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Kapitel 17

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Jungs, ihr könnt nach Hause gehen!

Er kam hinter dem Kasten hoch. Zunächst sah man nur Stirn und Halbglatze und eine in Zeitlupe tastende Hand. Dann folgte das Gesicht des Turnlehrers. Es wirkte derangiert. Schließlich kam der gesamte Mann zum Vorschein. Die Sportstunde war unerwartet beendet. Die Schüler schauten ungläubig, einige grinsten voller Schadenfreude, darunter auch Oskar.

Turnlehrer Löw hatte eine Übung vorführen wollen, einen Sprung über den Sprungkasten. Damit seine ungelehrigen Schüler einmal hautnah miterleben konnten, wie man das richtig anstellte. Dr. Löw machte es leider falsch. Es wurde eine Bruchlandung, mit, wie sich später herausstellen sollte, verstauchtem Handknöchel. Zwei seiner ‘Jungs’ eilten ihm zu Hilfe. Es waren, wie immer, Herbert und Jim. Sie waren die Streber in der Klasse. Sie machten gerne den Mundschenk, den Arschabwischer oder den Boten für die Herren Pädagogen. Sie rauchten nicht in den Pausen auf dem Schulhof, erledigten stets brav und ordnungsgemäß ihre Hausaufgaben, und kamen nie zu spät. Der eine wurde Leiter einer Sparkassenfiliale, der andere Trinker und Spieler.

Oskar meint in den Aufzeichnungen seines Vaters eine durchgehend passive, ja deterministische Unterströmung entdeckt zu haben. Und dazu ist ihm gerade eben aus der eigenen Vorgeschichte besagte Schulszene in den Sinn gekommen. Die einstigen Schulkameraden und das was aus ihnen geworden ist... Man hätte in manchen Fällen vorhersagen können, wer zu welcher zukünftigen Aufgabe bestimmt sein würde, in manch anderen, wo es besonders absehbar erschien, hingegen nicht.

Oskar betritt den Garten. Genug dieser Betrachtungen. Er will etwas Praktisches, etwas Handfestes tun. Er hat sich entschlossen, den Rasen zu bewässern. Damit der nicht komplett austrocknet. Er müsste es nicht, doch er tut es. Hinter dem Haus neben der Garage ist ein Wasseranschluss. Dort hängt, aufgewickelt auf einer rostigen Metallfelge, ein Schlauch. Er hat den Schlauch ausgerollt, dann den Wasserhahn aufgedreht und sprengt nun eifrig das dürstende Grün. Constanze wundert sich. Sie steht in der offenen Terrassentür.

Willst du unserem Nachbarn Konkurrenz machen?

Der mäht, ich wässere. Das ist ein elementarer Unterschied.

Und wie lange wirst du da jetzt den Regenmacher spielen?

Warum?

Weil wir noch einkaufen müssen.”

Keine Bange, Stänzchen. Es wird nicht lange dauern.

Na schön. Aber... verspritz dich nicht!

Sie geht ins Haus. Er lächelt amüsiert. Ob auch sie lächelt, kann er nicht sehen, da sie ihm den Rücken zuwendet. Er ist versucht, kurz und lüstern den Schlauch auf sie zu richten. Er lässt es. Es wird auch so ein schöner Tag werden.

Morgen will Timo eintreffen. Gestern Abend rief er an. Aus der französischen Hauptstadt. Es könnte etwas später werden als geplant, teilte er ihnen mit. Oskar richtet die Wasserdüse in eine andere Richtung, dreht an dem verstellbaren Kopf, fächert den Strahl etwas weiter auf, so dass er eine größere Fläche des Rasens benetzt.

Gestern Abend, als der Anruf kam, saßen Constanze und er, wie so oft auf der Terrasse, nahmen dort das Essen ein. Gestern Abend gab es Ochsenmaulsalat und Fisch. So manches Meeresgetier, das man auf den hiesigen Märkten erwerben kann, kennen sie von zuhause gar nicht. Es wurde ein milder Abend. Sie saßen lange draußen. Constanze rauchte etwas viel. Er sagte es ihr allerdings nicht, er wollte nicht, dass ein falsches Gesprächskorn versehentlich zum Sand im Getriebe ihres Beisammenseins wurde. Die See, die Seelen, alles badete in Stille. Die Nachbarn waren unterwegs.

