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KAPITEL 2 - JOCKELI

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SCHWENNINGEN, 28. Juni 1914, 5.45 Uhr. Draußen dämmerte es. Georg hatte nur noch einen Kanten Brot vom Vortag herumliegen, von dem er sich hastig ein Stück abbrach. Außerdem steckte er etwas Käse in die Tasche. Zum Kaffeekochen blieb ihm keine Zeit mehr. Paul hämmerte bereits gegen die Zimmertür. „Los komm endlich”, rief Georgs Vermieter. „Es ist Zeit, du Langschläfer. Wer in der Württembergischen den ganzen Tag Kontrolluhren baut, sollte eigentlich wissen, dass die unbestechlich sind. Du solltest nicht schon wieder zu spät zur Arbeit kommen.”

Georg bewohnte eine kleine Dachkammer im Haus der Links. Bett, Schrank, Stuhl, Tisch – mehr brauchte er nicht. Die meisten Schwenninger Fabrikarbeiter, wie er einer war, wohnten in einfachen Verhältnissen zur Miete. Georg machte das nichts aus. Er brauchte wenig, schließlich hatte er noch keine Familie. Seine Ansprüche beschränkten sich im Wesentlichen auf das, was er am Wochenende im Wirtshaus liegen ließ. Bei Paul war das etwas anderes. Er wurde im nächsten Jahr dreißig, hatte eine Frau, seine beiden Jungs – und eben ein kleines Häuschen. In der Württembergischen war er als gelernter Uhrmacher Georgs Vorarbeiter.

„Nur mit der Ruhe, Paule.”

„Jetzt komm schon, Jockeli. Schlaf nicht wieder ein.”

„Du sollst mich nicht Jockeli nennen.” Georg trat hinaus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Die beiden Männer stiegen die schmale Holztreppe hinunter. Nicht nur der hagere Paul, der seinen Freund beinahe um Haupteslänge überragte, musste den Kopf einziehen.

„Jockeli” – so hatte ihn Katharina früher genannt. Ob dem Brückle waren sie miteinander aufgewachsen, nur ein paar Häuser voneinander entfernt. Für ihn hatte schon immer festgestanden, dass sie füreinander bestimmt waren. Nach der Volksschule hatte Georg in der Fabrik angefangen, wo immer fleißige Hände gebraucht wurden. Paul Link hatte ihm die Anstellung besorgt. Katharina war bei einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie in Stellung gegangen. Alles war in Ordnung gewesen, bis sie diesem Lehrer über den Weg gelaufen war.

Es tat ihm noch immer weh.

Gestern nach Schichtende waren sie im „Waldhorn” zusammengesessen. Am Nebentisch hatten die Sozialdemokraten wieder große Reden geschwungen. Hansjörg Jauch, einer ihrer Wortführer, war lautstark über den „säbelrasselnden Kaiser und seine Bande” hergezogen. Paul, als Mitglied der Turngemeinde ein Patriot, hatte sein Bierglas abgesetzt und sich entrüstet zu den Sozis umgewandt. Er solle sich als anständiger Deutscher mal überlegen, was er da für einen Mist rede, hatte er Jauch vorgehalten. Es sei wohl wahr, was er gesagt habe, hatte Jauch entgegnet, und die „Klugschwätzer von der Württembergischen” habe hier sowieso niemand um gute Ratschläge gebeten.

Georg war Politik ziemlich egal. Allein wie Jauch mit seinem Freund geredet hatte, wollte ihm nicht passen. „Halt deine große Klappe”, hatte er ihm an Pauls Stelle geantwortet, „oder du kriegst gleich was drauf.”

Darauf hatte ihn Hauser, der mit Jauch trank, einer der Werkzeugmacher von Schlenker & Kienzle, mit Katharina aufgezogen. Er und Hauser kannten sich noch von früher; sie waren miteinander zur Schule gegangen. „Jetzt aber, Jockeli, reiß doch du das Maul nicht so weit auf! Hier bei uns musst du keine so großen Töne spucken, nur weil dich deine Katharina abserviert hat. Geh lieber zu ihrem Lehrer und gib dem eine drauf!” Das hatte gesessen.

Georg hatte, als er unvermittelt aufsprang, den Tisch umgestoßen und Hauser einen kräftigen Fausthieb verpasst. Das ging so schnell, dass der andere gar nicht mehr reagieren konnte. Wäre Paul dann nicht dazwischengegangen, hätte sich aus dem Disput im Handumdrehen eine üble Kneipenschlägerei ergeben. Die übrigen Sozis waren bereits aufgesprungen, um Hauser beizustehen, bevor ihn Georg so richtig vermöbeln konnte.

