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KAPITEL 4 - VIVODAN

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SARAJEWO, 28. Juni 1914, 10.41 Uhr. Vor einer Stunde hatte er noch nicht im Entferntesten geahnt, was heute auf ihn zukommen würde. In Kolonne waren sie zum Bahnhof gefahren, um dort die hohen Gäste abzuholen. Franz Ferdinand hatte beim Einsteigen noch gescherzt: „Bringen Sie uns gut durch die Stadt. Und fahren Sie vorsichtig!” – „Selbstverständlich, Eure Kaiserliche Hoheit”, hatte Leopold geantwortet und sich brav verbeugt, als er dem Monarchenpaar den Schlag öffnete.

Franz Ferdinand trug die Uniform eines Kavalleriegenerals, seine Gattin ein weit ausladendes weißes Seidenkleid mit roter Schärpe. Leopold hatte sich noch gewundert, wie wenig Sicherheitskräfte man für den hohen Staatsbesuch aufgeboten hatte. Am Bahnhof hatte er nur etwa 40 Polizisten gezählt. Viel zu wenige, um die Fahrtroute durch die Stadt effektiv zu sichern. Und die erzherzogliche Leibwache war am Bahnhof zurückgeblieben.

Nun wartete der Chauffeur im Wagen mit dem herabgelassenen Verdeck, während die Mitglieder der erzherzoglichen Delegation im Rathaus berieten. Allmählich begann er, sich vom Schrecken des Attentats zu erholen. Drinnen war es angenehm kühl, was den hohen Besuchern sehr zupass kam. Nur Franz Ferdinand offenbarte hier drinnen sein hitziges Gemüt. „Ich komme hier als euer Gast, und ihr begrüßt mich mit Bomben!”, fuhr er den Bürgermeister an.

Der Schrecken saß ihnen allen noch in den Gliedern. Die Explosion hatte zwei Offiziere der Eskorte und sechs Schaulustige verletzt. Nun wollte der Erzherzog seine Männer im Garnisonskrankenhaus am Westrand der Stadt besuchen, wohin sie gebracht worden waren. Franz Ferdinand dachte gar nicht daran, die Parade durch Sarajewo abzubrechen. Ursprünglich hatten sie nur ein Stück weit entlang des Appelkais zurückfahren und dann bei der Franz-Josef-Straße nach rechts in die Innenstadt abbiegen wollen. Nun, beschloss man, sollte der Autokonvoi mit dem Thronfolger auf dem übersichtlicheren Appelkai bleiben. Truppen in die Stadt zu beordern, um die Straßen zu räumen und zu si-chern, wäre wohl nicht nötig.

Was sollte schon geschehen? Der junge Attentäter war schließlich nicht weit gekommen. Sie hatten ihn schließlich aus der Miljacka gefischt und festgenommen, konstatierte der ehrgeizige Feldzeugmeister und k.u.k.-Statthalter Bosnien-Herzegowinas Oskar Potiorek zufrieden. Das Wasser war an der Stelle, wo der Junge von der Kaimauer gesprungen war, sehr flach gewesen, und seine Verfolger hatten ihn deshalb schnell erwischt. Es hieß, er habe eine Giftkapsel geschluckt, doch habe deren Inhalt nicht gewirkt, und er sei noch am Leben.

Der Thronfolger schüttelte den Kopf. „Das muss ich dem alten Conrad lassen: Er hat wirklich Recht gehabt!”, sagte er zu Sophie. „Das ist ja wirklich hübsch: Da kommt man zu Besuch in diese Stadt und wird mit Bomben empfangen. Eine feine Art ist das!” Franz Ferdinand schüttelte in stiller Zwiesprache mit sich selber den Kopf. Er wandte sich Potiorek zu und stichelte: „Wie sieht es aus? Werden wir heute noch ein paar Kugerl bekommen, General? Was meint ihr?”

„Nicht doch, Eure Kaiserliche Hoheit!” Der ehrgeizige Statthalter erschrak. Er begann zu fürchten, dass ihn der künftige Regent für das Geschehene verantwortlich machen könnte. „Wir haben die Lage völlig unter Kontrolle, seid dessen gewiss!”, beeilte er sich unterwürfig zu versichern.

Der Österreicher legte die Stirn in Falten. „Wäre auch besser für alle”, meinte er. „Für Euch vor allem.” Obwohl er ziemlich wütend schien, ließ er sich von Potiorek in der Folge überzeugen, dass heute keine weiteren Zwischenfälle mehr zu befürchten seien. „Der Kerl war ja wohl ein Verrückter”, schimpfte Potiorek über den jungen Attentäter.

