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KAPITEL 3 - DER ERZENGEL GABRIEL

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SARAJEWO, 28. Juni 1914, 9.31 Uhr. „Ich schwöre bei der Sonne, die mich erwärmt, bei der Erde, die mich ernährt, vor Gott, beim Blut meiner Väter, bei meiner Ehre und bei meinem Leben ...” – Gavrilo murmelte die Eidesformel der Schwarzen Hand leise vor sich hin. Er hoffte, sich dadurch zu beruhigen. Sein Herz pochte laut, so laut, dass er fürchtete, die Umstehenden würden es hören. Sie mussten es einfach hören. Dem schmächtigen jungen Mann rann der Schweiß in dünnen Rinnsalen über die Stirn. Mit der Rechten tastete er nach dem Griff der schweren Browning, die in seinem Hosenbund steckte.

Seine Fingerkuppen glitten unter den Schößen seiner Jacke über das Fischgrätenmuster der Griffschalen. Er spürte das kühle Metall des Gehäuses. Gavrilo nahm die Hand langsam wieder von der Waffe und ließ sie in die Hosentasche gleiten. Er förderte ein Taschentuch zutage und wischte sich damit die Stirn. Er hustete in das Tuch und wischte sich dann damit über den Mund. Verdammte Tuberkulose. Heiß stand die Sonne am Himmel über Sarajewo.

„Ich schwöre vor Gott, bei meiner Ehre und bei meinem Leben, dass ich alle Geheimnisse dieser Organisation mit ins Grab nehmen werde ...”

Die Worte ließen die Zweifel in seinem Herzen verstummen. Auch wenn es Bogdan Zerajic vor vier Jahren nicht gelungen war, Kaiser Franz Joseph bei dessen Visite in Sarajewo zu töten, war er ihr Held. Immer wieder waren sie zu seinem Grab gepilgert. Nedelko oder er selber – sie würden es heute zu Ende bringen und Bogdan rächen. Gavrilo – Gabriel, der Erzengel, der Rache übt.

Sie würden Helden sein in ihrem Land, das die verhassten Österreicher besetzt hatten. Helden wie Bogdan, der sich in Todesverachtung nach dem missglückten Attentat eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Und auch sie waren bereit für den Tod.

Gavrilos Blick wanderte über die Franz-Joseph-Straße auf die andere Straßenseite zu Danilo. Der trug einen ausgebeulten Leinenanzug, seine Wangen waren ebenso eingefallen wie die Gavrilos. Ihre Blicke trafen sich. Danilo verzog keine Miene und wandte sich ab. Trifun, der neben ihm stand, blickte starr zu Boden. Gavrilo ahnte, wie angespannt auch die Freunde sein mussten. Sie würden es tun. Nur noch ein paar Minuten, und alles würde zu Ende sein. Mehrere schwere, dunkle Limousinen rollten über die Uferstraße heran. Einer vor ihnen würde gleich seine Browning auf den Thronfolger abfeuern. Franz Ferdinand würde heute sterben.

Leopold Loika hörte nur den Knall der Zündkapsel. Er realisierte blitzschnell: Der junge Bosnier am Straßenrand hatte den Zündstift der Granate an einem Laternenmast abgeschlagen, um sie für den Wurf scharf zu machen. Gleich würde der Sprengsatz im Fond des Gräf & Stift landen. Leopold reagierte instinktiv. Er drückte das Gaspedal mit aller Kraft durch. Der Motor jaulte auf, und der schwere Wagen machte einen Satz nach vorne. Der Sprengkörper wirbelte durch die Luft, aber er verfehlte das Automobil, in dem der Erzherzog saß, und detonierte unter dem nachfolgenden Fahrzeug. Ein gewaltiger Knall ertönte. Nägel und kleingehacktes Blei wirbelten durch die Luft.

Leopold bremste den Wagen ab und wandte den Kopf nach hinten. Der Thronfolger war kreidebleich. Im Augenwinkel erkannte er den Attentäter, einen schmächtigen Burschen. Leopold ließ ihn nicht aus den Augen – der Junge zog im Laufen etwas aus der Tasche, eine kleine Phiole offenbar, und steckte sie in den Mund. Offenbar schluckte er das Gefäß oder dessen Inhalt, so genau konnte das Leopold nicht erkennen. Der junge Mann gab Fersengeld. Ein kräftiger Verfolger im schwarzen Anzug setzte dem schmächtigen Jungen nach, war aber nicht schnell genug. Der Attentäter erreichte die Kaimauer und sprang in den Fluss. Der Verfolger setzte ihm nach, ebenso ein uniformierter Polizist.

Erzherzogin Sophie zitterte. Die Mundwinkel ihres Gemahls zuckten. Er drückte seine Frau fest an sich. Als ihnen Leopold den Kopf zuwandte, hatte sich der Thronfolger jedoch schon wieder gefasst. Er beugte sich nach vorne und legte ganz kurz die Hand auf die Schulter des Fahrers. „Sie haben uns gerettet. Gut gemacht, Fahrer.”

Loika wurde erst jetzt bewusst, wie knapp sie an einer Katastrophe vorbeigeschrammt waren. Er spürte erst jetzt, wie er am ganzen Leib zitterte.

Ein Glück, dass Franz Graf Harrach ausgerechnet ihn abgestellt hatte, um den nächsten Kaiser Österreich-Ungarns durch diese Stadt zu kutschieren. Kein anderer beherrschte diesen Wagen so gut wie er. Es war ein Mordanschlag gewesen. Als es Leopold allmählich gelang, seine wirren Gedanken zu ordnen, wurde ihm klar, dass er beinahe mit dran geglaubt hätte. Die Granate hätte ohne Frage auch ihn in Stücke gerissen. „Verdammtes Serbenpack”, grummelte er finster in seinen Bart.

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