Auch sonst störte nichts die Idylle, die in runden, warmen Schatten vor sich hin träumte. Ein Schleier lag darüber, eine Stimmung aus Leder und Seide, dazu ein Aroma wie von chinesischem Tee, den man in kühlen, dunklen Räumen trinkt, sowie zarte, sprühende Geräusche, Wohlllaute, das Zirpen des Windes, der Flügelschlag von Schmetterlingen, die noch zu munter waren, um einzuschlafen.

Sie sprachen nicht viel miteinander, Constanze und er; jeder hing, wie man so sagt, seinen eigenen Gedanken nach. Aber sie waren, Oskar spürte das, einander verbunden, und zwar auf eine ungewohnt mildtätige, annähernd beglückende Weise. Sein Denken kreiste wieder einmal um den Vater. Manches Mal war er ihm tellurisch nah und dann wieder kosmisch fern. Der Senior hatte einen Ganoven zum Freund gehabt. Doch ließ sich, so überlegte Oskar, ein Charakter wie Mohun auf diesen unschicklichen Begriff reduzieren, konnte man das überhaupt bei irgendeinem Menschen tun? Sein Vater jedenfalls hatte sich, wie er fand, erst spät hierüber ernsthaft Gedanken gemacht.

Oskar ist mit dem Wässern des Gartens fertig. Er schleift den Schlauch hinter das Haus, dreht zunächst das Wasser ab und rollt ihn dann zurück auf die Felge. Ich werde, überlegt er, vielleicht meine Absicht ändern und mit meiner Frau über die väterlichen Aufzeichnungen sprechen. Er schaut an sich herunter. Hose und Schuhe sind nass geworden. Auf noch etwas fällt sein Blick: Trotz regelmäßigen Lauftrainings hat sich da, auf Höhe des Revolvergurts, eine kleine Fettblase gebildet. Seine Frau ließ bereits diesbezüglich eine Bemerkung fallen.

"Warum tr ä gst du deine Hemden nicht mal ü ber der Hose."

"Warum sollte ich? Ist das jetzt Mode?"

Es wäre, glaube ich, vorteilhafterr deine Figur…und für den Betrachter.”

Eigentlich, denkt er bei sich, spricht es aber nicht aus, sollte ich ihn lieben, meinen Bauch. Er ist das jüngste Teil an mir.

Sie fahren eine Stunde später in den Ort, nachdem Oskar sich umgezogen hat und machen ihre Einkäufe. Was hätte in dieser einen Stunde, überlegt Oskar, nicht noch alles geschehen können? Und was war in dieser einen Stunde rund um den Erdball wohl noch alles geschehen?

Er überlegt das, während sie im Auto sitzen und fahren. Er stellt das Autoradio an. Er wollte die Untiefen seines Denkens doch für eine Weile verlassen! Constanzes Kopftuch weht im Wind. Es hat die Farbe des Himmels. Er müsste noch mal in die Werkstatt. Irgendetwas stimmt mit dem Motor nicht. Er zeigt sich bockig. Vor ihnen fährt ein anderes Cabriolet, ein Peugeot, ein älteres Modell.

So einen Wagen hat er früher einmal gefahren. Es herrscht viel Verkehr auf der Straße. Er hat den Peugeot damals an einen Freund weiter verkauft. Der Freund hieß Basil. Sie besuchten dasselbe Gymnasium. Er war der einzige ausländische Junge in der Klasse. Seine Eltern kamen aus Irland. Das wäre heutzutage auch nichts Besonderes mehr. Sie sind einander später noch einmal zufällig auf der Straße begegnet, Basil und er. Der andere sah sonderbar müde aus. Er grüßte kraftlos, und sie wechselten ein paar magere Worte.

Komisch, dachte Oskar nach diesem Wiedersehen, Basil war früher doch ein Mensch voller Begeisterung, voller Tatendrang gewesen und sehr mitteilsam. Nun aber ging er gebeugt. Und die Worte quälten sich über seine Lippen. Sein Blick war glanzlos. Meine Wünsche, schienen seine rehbraunen Augen zu sagen, haben Sprechverbot. Meine Hoffnungen tragen einen Gipsverband. Was ist schon das Heute? Es ist nicht so gut wie das Gestern. Und morgen wird auch nicht mehr sein als ein hohler Pfeifton im Wind. Seine letzte Bemerkung, als sie sich trennten, war: I’m done.