Der Erzherzog widersprach ihm nicht. Seine Frau wollte Franz Ferdinand allerdings in Sicherheit wissen. „Ich will dir nicht noch mehr zumuten, Sopherl”, sagte er und wandte sich an Oskar Potiorek. „Ich wünsche, dass man meine Gattin nach Ilidza bringt, während ich meine verletzten Landsleute im Spital besuche.”

Potiorek nickte ergeben. „Sehr wohl, Kaiserliche Hoheit!”

„Auf keinen Fall! Das ist doch nicht nötig”, entgegnete Sophie energisch. „Ich will bei dir bleiben, Franzl. Du hast selbst gesagt, dass es noch einmal gut gegangen ist! Was soll mir schon zustoßen?” Potiorek war klar, warum sie insistierte: Als böhmische Gräfin galt sie nach den Regeln des Hauses Habsburg als nicht standesgemäß. In Wien durfte sie daher bei offiziellen Anlässen nie an der Seite ihres Mannes auftreten – so geboten es die Regeln des Erzhauses. Doch hier, in Sarajewo, spielte das Protokoll nicht dieselbe Rolle wie in der österreichischen Hauptstadt. Hier konnte sie an Empfängen teilnehmen und im selben Wagen wie der Erzherzog fahren. Und das, so schien es Potiorek, genoss sie. Das wollte sich Sophie jetzt nicht nehmen lassen.

Die anschließende Debatte fiel kurz aus. Die Erzherzogin setzte sich durch. Es ist wie bei allen anderen Paaren, dachte Potiorek. Er trat als Erster aus dem Rathaus auf die Straße. Ihm folgten Sophie und Franz Ferdinand, dessen Helm mit dem riesigen Federbusch in der Sonne glänzte. Mit einem großen weißen Stofftaschentuch wischte Potiorek Schweißtropfen von der Stirn. Er atmete tief durch. Das war knapp gewesen vorher. Wäre Harrachs Fahrer nicht gewesen – dieser Attentäter hätte ganz sicher seine Karriere zerstört.

Diesem Teufelskerl von Fahrer hatte es der Statthalter zu verdanken, dass er nun doch noch an der Seite des Thronfolgers und seiner Gattin würde glänzen können. Ebendies hatte er geplant, und nun war es, dem Fahrer sei Dank, noch besser gekommen: Der Besuch des Thronfolgerpaares in Sarajewo würde in die Geschichte eingehen: Ein feiger Anschlag war gescheitert, und er, Potiorek, hatte dem künftigen Regenten in dieser kritischen Situation treu zur Seite gestanden. Er hatte sich als ein Gouverneur erwiesen, der die Dinge unter Kontrolle behielt, auch wenn sie sich verkomplizierten. Franz Ferdinand würde das auch noch erkennen, und darauf kam es für den Statthalter an.

Er fühlte sich unendlich erleichtert. Denn mit dem Bombenwurf war Potiorek schlagartig klar geworden, dass er überreizt hatte. Auf seine Veranlassung hin hatte die Polizei nur geringe Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Der künftige Regent sollte sich volksnah zeigen können. Da störten zu viele Uniformierte nur. Und er, Potiorek, war es auch gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass die Zeitungen die Fahrtroute und den Zeitplan des Thronfolgerpaares groß gebracht hatten – die Massen sollten die Straßen säumen und den Staatsgästen zujubeln. Die Welt sollte sehen, wie sehr Bosnien seinen künftigen Regenten verehrte!

Dieser 28. Juni 1914 war aus Potioreks Sicht nachgerade ideal, um eine solche enge Verbindung zwischen Volk und Gebieter zu inszenieren. Er hatte diesen Tag daher ganz bewusst vorgeschlagen, den Sankt-Veits-Tag, der den bosnischen Serben heilig war. Vor über 500 Jahren hatten sich ihre Vorfahren auf dem Amselfeld den Türken entgegengestellt und waren besiegt worden. Potiorek kannte kein anderes Volk, das historischen Niederlagen auch noch zu feiern pflegte. Das sollte einer verstehen! Aber egal: Am Vidovdan gingen die Leute hier erfahrungsgemäß auf die Straße und bildeten, ideal für Potioreks Zwecke, eine schöne Kulisse für den Staatsbesuch. Dass serbische Ultranationalisten in der Ankunft des habsburgischen Thronerben ausgerechnet an diesem Tag einen symbolischen Affront erkennen würden, realisierte er nicht. Er verstand dieses Volk nicht, und es war ihm auch egal, wie die Menschen hier fühlten und dachten. Sarajewo – das war nur eine weitere Sprosse auf seiner Karriereleiter.

