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b) „Unwahre“ Verfahrensrüge
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Probleme ergeben sich dann, wenn der mit der Revisionsbegründung beauftragte Verteidiger auch Verteidiger vor dem Tatgericht war und unter Zugrundelegung des Protokolls eine Verfahrensrüge erheben will, von der er positiv weiß, dass sie „unwahr“ ist. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn im Protokoll die Gewährung des letzten Wortes an den Angeklagten nicht festgehalten ist, dieser jedoch tatsächlich das letzte Wort hatte.
In diesen Fällen stellt sich das Problem der Erhebung einer unwahren Verfahrensrüge.
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Trägt der Beschwerdeführer wissentlich objektiv falsche und durch das Hauptverhandlungsprotokoll nicht belegte Tatsachen vor, ist die Verfahrensrüge unzulässig, weil aufgrund des unzutreffenden Sachvortrags dem Revisionsgericht keine ausreichende Grundlage für die Prüfung der Verfahrensrüge unterbreitet wurde.[21]
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Nach der verfassungsrechtlich unbeanstandeten[22] Entscheidung des Großen Senats des BGH vom 23.4.2007[23] besteht in Fällen vermeintlich unwahrer Verfahrensrügen die Möglichkeit der Protokollberichtigung.
Eine Protokollberichtigung mit der Folge einer „Rügeverkümmerung“ ist nicht möglich, wenn in der Hauptverhandlung Feststellungen über die Kenntnisnahme vom Wortlaut der Urkunden im Selbstleseverfahren unterblieben sind. Denn das Protokoll ist inhaltlich richtig, weil der zu protokollierende Verfahrensvorgang der Feststellung der Kenntnisnahme in der Hauptverhandlung tatsächlich nicht stattgefunden hat.[24] Erachtet der Vorsitzende nach Eingang der Revisionsbegründung mit der vermeintlich unwahren Verfahrensrüge das Protokoll für falsch, kann er das Protokollberichtigungsverfahren einleiten.
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Dies bedeutet zunächst, dass die beiden Urkundspersonen, also der Vorsitzende und der Protokollführer, sich übereinstimmend an den tatsächlichen Verlauf des Geschehens in der Hauptverhandlung erinnern und das im Protokoll festgehaltene Geschehen für unrichtig halten. Dies ist in dienstlichen Erklärungen beider Urkundspersonen mit einer tragfähigen Begründung, etwa indem auf markante Besonderheiten des Geschehens eingegangen wird, dem Revisionsführer mitzuteilen. Gegebenenfalls sind auch schriftliche Aufzeichnungen, z.B. die handschriftliche Mitschrift des Protokollführers, in der das Geschehen abweichend von der Leseabschrift niedergelegt ist, beizufügen.
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Der Beschwerdeführer hat sodann die Möglichkeit, zur beabsichtigten Protokollberichtigung substantiiert Stellung zu nehmen. Gegebenenfalls kann er darlegen, dass nach seiner Auffassung das ursprüngliche Protokoll den tatsächlichen Geschehensablauf korrekt wiedergegeben habe. Dazu kann es wiederum erforderlich sein, dass der Verteidiger seine Mitschrift aus der Hauptverhandlung, in der er den Verfahrensfehler, z.B. das Unterlassen der Gewährung des letzten Wortes, mit einem großen „R“ am Rand vermerkt hat, vorlegt. Hat der Verteidiger, was grundsätzlich empfehlenswert ist, nach Bemerken des Verfahrensfehlers sofort eine schriftliche Stellungnahme seines Mandanten, eines Referendars oder auch von Zuhörern eingeholt, sind diese ebenfalls vorzulegen.
Hat der Verteidiger der Protokollberichtigung substantiiert widersprochen, sind gegebenenfalls weitere dienstliche Erklärungen einzuholen, z.B. von Staatsanwalt, Berichterstatter und gegebenenfalls von Schöffen.
