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KAPITEL 12 - ENGLÄNDER UND WÜRTTEMBERGER

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SCHWENNINGEN, 29. Juli 1914, 20.10 Uhr. Kaiser Wilhelm II. war gut erholt und ebenso gut gelaunt von seiner Nordlandreise nach Berlin zurückgekehrt. Er hatte vorgeschlagen, Österreich solle Belgrad kurzerhand als „Faustpfand” besetzen, um seine im Ultimatum gestellten Forderungen durchzusetzen. Ein Krieg sei wohl nicht mehr nötig. Als der Monarch schließlich das ganze Ausmaß der Gefahr erkannte, war es tatsächlich schon zu spät. Schon tags darauf hatte k.u.k.-Außenminister Graf Berchthold Serbien den Krieg erklärt.

Wie würde es nun weitergehen?

Stadtschultheiß Dr. Braunagel und der zweite Mann im Schwenninger Rathaus, Ratsschreiber Kohler, hatten sich vorgenommen, den Schock darüber mit einer Flasche Wein im „Kronprinzen” zu betäuben. Hier pflegten die beiden Männer, die gut miteinander auskamen und sich gegenseitig hoch schätzten, des öfteren einzukehren.

Mit ihnen zu Tisch saß ein kräftiger Mann Anfang fünfzig, der beim Wirt einen ganz erlesenen Württemberger Wein orderte. Jakob Kienzle hatte sein Unternehmen zu einem der wichtigsten Uhrenhersteller im Land gemacht; er hatte außerdem ein Werk in Böhmen und Filialen in Mailand und Paris eröffnet. Als Erster hatte Kienzle Dampfmaschinen in der Produktion eingesetzt und begonnen, Uhren in Serie zu fertigen. Er war einer der reichsten Männer Schwenningens, was das Geld betraf ebenso wie den politischen Einfluss. Für ihn arbeiteten mittlerweile fast eintausendfünfhundert Menschen.

Hotelier Franz Schäfer ließ es sich nicht nehmen, diese wichtigen Herrschaften persönlich zu bedienen. Als er ihnen aus der wohltemperierten Flasche eingeschenkt und sie am Tisch wieder alleine gelassen hatte, seufzte Kienzle.

„Dass die Österreicher nach dem Attentat etwas gegen Serbien unternehmen würden, habe ich mir schon gedacht. Aber ich habe zunächst den offiziellen Versicherungen vertraut, dass kein Eingriff in serbische Hoheitsrechte geplant sei ...”

„Die Russen werden mobil machen”, unterbrach ihn Emil Braunagel. „Vielleicht tun sie’s schon zur Stunde. Das scheint mir so sicher wie das Amen in der Kirche.”

„In diesem Fall dauert es bei uns auch nicht mehr lange, lieber Braunagel”, meinte Kienzle. „Dann kommen schwere Zeiten auf uns zu. Aufs Deutsche Reich und auch auf unser Schwenningen. Von Moltke und Falkenhayn werden garantiert keine Zeit verlieren wollen.”

Braunagel hob sein Glas: „Aufs Wohl unseres Kaisers, Herr Kommerzienrat. Prost, Johannes!” Kienzle und Kaiser prosteten sich zu und tranken in kleinen Schlucken.

„Ein wirklich feiner Tropfen”, lobte Johannes Kohler und schnalzte mit der Zunge, „ein guter Schluck Heimat”.

„Ja, der 1910er-Schwarzriesling. Es gibt keinen Besseren.” Kienzle hob sein Glas und betrachtete es von unten gegen das Licht der Deckenlampe mit Kennerblick.

„Wir haben auch keine Zeit zu verlieren, wenn wir den Schlieffen-Plan mit Erfolg umsetzen wollen”, wandte sich Emil Braunagel wieder der Politik zu und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er musterte den einflussreichen Fabrikanten über den Hals der geöffneten Flasche hinweg, die zwischen ihnen auf dem weißen Tischtuch stand. „Solange die Russen noch mobil machen, müssen wir den Franzmann schlagen. Es muss halt schnell gehen. Dann kann der Kaiser unsere Truppen nach Osten schicken und mit den Russen aufräumen.”

„Wenn das nur mal so einfach wird”, wandte Kohler ein.

„Das sollte schon klappen. Schließlich hat sich unsere Generalität jahrelang den Kopf darüber zerbrochen, wie wir den nächsten Sieg erringen”, entgegnete der Schultheiß. „Wir überrennen Belgien, umgehen die Flanke der französischen Armee und fallen ihr in den Rücken. Das war es.”