Oskar lenkt den Wagen in den Ort. Seine Frau reckt den Hals. Sie freut sich bereits darauf, über den Markt zu bummeln. Sie tut das gern. Es ist für sie eine willkommene Abwechslung, eine mit einem gewissen Festcharakter. Nicht lange nach dem Treffen mit dem Klassenkameraden erfuhr Oskar auf Umwegen, dass dieser Basil gestorben war. Den Namen der Krankheit erfuhr er nicht. Vielleicht, dachte er bei sich, ist es ja besser, wenn Krankheiten keinen Namen tragen.

*

Nacht der Maharadschas, der Mandarine, des Mantras, der Mandrille.

Er blickte sich um. Eigentlich sollte man, dachte er, an dieser Stelle innehalten. Kaum, dass der amtierende Akkord verklungen war. Alles um ihn herum schien zu vibrieren. Er spielte weiter. Er improvisierte. Seine Klavierläufe, biegsam wie Grashalme, feurig wie Geschmeide, perlten durch die stark verrauchte, nitroglyzerine Barluft. Er konnte, wenn es gut lief, für Minuten vollkommen abschalten, tief in einen eigenen Kosmos eintauchen und gleichwohl die Außenwelt, wie bei einer Schlangenbeschwörung oder einem Seiltrick daran teilhaben lassen. Ja, er konnte, wenn es gut lief, jede beliebige Stimmung heraufbeschwören. Und heute lief es gut. Es fanden sich Momente darunter, die er, wäre es ihm möglich gewesen, für die Ewigkeit hätte einbalsamieren lassen.

Oscar hatte sogar ein paar Extra-Augen für das Publikum, in Sonderheit für all die prachtvolle Weiblichkeit, die in dieser Nacht das Gouffre Bleu in ungewohnter Zahl bevölkerte. Eine blonde Schöne, eine aus der käuflichen Abteilung, sparsam bekleidet, mit einer Korona wogender Brüste und sehr roten Lippen kam einige Male zu ihm auf die Bühne und presste sich von hinten an ihn, was er willig über sich ergehen ließ, ohne sein Tastenspiel zu unterbrechen. Sie war neu im Club.

Wie heißt du?

Odile.”

Willst du mir nachher assistieren, Odile?

Aber sicher, Cherie.”

In der warmen, üppigen Dünung ihres Busens, der seinen Hinterkopf umarmte, überlegte er sich, in welche Bühnennummer das Mädchen wohl eingebettet werden könnte. Am besten, so kam ihm die verwegene Idee, wäre vielleicht eine Fesselungsnummer, die er nur leider nicht im Programm hatte. Doch auch so würde sie, welche Aufgabe ihr immer zufiele und wäre es von allen vorstellbaren die geringste, eine köstliche Beilage in der Speisefolge seiner musikalischen Darbietungen sein. Sollte er nicht überhaupt, so setzte er seine Überlegungen fort, dazu übergehen, neben dem im Hintergrund agierenden Pepe, einen weiblichen Part in seine Bühnenshow mit einzubinden? Es gab, wenn er Pause machte, die Auftritte der Tanzgirls, doch war das nicht vergleichbar.

Oscar blickte sich während der nächsten Spielpause im Saal um. Er schritt, nachdem er sich mit einem Handtuch, beflissen dargereicht von Pepe, den Schweiß abgetrocknet hatte, hinüber zur Bar und gönnte sich einen Whisky. Es war wie üblich eine Menge halbseidenes Volk im Publikum: Falsche Wimpern, falscher Luxus, Goldketten-Glamour, schusssichere schwarzgraue Westen, Spieler, Sex, Opiate, Gewaltinstinkte. Es gab strenge Regeln in diesem erotischen Mysterienspiel, Regeln, an die man sich besser hielt, wollte man nicht riskieren, seine Unversehrtheit einzubüßen. Angenehmer wäre es gewesen, man hätte sie, ohne Schaden zu nehmen, außer acht lassen können. Und noch angenehmer, hätte er, Oscar seine eigenen Regeln setzen können, so wie Frank Freyer Mohun, dessen Herzschlag vermutlich den höchsten Punkt der Erregungskurve dort streifte, wo er in dem Bewusstsein handelte, genau das zu tun. Denn das war er: ein Regelsetzer.

Oscar trank seinen Whisky. Er wechselte ein paar Worte mit dem Barkeeper, den er mochte und der ihn mochte. Gerard war einer der Dienstältesten in Mohuns Team, fast so alt wie Oscar. Er stammte aus Deauville, war früher Kaskadeur gewesen und strahlte im lebhaften Widerstreit mit seinen verknitterten Zügen männliche Virilität aus. Er war ein großer Mann, eine Schrankwand.

