Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 10
Kapitel 7
ОглавлениеDie Idee mit Biarritz stammte ursprünglich von Timo Wüstenfeld. Aus irgendeinem Grunde, der sich später im Dickicht ideengeschichtlicher Ungenauigkeiten verlor, war ihm der Ort positiv aufgefallen, insbesondere im Zusammenhang mit vereinzelten, gequälten Seelen, die sich nach Ruhe und innerer Einkehr sehnten. Das mit der Ruhe stimmte, wie sich zeigen sollte.
“Du hast mich damals ja quasi dorthin gelotst.”
“War es denn so schlimm, Oss?”
“Was hatte dich eigentlich bewogen, diesen locus vorzuschlagen?”
“Habe ich, ehrlich gesagt, vergessen.”
“Vergessen... so, ah ja.”
“Aber sagtest du nicht seinerzeit, der Aufenthalt hätte dir einiges an Einsicht gebracht?”
“Das war nicht dem Ort zuzuschreiben.”
“Sondern?”
“Erzähle ich dir ein anderes Mal.”
Oskar will darüber nicht reden. Es ist schließlich eine Art Geheim-Dossier. Eine Sache, die nur ihn etwas angeht, bis auf weiteres, bis die Zeit reif ist… Ulkig! Da macht man - die Umstände wollen es so - eine Entdeckung, findet mehr daran als nur interesseloses Wohlgefallen, weiß jedoch zunächst nicht, wozu sie gut ist, ergo hält man sie unter Verschluss, einstweilen.
Er hat den Freund zu einem Spaziergang mit an den Strand genommen. Constanze ist mit der Nachbarin nach Bordeaux gefahren, zum Schuh-Einkauf. Timo will einen Tag länger bleiben als geplant. Sie können sich also in Ruhe austauschen. Was sie tun. So wie damals, als Oskar sich für eine Weile eine eigene Wohnung nahm, weil es mit seiner Frau unter einem gemeinsamen Dach für ihn nicht mehr auszuhalten war. Er traf sich ab und an mit Timo, um sein Herz auszuschütten, nicht sein ganzes, dazu war er zu vorsichtig und auch zu gut erzogen.
Dann buchte er einen Flug, setzte sich gen Süden ab. Er floh. Die Situation in seiner Ehebeziehung war festgefahren. Im Grunde war es ihm egal, wohin die Reise ging. Er wollte auch nicht unbedingt weit weg. Er wollte nur anderswo sein. Das Ziel entsprang, angeregt durch den Freund, am Ende einer Zufallslaune. Zwischen Constanze und ihm lagen bald mehr als 1000 km Luftlinie. Aber die innere Distanz war größer.
“Du bist eben kein systematischer Mensch."
"Wer ist das schon.”
Timos Antwort tönt an den Rändern trotzig. Seine Zehen löchern den Sand, der feucht ist. Möven kreisen hoch. Die Schuhe sind im Auto. Timo wollte es so, nämlich, dass sie mit dem Auto ans Wasser fahren. Fahrräder liegen ihm nicht. Und er fährt gern offen bzw. läßt sich fahren.
Die Strecke vom Haus zum Strand ist kurz und blitzt im Morgenlicht, und so ist auch das Vergnügen daran. Timo hat keinen Führerschein. Am liebsten fliegt er. Auf Schiffen wird ihm oft übel. Oskar schaut auf die Füße des Freundes. Sie sind, wenngleich massiv, dennoch wohlgeformt.
Wie sind sie jetzt nur darauf gekommen, darüber zu reden, dass sie einmal an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet haben?
“Lassen wir das Thema,Timo.”
“Es lag auch an deinem Partner, damals. Ich konnte nicht mit ihm und er nicht mit mir.”
“Ich habe zwei Partner… Du meinst sicher Berg?”
“Den meine ich. Ein Zementkopf, stur und pedantisch. Was schätzt du eigentlich an ihm?”
“Er hat einen sauberen Geradeauslauf.”
“Nun, egal. Es ist lange her... ? Was machen übrigens die Pläne für euer Haus?”
“Sie ruhen, gut einbalsamiert.”