Leopold sprang aus dem Wagen und beeilte sich, seinen hohen Fahrgästen die Türen zu öffnen. „Das Verdeck bleibt offen”, kommandierte Potiorek. „Der Erzherzog wünscht es so!”

Nachdem die hohen Gäste im Fond Platz genommen hatten, schloss der Fahrer hinter Potiorek die Wagentür, stieg selber auf der rechten Seite ein und startete den Motor. Er fühlte große Erleichterung. Den Fahrern des Trosses zu erklären, dass man soeben die Fahrtroute geändert hatte, kam ihm in diesem Augenblick jedoch nicht in den Sinn. Der Gouverneur schnaufte tief durch und ließ sich in die gepolsterte Sitzbank sinken. Die Menschen in diesem Abschnitt der Uferstraße hatten von dem gescheiterten Anschlag vorher ganz offensichtlich nichts mitbekommen.

Sollten sie nur unbeschwert jubeln ...

Graf Harrach sprang auf das Trittbrett des Gräf & Stift, um dem hohen Paar während der Fahrt durch die Straßen näher zu sein und es bei Bedarf besser schützen zu können als zuvor. Leopold steuerte die Karosse hinter zwei Begleitfahrzeugen, in denen Geheimpolizisten saßen, über den Appelkai, drei weitere Wagen folgten mit wenig Abstand, während die hohen Herrschaften mit dem Statthalter plauderten.

Sie rollten entlang der Miljacka, und am gegenüberliegenden Ufer sah Leopold schon den Konak liegen, Oskar Potioreks Amtssitz. Die beiden Wagen vor ihm bogen ab, als die Franz-Joseph-Straße abzweigte, anstatt wie vorher im Rathaus vereinbart, einfach geradeaus weiterzufahren. Niemand hatte Leopold gesagt, dass es zum Spital gehen sollte. Er schlug daher das Lenkrad ebenfalls ein und dirigierte den schweren, offenen Wagen wie vorgesehen Richtung Innenstadt, um den vor ihm fahrenden Automobilen zu folgen. Potiorek schreckte auf.

„Halt, Sie fahren ja falsch! Wir wollen über den Appelkai!”, rief er. Leopold bremste. Der Wagen kam vor einem Feinkostgeschäft an der Straßenecke bei der Lateinerbrücke zum Stehen. Der Gouverneur sah die Zweifel im Blick des Fahrers: „Mann, wir haben vorher im Rathaus beschlossen, den Appelkai weiterzufahren”, erklärte er hektisch. „Wegen des Attentats zuvor ... wir wollen zum Hospital.” Leopold nickte und legte den Rückwärtsgang ein. Das Getriebe knirschte.

In diesem Augenblick löste sich ein Mann aus der Menschenmenge entlang der Fahrbahn. Weit und breit war kein Polizist, der ihn hätte aufhalten können. Gavrilo Princip machte zwei schnelle Schritte auf den offenen Wagen des österreichischen Thronfolgers zu, zog die schwere Pistole aus dem Hosenbund und drückte ohne Zögern zweimal ab. Die erste Kugel durchbohrte die Wagentür und traf Sophie in die Seite. Die zweite zerfetzte Franz Ferdinands Halsschlagader.

Der Knall der Schüsse zerriss beinahe Leopolds Trommelfell. In Panik riss er das Steuer herum, trat das Gaspedal durch und raste über den Appelkai davon. Das Thronfolgerpaar war im Fond des Wagens zusammengesunken. Bewegung kam in die Menschenmenge. Passanten stürzten sich auf den Schützen und überwältigten ihn. Die Hölle brach los.

Franz Ferdinands hellblauer Uniformrock war blutüberströmt, und seine Augen waren weit aufgerissen. Sophie verblutete neben ihm. „Oh Gott! Um Gottes willen! – Der Erzherzog stirbt, und seine Frau auch!”, kreischte Potiorek voller Entsetzen. Er war in Panik. Seine Finger krallten sich in das Lederpolster der Rückenlehne, während er ungläubig auf die Sterbenden im Fond der Limousine starrte. Leopold umklammerte das Steuer des Wagens so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er holte alles aus dem Motor raus. Vergeblich. Das Unglück nahm seinen Lauf.

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