„Wenn du noch mal dein Maul aufreißt, brech’ ich dir alle Knochen”, hatte Georg mit hochrotem Gesicht getobt, während ihn Paul und der Schäfer-Karl aus der Schankstube zerrten. Es fiel ihnen nicht leicht, denn Georg war ein kräftiger junger Mann mit breiten Schultern und Händen wie Bratpfannen.

„Ich lass mir wenigstens nicht vom Lehrer das Mädchen ausspannen.” Hauser hatte sich wieder aufgerappelt und die blutige Nase gerieben. „Dafür hast du noch was gut bei mir, Benzing!”, hatte er Georg nachgerufen.

Dieses Großmaul! Würden sie sich das nächste Mal über den Weg laufen, wäre der Hauser fällig.

Paul und Georg traten nach draußen. Die Morgenluft war frisch. Die Sedanstraße lag am nördlichen Ortsrand unweit der Schwenninger Müllkippe. Seit zwei Jahren lebte Georg mit der Familie Link unter einem Dach. In dieser Zeit war Paul Link sein bester Freund geworden. Der Uhrmacher hatte sich das windschiefe Häuschen am nördlichen Stadtrand gekauft, nachdem er einiges an Geld vom Vater geerbt hatte. Außerdem verdiente er bei Bürk ganz ordentlich.

Die Freunde schritten weit aus, während allmählich die Sonne ihre ersten Strahlen an den Himmel über Schwenningen warf. Georg verzehrte unterwegs den Käse, den er eingesteckt hatte. An dem trockenen Brot biss er sich beinahe die Zähne aus. Paul grinste. In den Straßen herrschte bereits reger Betrieb; der tägliche Ansturm auf die Fabriktore hatte begonnen. Georg fing Pauls Blick auf.

„Grins’ mich nicht so an, Paul.”

„Ich kann doch grinsen, wie ich will.”

„Du machst dich auch über mich lustig, wie?”

Paul deutete ein Kopfschütteln an. Er zuckte mit den Schultern, blieb Georg aber eine Antwort schuldig.

„Diesen Hauser hätt’ ich richtig fertig machen sollen”, grollte Georg.

„Weil er Jockeli zu dir gesagt hat?”

„Quatsch. Du weißt ganz genau, warum.”

Eine Zeit lang marschierten sie schweigend weiter. Über den Sturmbühl erreichten sie den Marktplatz. Am Rathaus wartete Karl schon auf sie.

„Morgen, Schäfer!”, rief Paul und winkte.

„Gott zum Gruße, Herr Oberuhrmacher Link!”, grinste Karl und deutete eine höfisch anmutende Verbeugung an. In Anbetracht seiner Leibesfülle wirkte das ziemlich komisch. Georg musste lachen, obwohl ihm eigentlich nicht danach war. Karl arbeitete neben ihm in der Fertigung.

„Ah, der Herr Preisboxer kann schon wieder lachen. Gut so!”, höhnte Karl weiter und ließ seine Pratze auf Georgs Schulter niedersausen. „Du, der Hauser hat deine rechte Gerade gar nicht kommen sehen.”

„Der hätt’ von mir noch mehr haben können”, grummelte Georg.

„Die gibst du ihm eben das nächste Mal mit. Und jetzt beeilt euch, Kollegen”, trieb Paul die Freunde zur Eile an. Sie bogen in die Bürkstraße ein und hielten auf den roten Backsteinbau zu, über dem ein hoher Fabrikkamin aufragte.

„Eigentlich hat ja nicht der Hauser die Schläge verdient”, raunte Schäfer Paul zu, als sie sich in die Schlange von Arbeitern einreihten, die allmählich von der Fabrik verschluckt wurde.

„Na, wo die Liebe hinfällt! Aber da magst du Recht haben. Verdient hätte die Schläge wohl der Lehrer”, gab Paul mit leiser Stimme zurück, damit Georg, der hinter den beiden wartete, sie nicht hören konnte. „Aber den Rapp-Christian siehst du halt nie im Gasthaus. Da kannst du ihn eben auch nicht verhauen. Der Herr ist halt was Besseres als unsereiner.”

Karl verzog das Gesicht. „Das sieht die Katharina auch so! Armer Georg.”

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