“Und was sagt Conny dazu?”
“Frag sie. Wir haben lange nicht darüber gesprochen.”
Oskar schaut über das Wasser und den Versuch des Freundes hinweg, ein Thema anzusprechen, das er im Grunde vermeiden möchte. Das eigene Haus...Seine Frau und er wohnen seit Jahren in einer Straße mit Einzelvillen. Es ist nett dort, aber gleichwohl einschläfernd. Die Idee, ein eigenes Haus zu bauen, zu besitzen, ist ebenfalls nett, aber er hatte von Anbeginn die Befürchtung, es könne ihn lebensgeschichtlich festeisen. Seine Gedanken werden paraphrasiert.
“Weißt du, Oss, ich fühle mich am wohlsten, wenn ich unterwegs bin.”
“Deshalb reist du also so viel?”
“Deshalb reise ich so viel, ja. Mein Job gestattet es mir gottseidank, das ist das Angenehme. ”
“Du kannst dich sozusagen frei bewegen?”
“Weitgehend. Man gibt mir gewisse Ziele vor, nicht aber den Weg, wie ich dahin komme.”
“Schön.”
“Und du, Oss?”
“Ich weiß nicht, ich tüftle so vor mich hin.”
“Ja, ja, Sklave deiner Arbeit, das bist du, nicht wahr. Findest kaum Zeit für andere Dinge, außer vielleicht, um einmal für vierzehn Tage an die See zu fahren.”
“Wenn du es sagst.”
“Ist es nicht so?”
“In etwa.”
Oskar bleibt stehen.Timo geht voraus. Für Augenblicke schweigen sie. Jeder tut etwas anderes. Der eine bohrt seine Kehrseite in den brütend warmen Sand, der andere stapft bis zu den Waden hinauf in die schläfrig rollende See. Der eine denkt an seine Frau und daran, was sie über den anderen denkt…
"Timo tr ä gt manchmal ein bisschen dick auf, ja, aber daf ü r nimmt er sich nicht so schrecklich ernst und gibt sich nicht so schrecklich erwachsen. Das gef ä llt mir an ihm."
"Zu unserem Sohn und auch zu mir sagst du oft: seid nicht so kindisch."
"Ist das jetzt ein Widerspruch?"
"Ich denke schon."
"Dann ist es ein sch ö ner Widerspruch.”
Oskar schwieg, als Constanze das sagte. Ihm gefiel es ja auch…
Allerdings, so stellt er jetzt, im Rücken des Freundes, abweichend für sich fest: dass dieser sich nicht so ernst nähme, stimmt nicht… In die Verlängerung dieses Gedankens stiehlt sich ein Lächeln.Timo hat sich eben umgedreht, grinst zu ihm herüber.
“Weißt du, wie du gerade guckst?”
“Wie denn?”
“Wie dein Vater.”
Oskar schließt den Mund. Wahrhaftig. Timo hat seinen Vater ja noch erlebt. So lange kennen sie einander also schon. Ach, länger... Obwohl, es gibt da eine Lücke von annähernd zwölf Jahren, eine Kontaktlücke, wo ihre Wege überseeisch weit auseinander lagen.
Oskar erhebt sich vom Erdboden, schüttelt sich den Sand aus den Kleidern. Sonderbar, diese Beobachtung des Freundes, wo er doch selber gerade in Gedanken... Ich bin auf Ferien, denkt er, ja, immer mal wieder, und zwar im Gestern. Warum nur? Die Kostüme der Vergangenheit sind heute wie schon zu anderen Zeiten tageweise schwer, die Schuhe spitz, die Hosen eng. Oskar denkt an das Bündel früher Liebesbriefe, die sich, neben den Tagebüchern, im väterlichen Gepäck angefunden haben. Sie gefielen ihm nicht. Die Handschrift des Vaters war üppig, raumgreifend, dekorverliebt. Nicht minder waren es seine Worte. Constanze würde hier sagen: theatralisch. In den Aufzeichnungen der Pariser Jahre dagegen dominierte dann ein veränderter, ein lakonischer Ton; die Sätze kamen kleiner daher, straffer; abgeschliffen - vermutlich von der Vanitas.
