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KAPITEL 15 - GLOCKENLÄUTEN
ОглавлениеSCHWENNINGEN, 1. August 1914, 11.15 Uhr. Die Hitze hing wie eine große, unsichtbare Käseglocke über den Dächern Schwenningens. Georg hatte sich auf dem Markt ein paar Rettiche gekauft und Wurst beim Metzger Baumann. Grübelnd trug er die Einkäufe in einer braunen Papiertüte nach Hause. Seine Gedanken kreisten um Katharina. Und um das, was sich in der Welt da draußen tat. Irgendein junger Bursche hatte den österreichischen Thronfolger umgebracht, und in der Fabrik hatten sie erzählt, das Deutsche Reich werde deshalb nun Krieg führen müssen.
Es war nicht viel, was Georg über Politik wusste. Und es war ihm ziemlich egal, was die Politiker taten. Die Woche über hatte er bei Bürk genug zu tun, und am Wochenende zog es ihn auf den Sportplatz und in die Kneipe. „Warum müssen wir in den Krieg, wenn die Österreicher mit den Serben und den Russen Ärger haben?”, hatte er von Paul wissen wollen. Sein Freund interessierte sich für solche Dinge, und er hatte es ihm erklärt. Paul pflegte die Zeitung täglich von vorne bis hinten zu lesen und überdies jedes Buch, das er in die Finger bekam. Georgs Welt war das nicht. Das einzige Schriftstück, das er gerne zur Hand nahm, war die Speisekarte im „Waldhorn”. Und die kannte er längst auswendig.
Als Georg in die Sedanstraße einbog, kamen ihm die Bettingers entgegen. August und Elsa Bettinger besaßen das Häuschen direkt neben den Links. Bettinger war wie Paul Uhrmacher, allerdings in Diensten Kienzles. „Grüß dich, Georg”, sagte er.
„Grüß Gott, ihr beiden!”, entgegnete Georg. „Na, wo habt ihr euren Nachwuchs?” Er mochte die Bettingers. Sie waren gute Nachbarn und rechtschaffene Leute.
„Die Kinder sind bei Karoline. Und Georg, wie geht es dir so?”, wollte Elsa wissen.
Georg verspürte wenig Lust, hier auf der Straße sein verletztes Seelenleben auszubreiten. „Geht schon”, brummte er einsilbig.
„Hast du deine Uniform schon gebügelt?”, fragte August, der ebenso wie Georg Reservist war.
„Glaubst du, dass wir sie wirklich brauchen werden?”
„Ich meine schon.”
„Ich weiß nicht. Was soll das bringen? Diese Terroristenstrolche, die den Thronfolger erledigt haben, gehören aufgehängt. Dann wäre die Sache erledigt. Was geht das schon uns kleine Leute an?”
Bettinger legte Georg seine Pranke auf die Schulter. „Weißt du, wenn sich Kaiser und Könige nicht einig sind, ist immer der kleine Mann der Dumme.”
„Da hast du wohl Recht, August. Wollen wir es trotzdem nicht hoffen, dass sie uns einrücken lassen. Sonst muss der Herr Kommerzienrat Kienzle seine Uhren ja zuletzt noch eigenhändig bauen.”
Bettinger grinste. Sie verabschiedeten sich. Das Ehepaar hatte noch Einkäufe zu erledigen.
Paul war im Vorgarten mit Holzspalten beschäftigt, als Georg das Haus erreichte. Er unterhielt sich mit Alfred Bürk, während die Axt in seinen Händen immer wieder kraftvoll auf den Spaltklotz niederfuhr, sodass die Buchenscheite nach beiden Seiten davonflogen.
Bürk war Vorsitzender der Turngemeinde. Paul war früher ein guter Turner gewesen, die beiden kannten sich aus der Riege. Georg hatte schon immer lieber Feldhandball oder Fußball gespielt. Wieder hieb Paul mit der Axt einen kräftige Buchenscheit entzwei. Schweiß rann ihm in Strömen über die Stirn und färbte das helle Baumwollhemd, das er trug, dunkel.
„Grüß dich, Alfred.”
„Ja, Georg, warst du schon beim Frühschoppen?”, foppte ihn Alfred.
„Fehlanzeige, Alfred. Ich wart’ immer noch drauf, dass du mich endlich mal einlädst!”
„Da kannst du lange warten.”
„Das glaub ich auch, du Geizkragen.” Bürk knuffte Georg in die Seite, und sie lachten.
„Paul, kann ich mal die Zeitung haben?”, fragte Georg.
„Geh nur rein, Karoline gibt sie dir.”
„Sag, steht heute was Wichtiges drin? Ich meine wegen eines Krieges ...”
Paul blickte ernst drein. „Kann man wohl so sagen. Der Zar hat die Mobilmachung befohlen, Georg. Es wird langsam eng.”
„Darf nicht wahr sein.” Georg setzte die Papiertüte mit seinen Einkäufen ab und begann, ganz in Gedanken, die Scheite, die sein Freund geschlagen hatte, und die nun rund um den Spaltklotz lagen, aufzusammeln und an der Hauswand aufzustapeln. „Das glaube ich jetzt nicht ...”
„Was meinst du, warum der Alfred hier rumsteht wie Falschgeld?”, fragte Paul ironisch. „Eigentlich müsste der jetzt in Tuttlingen beim Turnfest sein. Aber sie haben es abgeblasen. Der Politik wegen!”
„Dieser verdammte Lump, der den Österreicher erschossen hat. Der ist schuld an allem”, polterte Alfred. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut sich unsere Turner für Tuttlingen vorbereitet haben. Wir waren in bester Form und wären da mit einem Teilnehmerfeld hingefahren, das alles Dagewesene in den Schatten gestellt hätte. Stattdessen können wir jetzt wohl bald einrücken.”
„Alfred, es ist so, wie es ist! Wenn uns der Kaiser zu den Waffen ruft, bin ich bereit”, wandte Paul ein. „Dieser Krieg, das wirst du schon sehen, dauert nicht lange. Wir treten den Russen kräftig in den Hintern. Und allen anderen, die ihnen noch helfen werden.”
Er hatte seinen Wehrdienst als Unteroffizier beendet und war stolz auf seinen Rang. Paul hatte den Militärdienst wie auch Georg in Ulm abgeleistet, der sich in der feldgrauen Uniform allerdings nie sonderlich wohl gefühlt hatte. Ging es um das Militär, musste Georg unweigerlich an den dickwanstigen Kompaniefeldwebel denken, der ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit und darüber hinaus schikaniert hatte. Über Pauls patriotische Haltung hatte er sich schon immer gerne lustig gemacht. „Pass du mal schön auf deinen eigenen Hintern auf, Herr Unteroffizier”, grinste er. Paul blieb ihm die prompte Antwort nicht schuldig. Dem Holzscheit, der heranflog, konnte Georg gerade noch ausweichen.
„He, ihr!” – Konrad Müller, der blonde Nachbarsjunge, der die Realschule besuchte, kam um die Hausecke gerannt und strahlte über das ganze Gesicht. „Es geht los! Endlich ist es so weit! – Mobilmachung! Meine Mutter hat’s gerade gelesen. Bei der ‘Neckarquelle’ haben sie ein Extrablatt herausgegeben, und am Rathaus ist es angeschlagen!” In diesem Moment begannen in ganz Schwenningen die Kirchenglocken zu läuten. Konrad rief: „Hurra!”