlacht auf dem Paulusplatz von den Generalen Hindenburg und Ludendorff vernichtend geschlagen wurde.
Abends, als sie vom Herumstromern müde nach Hause liefen, zupfte der kleine Franz seinen Bruder am Hemdsärmel. „Du, Kriegspielen ist richtig dumm. Fußball macht mir viel mehr Spaß. Selbst wenn ich den ganzen Mittag nur im Tor stehen darf!”
Fritz lachte und strich dem Kleinen übers Haar. „Mir geht es genauso, Fränzle.”
Warum, dachte Fritz abends vor dem Einschlafen, führen die Erwachsenen überhaupt Kriege? Warum bringen sie sich um bei Meinungsverschiedenheiten? Viel klüger wäre es doch,Fußball gegeneinander zu spielen als gleich mit Gewehren aufeinander zu schießen! Eine derartige Regelung schien Fritz logisch und überdies die einfachste Lösung zu sein. Er nahm sich vor, von seiner Idee demnächst Onkel Hermann zu erzählen. Ihm würde sie bestimmt gefallen.