"Weiß man, wohin letztlich die Reise geht."
"Welche Reise?"
“Hast mir gar nicht zugehört, wie?”
In der Tat. Oskar war mit seinen Gedanken nicht anwesend. Seine Stimme klingt pelzig…
Untiefen. Stehende Wellen. Rücklaufende Brandung. Seine Blicke kreuzen die See. Der Blick des Vaters auf sich selbst war, wie Oskar es jetzt sieht, über Jahre hin nicht selten streng und hart, so als wäre es gar nicht der seine gewesen. Und der des Sohnes auf den Vater war es nicht minder. Letzteres kann korrigiert werden, was in mancher Hinsicht ja bereits geschehen ist. Und die Mutter? Es ist zu spät, mit der alten Dame ein solches Thema anzufassen... Der Wind frischt auf. Oskar schluckt, dreht sich zur Seite. Er will nicht, dass Timo ihn beobachtet.
“Erinnerst du dich, Os, früher wollten wir immer fliegen, in einem eigenen Eisenvogel abheben, über die Wolken. Heute ist es zum Pilot-Sein wohl ein bisschen zu spät.”
"Wir tun einfach so als ob."
“Bist du zufrieden mit dem, was aus dir geworden ist?”
"Nein. Bist du denn mit dir zufrieden?"
"Eigentlich schon. Was ich nicht bin, will ich auch nicht sein."
“Dachte ich es mir.”
“Und du, Oskar? Hast doch durchaus einiges vorzuweisen in deiner Vita. Solltest ruhig ein wenig stolz auf dich sein.”
“Ich tue auch das, wenn es gewünscht wird."
Oskar räuspert sich. Der Vater gedachte in seinen Aufzeichnungen auffallend oft seiner jüngeren und ganz jungen Lebensjahre. Oskar kann das kaum nachvollziehen. Für ihn ist die Beziehung zu seinem früheren Selbst längst abgerissen.Wenn er sich etwa auf Bildern von einst betrachtet, als Heranwachsender oder als Knabe, dann sieht er eine fremde Person. Sie berührt ihn nicht. Ihm ist seltsamerweise, während er das denkt, als höre er aus dem Off den warmen Bariton seines Vaters:
“Das, mein Junge, geht mir nicht so.”
Schwermütige, teilweise dem Sinnleeren nahe Eintrübungen des Gemüts, die das Erwachsenwerden mit der Regelmäßigkeit einer allmorgendlichen Grußformel flankierten. Das gab es, und das haben, wie Oskar inzwischen festgestellt hat, der Senior und er gemeinsam. Andrerseits, im Unterschied dazu: Der Vater war Trinker. Der Sohn nicht.
Er war im engeren Sinne kein Alkoholiker, der Senior, mehr der Typ Quartalssäufer. Und er hatte, vermutet Oskar, das Trinken benutzt, um gewissen Zuständen zu entfliehen, und die Musik, um in andere einzutauchen. Ersteres dürfte Teil eines Wellengangs gewesen sein, der sein Selbst auf Dauer unterspülte. Er war wohl darinnen auf und nieder geschwankt, zuweilen abgetrieben, zuweilen hatte er, zwischen Sturmspitzen aus Betäubung und Erlösung, auch Sandbänke der Ruhe gefunden. Seine verpatzte Musiker-Laufbahn muss ihn lange wie ein gefälschter Fluch verfolgt haben, bis er eines Nachts sein wahres Talent entdeckte. Doch da war es zu spät. Oskar Junior schaut auf seine Armbanduhr und gähnt ausweichend. Es ist wie mit den giftigen Senfölen: Sie kommen im Senf gar nicht vor.
*
Mannigfach debiles Grau. Regenwände standen Spalier, Überzieher aus Nässe schmiegten sich eng an die Gliedmaßen der Stadt, die, sich über Oscar beugend, bei lauwarmem Pernod-Charme blasse Konturen zeigte. Die Straßen hatten sich in Laufgräben verwandelt, und in ihnen konzertierte ein Orchester aus Gusseisen, Stopfleber und Stein. In seinem Kopf hingegen brauste ein Sturm aus unspielbaren Tönen. Im Sperrbezirk.