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Wenn nach der Einholung aller Stellungnahmen die Urkundspersonen, also Vorsitzender und Protokollführer, das Hauptverhandlungsprotokoll nach wie vor für unrichtig halten, so können sie das Protokoll berichtigen. Die Entscheidung ist mit Gründen zu versehen. Darin sind die Tatsachen anzugeben, welche die Erinnerung der Urkundspersonen belegen. Auf die entgegenstehenden Stellungnahmen des Verteidigers ist einzugehen. Um wirksam zu sein, muss der Beschluss sowohl vom Gerichtsvorsitzenden als auch vom Protokollführer unterschrieben werden; das Vorliegen übereinstimmender dienstlicher Erklärungen der beiden Urkundspersonen reicht für eine Berichtigung nicht aus.[25]
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Eine Protokollberichtigung ist für das Revisionsgericht jedoch nur dann beachtlich, wenn die vom Großen Senat für das Berichtigungsverfahren aufgestellten Grundsätze beachtet wurden.[26] Eine Unbeachtlichkeit liegt u.a. dann vor, wenn die vorgeschriebene Anhörung des Beschwerdeführers unterblieben ist[27] oder keine eindeutig übereinstimmenden Erklärungen der Urkundspersonen zur Berichtigung vorliegen[28]. Die Beweiskraft des Protokolls entfällt auch ohne Protokollberichtigung, wenn sich eine Urkundsperson nachträglich vom Protokollinhalt distanziert und sich dies zugunsten des Angeklagten auswirkt.[29] Dafür ist es nicht erforderlich, dass die Urkundsperson das Protokoll ausdrücklich als unrichtig bezeichnet, es reicht vielmehr aus, wenn sich aus ihrer Erklärung ergibt, dass sie von dem protokollierten Inhalt nicht mehr überzeugt ist.[30]
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Ist ein Protokollvermerk nicht eindeutig und auslegungsfähig, kommt eine Klärung im Freibeweisverfahren durch das Revisionsgericht nicht (mehr) in Betracht. Dem Revisionsgericht ist es grundsätzlich verwehrt, den tatrichterlichen Verfahrensablauf anhand dienstlicher Erklärungen im Wege des Freibeweises darauf zu überprüfen, ob die für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten beachtet worden sind. Wegen der Möglichkeit, auch noch nach Erhebung einer ordnungsgemäßen Verfahrensrüge das Protokoll zu berichtigen, selbst wenn dieser dadurch der Boden entzogen wird, besteht grundsätzlich kein Raum mehr dafür, zum Nachteil des Angeklagten freibeweislich über die Beachtung der wesentlichen Förmlichkeiten zu befinden.[31]
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Nicht endgültig geklärt ist die Frage der Zulässigkeit eines wiederholten Protokollberichtigungsverfahrens. Dies sind die Fälle, in denen das Revisionsgericht wegen eines unwirksamen Berichtigungsbeschlusses oder wegen Fehlens eines Berichtigungsbeschlusses bei bloßer Vorlage dienstlicher Erklärungen die Akten an das Landgericht zurückgibt zum Zweck der erneuten Einleitung eines Protokollberichtigungsverfahrens. Nach der wohl überwiegenden Auffassung verstößt ein solches Verfahren gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens.[32]
Ein wiederholtes oder nachgeholtes Protokollberichtigungsverfahren auf Veranlassung des Revisionsgerichts erscheint bedenklich. Wird eine nach Auffassung des Tatrichters unwahre Verfahrensrüge erhoben, besteht die Möglichkeit der Protokollberichtigung. Wird diese unterlassen, so ist dieses Versäumnis der Justiz zuzurechnen. Gleiches gilt, wenn das Berichtigungsverfahren rechtsfehlerhaft war und daher die Protokollberichtigung für das Revisionsgericht unbeachtlich ist. Wenn dem Tatrichter schon die Möglichkeit der Protokollberichtigung eingeräumt wird, so besteht keine Veranlassung, ihm durch das Revisionsgericht die Möglichkeit einzuräumen, Mängel des Berichtigungsverfahrens oder sonstige Versäumnisse zu beseitigen. In jedem Fall sollte der Verteidiger einem wiederholten Protokollberichtigungsverfahren widersprechen.