„So einfach wird das nicht. Da bin ich ganz bei unserem lieben Kohler!” Jakob Kienzle zupfte mit den Fingern an seinem grauen Kinnbart. Seine kaufmännische Lehre hatte er in einer Kolonialwarenhandlung gemacht, wo Importware aus Übersee, vor allem Kaffee, Kakao, Zucker, Gewürze und Tee, umgeschlagen worden war. „Mein Freund, ich bin schon einiges in der Welt herumgekommen”, sagte er. „Und ich kenne die Briten ganz gut. Ich sage Ihnen: Unsere Herren Generäle machen ihre Rechnung ohne die Engländer.”

„Was gehen uns die Engländer an?”, wollte Braunagel wissen. Trotz schwang in seiner Stimme mit. „Die sitzen auf ihrer Insel und leben ganz hervorragend von ihren Kolonien. Warum sollten sich die gegen das Deutsche Reich engagieren?”

„Sie fürchten uns. Sie fürchten, Deutschland strebe danach, ganz Europa zu beherrschen. In den letzten zwanzig Jahren ist unser Außenhandel wesentlich stärker gewachsen als der ihre. Das ist ihnen nicht entgangen. Sie fürchten um das Gleichgewicht der Kräfte.”

„Na ja”, meinte Johannes Kohler und nippte an seinem Wein, „man muss ja nur mal die kaiserliche Flotte anschauen. Wäre ich ein Engländer, würde ich mir ihr Wachstum auch nicht so ruhig ansehen.”

Wilhelm II. hatte seit Beginn des Jahrhunderts eine Flotte bauen lassen, die im Kriegsfall die Handels- und Überseeverbindungen vor Unterbrechungen schützen sollte. Der Flottenbau sollte das Reich befähigen, im Rennen der modernen Staaten um Märkte und Einfluss in der Welt Schritt zu halten. Nachdem Großbritannien, Russland, die Vereinigten Staaten und Japan ihre Flotten bereits Jahrzehnte zuvor hochgerüstet hatten, hatten auch die Deutschen Ende des letzten Jahrhunderts damit begonnen.

„Ich sehe die Angelegenheit eher wie unser Admiral von Tirpitz”, wandte Emil Braunagel ein. „England, Frankreich und die Russen sind allesamt Kolonialrivalen. Die Briten werden eher mit uns als mit den anderen ein Bündnis eingehen.”

„Der Admiral irrt, lieber Braunagel. Und Sie auch.” Kienzle strich mit dem Daumen nachdenklich über die Tischdecke, als wolle er zwei kleine Flecken, die der Württemberger Schwarzriesling im Tuch hinterlassen hatte, einfach wegwischen. „Der Engländer hat den Franzosen schon in den Marokko-Krisen gegen uns unterstützt. Und sie werden es wieder tun. England will Frankreich auf dem Kontinent als Gegenkraft zu uns Deutschen sehen.”

„Tirpitz setzt auf Abschreckung”, schaltete sich Kohler ein. „Dieses Prinzip kann funktionieren. Oder auch nicht.”

„Oder auch nicht”, echote Kienzle.

Braunagel wollte nicht nachgeben: „Die Engländer mag ich nicht so recht fürchten. Asquith und Grey sind Zauderer, lieber Herr Kommerzienrat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einen kontinentalen Konflikt als den ihren betrachten. Und überhaupt: Lloyd George und Winston Churchill machen dem guten Asquith und seinen Liberalen schon genug zu schaffen. Er wird sich erst einmal in der Innenpolitik durchsetzen müssen.”

„Darf es noch etwas sein, Herr Kommerzienrat, meine Herren?” Hotelier Schäfer unterbrach die Unterhaltung. Jakob Kienzle nickte ihm zu. „Bringen Sie uns noch eine Flasche, Franz.”

Schäfer lächelte servil. „Wieder den Württemberger, Herr Kommerzienrat?”

„Warum nicht?”

„Ich habe auch noch einen Forster Ungeheuer vom Weingut Buhl. Ein Pfälzer, ganz hervorragend.”

„Soll mir recht sein. Wissen Sie was? – Bringen Sie uns einfach den allerbesten Wein, den Sie im Keller haben, Franz. Ich will heute Abend noch einmal mit meinen Freunden einen guten Tropfen trinken. Wer weiß schon, wie lange wir das noch in Frieden tun können.”

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