Er kam aus dem Chez Ginot, einem Bistro, das im Grunde keines war. Es hatte keine Intimität, wenn man es betrat. Es war, als betrete man ein Parkhaus. Das Innere war zu groß, die Wände waren zu bleich, das Licht strahlte zu grell, das Gestühl wirkte, als würde es in Kürze vom Sperrmüll abgeholt.
Doch all das änderte sich, sobald diese Stätte sich mit menschlichem Material auffüllte. Dann erwachte sie plötzlich zu sprudelndem Leben, wurde mit einem Male wohnlich. Die meisten Gäste, die hier einkehrten, taten es aus Gewohnheit. Man begrüßte einander laut über die Tische hinweg. Tabakrauch füllte den Raum. Gläser klirrten, die Rauschfiguren von Wein und Pastis verschwammen tintig zwischen Gurkentunke und tarte aux pommes. Ein Tosen aus vielen Stimmen lag in der Luft. Inmitten dieses Tohuwabohus hatte Oscar seinen festen Platz. Es war ein Platz etwas abseits, ein Wandplatz, aber nicht strikt außerhalb des quasifamiliären Getriebes. Man kannte ihn, jedoch ließ man ihn in Ruhe, denn in der Regel wollte er das so.
Er trank langsam. Er achtete des Treibens um sich herum kaum. Und doch mochte er es. Auf dem Höhepunkt glich das Lokal einem brütenden Ei, das seinen Inhalt mit einer Schale aus Fürsorge und Wärme umfing, ehe die Energien der Gäste diese Schale irgendwann zum Platzen brachten; herein fiel königliches Zwielicht. Oscar blieb, wenn er kam, lange. Es war immer mal wieder der passende Schauplatz für die Unwucht seiner Gedanken, für die Untiefen seines Gemüts.
Heute aber hatte es ihm nichts geben können. Die Wolken hingen zu schief. Der Tag war unfrisiert, ihm fehlte ein Drei-Wetter-Taft. Die Post hatte Verspätung. Seine Kopfhaut juckte. Die Flugzeuge verflogen sich. Die Zeit hatte eine Narrenkappe auf. So hätte es sein können, wenn es nicht sogar so war. Er war zu wenig bei sich. Sein Selbst schien wieder einmal aushäusig.
Dabei war er doch schon auf dem Weg gewesen, sich nicht länger in endloser Wiederholung durch ein Gestrüpp selbst geschaffener, widriger Umstände zu quälen, hatte Bruder Martin erfolgreich in den Schwitzkasten und eine Etappen-Marke genommen, wo Menschen seiner Umgebung anfingen, ihm Wertschätzung und Respekt zu zollen, war im Begriff gewesen, Saloua eine starke Schulter zu sein, an der sie in finsteren Stunden, von denen es letzthin einige gab, Anlehnung und Trost finden konnte, ja, sah er sich doch stundenweise so gut aufgelegt, ins Blaue auszurufen: Das Schicksal, es lag mir ja zu Füßen, ich sah es nur lange nicht, weil ich nie nach unten schaute. Veruntreuen Sie diese Einsicht nicht. Es ist meine. Gezeichnet: der Eigentümer...
Doch nein, alles war jäh unterbrochen worden, durch etwas, wofür er allerdings nichts konnte, durch den Gang der Ereignisse. Ein andere Platte trällerte plötzlich ihr Lied. Es hätte lauten können: Vom Absturz des Tages in die Nacht. Und es war von der B-Seite.
“Wir werden Suppe aus deinem Hirn kochen!.”
Das roch nach Ungemach. Sie waren zu viert. Der Sprecher war auch der Anführer. Er war kleiner und fülliger als die anderen und trug als einziger keinen Hut. Sein Kopf war so breit wie hoch und sein Gesicht eine krankhafte Rötung. Jede Kamerablende hätte sich vermutlich, ausgenommen, sie war es schon, bestürzt geschlossen. Oscar sah sich um. Er stand mit dem Rücken zum Unheil. Es gab keinen Fluchtweg. Die Männer rollten auf ihn zu. Der Schweiß brach ihm aus. Kurz bevor er so weit war, sich aufzugeben, gebar ihm die Verzweiflung eine Idee. Er hob, als wäre er unerwartet zum Fluglotsen befördert worden, beide Hände.