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Wenn in der Hauptverhandlung Feststellungen über die Kenntnisnahme vom Wortlaut von Urkunden im Selbstleseverfahren unterblieben sind und es an einem Protokollvermerk über die Kenntnisnahme fehlt, kommt eine Protokollberichtigung zur Nachholung der Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Urkunden nicht in Betracht.[33] Der 5. Strafsenat hält dagegen eine Protokollberichtigung dann noch für zulässig, wenn in der Hauptverhandlung tatsächlich eine Feststellung des Vorsitzenden über die Kenntnisnahme erfolgt ist, diese jedoch versehentlich nicht protokolliert wurde.[34]
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Hält der Revisionsführer an seiner Verfahrensrüge, der durch eine ordnungsgemäße Protokollberichtigung der Boden entzogen ist, fest, überprüft das Revisionsgericht die Berichtigungsentscheidung. Ist die Berichtigung rechtsfehlerfrei, so ist das berichtigte Protokoll vom Revisionsgericht zugrunde zu legen. Verbleiben dem Revisionsgericht Zweifel, ob die Berichtigung zu Recht erfolgt ist, kann es versuchen, den Sachverhalt im Freibeweisverfahren weiter aufzuklären. Wenn allerdings bereits im Protokollberichtigungsverfahren dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen von zahlreichen Verfahrensbeteiligten eingeholt worden sind, erscheint es zweifelhaft, ob ein vom Revisionsgericht zusätzlich durchgeführtes Freibeweisverfahren wesentliche neue Erkenntnisse erbringen kann. Verbleiben dem Revisionsgericht auch nach seiner Überprüfung Zweifel an der Richtigkeit des berichtigten Protokolls, hat es das Protokoll in der ursprünglichen Fassung der Prüfung der Verfahrensrüge zugrunde zu legen.
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Für den Revisionsführer ergeben sich daraus folgende Probleme.
Weiß der Verteidiger positiv, dass das Protokoll falsch ist und will er unter Zugrundelegung des Protokolls eine tatsächlich unwahre Verfahrensrüge erheben, liegt es in seinem Ermessen, ob er diese Rüge erhebt. Dem Verteidiger ist es grundsätzlich nicht verwehrt, wider besseres Wissen einen Verfahrensfehler unter Berufung auf ein unrichtiges Hauptverhandlungsprotokoll zu rügen. Zwar erfolgt diese Rüge „missbräuchlich“, ihr kann jedoch mit einer Protokollberichtigung der Boden entzogen werden. Daher ist die Erhebung der Rüge nicht nach § 258 StGB strafbewehrt.[35]
Da die Protokollberichtigung eine positive Erinnerung an das tatsächliche Geschehen der beiden Urkundsbeamten voraussetzt, kann nie mit Sicherheit vorhergesagt werden, ob sich tatsächlich beide Urkundspersonen erinnern und damit die Protokollberichtigung gelingt. Fehlt es an der Erinnerung bei einem von beiden oder stimmen die Erinnerungen nicht überein, scheidet eine Protokollberichtigung aus, so dass es bei der absoluten Beweiskraft des (falschen) Protokolls verbleibt.
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Erhebt der Verteidiger in Kenntnis der Unrichtigkeit des Protokolls die Verfahrensrüge, muss er aber in jedem Fall die Rüge zurücknehmen, wenn eine ordnungsgemäße Protokollberichtigung erfolgt ist. Denn nach der Entscheidung des 3. Senats des BGH vom 11.8.2006[36] wäre eine solche gleichwohl aufrecht erhaltene Rüge rechtsmissbräuchlich.
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War der mit der Revision beauftragte Verteidiger in der Instanz nicht tätig, stellt sich für ihn das Problem der Erhebung einer unwahren Verfahrensrüge zunächst nicht. Grundlage seiner Prüfung von Verfahrensrügen kann nur das Hauptverhandlungsprotokoll mit seiner absoluten Beweiskraft nach § 274 StPO sein. Er ist daher verpflichtet, einen sich aus dem Protokoll ergebenden Verfahrensfehler zur Grundlage einer Rüge zu machen. Selbst wenn er Zweifel an dem im Protokoll wiedergegebenen Geschehen hat, ist er nach der hier vertretenen Auffassung nicht verpflichtet, von sich aus Erkundigungen bei dem Instanzverteidiger oder dem Mandanten über den tatsächlichen Ablauf der Hauptverhandlung einzuholen. Hierzu ist er erst im Protokollberichtigungsverfahren gezwungen, wenn er zu den dienstlichen Erklärungen der beiden Urkundspersonen zu einer beabsichtigten Protokollberichtigung Stellung nehmen muss. In diesen Fällen muss er den Instanzverteidiger und gegebenenfalls den Angeklagten oder weitere bei der Verhandlung anwesende Personen bitten, ihn mit konkreten Informationen über den Verfahrensablauf auszustatten. Gegebenenfalls wird er diese zusammen mit seinem Widerspruch gegen die Protokollberichtigung vorzulegen haben.
Wird der Revisionsverteidiger nicht in die Lage versetzt, der beabsichtigten Protokollberichtigung substantiiert zu widersprechen, muss die Rüge nach Protokollberichtigung zurückgenommen werden.