“Halt!"
Sie hielten tatsächlich. Sie blieben tatsächlich stehen. Es sah aber nicht so aus, als ob das ein Zustand war, der von Dauer sein würde.
"Ihr seid in der Überzahl. Das ist nicht fair. Mit einem, ehm, nehme ich es auf, im Zweikampf, Mann gegen Mann.."
"Wer von uns vieren darf es denn sein, Tastenzwerg?”
Die Rötung lächelte sanft. Und wirkte deshalb nicht lieblicher. Der Mann stemmte die Hände in die Hüften, stellte ein Bein leicht vor. Wir werden so alt, dachte Oscar, wie das Schicksal es will. Er war inzwischen tropfnass. Er versuchte sein Sprechorgan auf ein tapferes C-Dur zu stimmen.
"Ich dachte an Sie, Monsieur."
" An mich?! Und was schl ä gst du vor, sollen wir tun? Ringen? Fingerhakeln?”
"Die Wahl der Waffen ü berlasse ich Ihnen.”
Die vier Männer standen nach wie vor an ihrem Platz. Ihre Mienen blieben unbewegt. Dennoch schien sich so etwas wie Verblüffung durch ihre Gehirnzellen zu wälzen. Sie tauschten Blicke. Sie musterten ihr zartes, widerspenstiges Gegenüber. Sie dachten vielleicht: hier kämpft eine Gräte gegen Haifische.
Was sie auch dachten, für Oscar war die Lage im Grunde ausweglos. Und dennoch brachte er das Verhängnis vorübergehend zum Stehen. Die Verzögerung währte immerhin lange genug, um der Vorsehung Gelegenheit zu geben, eine kleine Spielvariante in die ungleiche Partie einzubauen. Sie ließ eine weitere Person auf den Plan treten. Sie stand im Schatten einer Toreinfahrt. Es war Pepe. Ihm genügte ein Blick, um die Situation abzuschätzen und drei Worte, um sie zu drehen.
" Niemand rührt sich!”
Pepe stand im Rücken der Männer. Seine Stimme klang ruhig, nicht sehr laut, aber sie hatte die Wucht und Schärfe eines Wurfmessers, niemand konnte sie ignorieren. Der Argentinier trat einen halben Schritt aus dem Schatten heraus und gab Oscar, in dessen Sichtfeld er nun geriet, mit einer Kopfbewegung ein Zeichen. Oscars Beine traten ganz von selbst, mechanisch und steif, den Rückzug an. Die Gefahrenzone rückte von ihm fort. Ein Taxi bog um die Ecke der Rue du Retrait. Er rief es herbei. Alles geschah, als läge er oder die Welt im Koma.
Weiße Schatten. Schwarze Stadt. Die Umgebung erschien in Umkehrfarben. Die Straßen, durch die das Taxi fuhr, wirkten wie ausgeräumt. Es war nicht spät, früher Abend. Dort, wo ihn die Häscher überrascht und umstellt hatten, war es, was man zu Teilen der Örtlichkeit zuschreiben musste, menschenleer gewesen. Ein weiterer Grund hierfür war (er erfuhr es am Folgetag) eine Fußball-Übertragung im TV. Die Grande Nation gewann. Mit zwei Toren Abstand. Der Jubel war riesig. Man hätte in seinem Lärmhof nicht einmal einen Schuss hören können, noch weniger einen Schrei. Pepe kam ebenfalls heil aus der Sache heraus. Er erzählte Oscar später davon.
“Ich war schneller als sie... im Laufen.”
Und Oscar erzählte Saloua davon. Er gab Pepe die tragende Rolle, als Retter in dunkler Not. Und Saloua erzählte ihrem Vater davon. Der wusste, was Oscar schon vermutet hatte: Der Urheber des Zwischenfalls war der Rotfuchs. Warum aber hatte man ihn, den Pianospieler ins Visier genommen? Es war weniger ein Drehbuch-Einfall. Es war, mutmaßte Oscar, wie so vieles im Leben, eine blind geborene Fügung.
Es gab gute Gründe, sich zu fürchten. Da war die Sache mit Bobov. Oscar hatte davon erfahren, wie alle davon erfahren hatten, intern. Ihm wäre es lieber gewesen, nicht Mitwisser zu werden. Denn Wissen konnte bisweilen krank machen oder feige.
Es finden sich, dachte Oscar in diesem Zusammenhang, die unterschiedlichsten Ungeheuer in der menschlichen Gattung. Und alle überhöhen das Böse, das jeder in sich trägt, verleihen ihm Gestalt und Namen. Der Bretone war, wenn auch im kleinen Maßstab, eines davon. Der Vorfall lag dreizehn Tage zurück. Er hatte die ganze Familie Bobov auslöschen lassen. Es hieß, ihre Mitglieder wären, als die Mörder das Haus stürmten, umher geflattert wie schlachtreifes Federvieh. Es hieß ferner, im Falle der beiden ältesten Söhne hätte der Bretone es sich nicht nehmen lassen, diese eigenhändig zu erwürgen.
Bobov war ein Vertrauter Mohuns gewesen. Oscar kannte ihn vom Sehen, er kannte die Familie, die Frau, die Kinder, flüchtig, doch genügte es - von dem geschilderten Grauen betroffen - im Innersten zu erschauern.
“Komm Oscar, ich will dir etwas zeigen!”
Sie waren etwa zwei Kilometer mit dem Wagen gefahren, hatten dann angehalten, bei laufendem Motor, ohne auszusteigen. Ihnen gegenüber lag, unscheinbar, ein Lokal, schäbig und wie verwaist im Helllicht des Tages. Vier Männer traten kurze Zeit später heraus. Immer sind es vier, dachte Oscar und sah genauer hin. Einer humpelte, ging an Krücken. Es war der Rotfuchs. Man hatte ihm beide Beine zerschossen. Joe, der am Steuer des weißen Citroën saß, verpuffte ein kurzes, knallendes Lachen und gab einer einsätzigen Bemerkung Raum, die Mohun, der mit Oscar zusammen den Fond besetzte, mit einem ebenso knappen Nachsatz ergänzte. Beide Männer schienen an dem Anblick ihr ungeteiltes Vergnügen zu haben.
“Er hat jetzt eine neue Bereifung, härter als je zuvor.”
“Und wird künftig etwas länger brauchen, um über die Ziellinie zu robben.”
Die Begebenheit fiel kurz aus, war nicht mehr als ein kalter Händedruck (und Oscar mochte ja keinen Händedruck). Man wollte ihm etwas vorführen. Man wollte ihm vorführen, wie man eine Niederlage lecker anrichtet sowie den Triumph, sie vor Publikum zu servieren. Das geschah sehr bald, nachdem die Bobovsche Familie ausgetilgt worden war. Es war der Gegenschlag. Es war nicht der erste blutunterlaufende Schlagabtausch zwischen Freyer-Mohun und dem Rotfuchs, es war aber der bislang übelste.
“Finde die Gefahr, ehe sie dich findet.”
Oscar gehen diese Worte nach. Mohun äußerte sie, während er Joe anwies, den Wagen zu starten, um ihren Beobachtungsposten zu verlassen, und Oscar sah die ganze Situation auf seinem Nachhauseweg vom Chez Ginot als Still-Leben (als nature morte, wie man im Französischen sagt) repetitiv an sich vorüberziehen.
Gern hätte er diese düsteren Bilder gegen angenehmere, die es ja gab, eingetauscht. Doch so sehr er sich bemühte, vor seiner geistigen Linse zumindest die Fernsicht einer freundlichen Erinnerung aufzurufen, vergebens, sein Bildschirm blieb schwarz. Es war einfach alles weg. Oder war es nie da gewesen? Im Hellen war er aus dem Bistro fort. Eben jetzt setzte die Abenddämmerung ein, und sie hatte etwas Herzzerreißendes.