Ab und an kamen Gäste auf Oscar zu, um ihm zu sagen, wie sehr ihnen sein Bühnenprogramm gefalle, meistens waren es Frauen. Ja, Oscar war jetzt ein kleiner Star. Er sonnte sich streckenweise in seinem Erfolg, nicht auffällig, aber erkennbar für die, die ihn besser kannten. Er wollte nicht zu viel davon. Denn wer viel hat, dachte er, hat auch viel zu verlieren...

Oscar wälzte sich, die Wachbilder im Kopf, im Bett auf die andere Seite. Oder war es die eine Seite? Jedenfalls auf die eine oder andere Seite. Er zählte nicht mehr. Er kam nicht in den Schlaf, beziehungsweise der Schlaf kam nicht über ihn. Er drehte Wachrunden und grübelte Brandlöcher in die Laken. Irgendwann stand er auf und ging grunzend in seinen vier Wänden umher. So ging es seit fünf, sechs, sieben Nächten. Zweimal hatte er seine Mansarde verlassen und sich mit Hilfe von Bruder Martin abzustillen versucht...

Die Zeit danach. Die Zeit davor. Er hatte da sein persönliches Taxameter. Die Stunde Null im Jahre Null. Es war das einzige Datum, das sich exakt datieren ließ. Die anderen durchzog ein vergifteter Nebel, der sein Bewusstsein zuschleimte, wenn er sie zu lange ins Auge fasste.

Die Zeit danach also: Erster Akt. Da war er im Geiste ja gerade gewesen. Unbeschwerte Tage? Glückliche Nächte? Nein, eher rauschhafte Tage und Nächte. Es war seine mit Abstand beste Periode gewesen, seit er hierher, nach Paris gekommen war. Sie erinnerte ihn im Rückblick an Schneekugeln aus seiner Kindheit, winzige Glaswelten, die, schüttelte man sie, für kurze Augenblicke zu einem verzauberten Dasein unter unschuldig weißen Flocken erwachten. Er hatte als Junge eines dieser Kleinode besessen, es war eine echte Perzy-Kugel gewesen. Und ihr Inneres barg ein schmuckes kleines Gotteshaus...

Je weiter derzeit Dinge von seinem persönlichem Erleben entfernt lagen, um so leichter passierten sie seine Bewusstseinsschwelle. So hätte er, wäre er dazu aufgefordert worden, die Genesis der Schneekugel momentan besser ins Bild setzen können als seine eigene.

Jener österreichische Mechanikermeister, Erwin Perzy, der um die Jahrhundertwende per Zufall dieses so magisch anzuschauende Schmuckstück erfunden hatte, obwohl er doch eigentlich nur die Lichtausbeute von Kohlenfadenlampen hatte erhöhen wollen - Ein Meisterstück des Zufalls. Oscar fühlte sich gerade wie eine Kohlenfadenlampe, wenngleich er lieber eine Schneekugel gewesen wäre.

Von heute aus betrachtet war jedoch die Zeit seines Höhenflugs nicht wirklich makellos zu nennen. Der Bühnenruhm, der Erfolg als Musiker überdeckte Schwachstellen der Aufführung hinter den Kulissen, abseits des Rampenlichts. Wenn die Scheinwerfer erloschen, blieb er allein. Anderes drängte sich plötzlich in den Vordergrund. Mit wem sollte er reden, außer mit Mohun und natürlich mit Saloua? Mit Varga hätte er es noch tun können, doch nein, das hatte sich erledigt...

Er hätte sich gerne ausgetauscht, über seine Arbeit beispielsweise, über Musik, über Dinge, die ihn interessierten. Sollte er mit Joe etwa über Bachkantaten plaudern, mit Napoleon über den verkürzten Dominantseptakkord und mit Radu, Raoul oder Didi über die violão gago? Im Falle des letzteren hätte er ohnehin mit seinem Geist vorlieb nehmen müssen, denn Didi (Benjamin und Neuzugang in Mohuns Truppe) war, wie Joe es ausdrückte 'auf dem Feld der Ehre’ gefallen, sprich, er war bei der Schießerei im Rapzodie, die auch Ferenczy das Leben gekostet hatte, von einer Kugel erwischt worden, und es war keine Mozartkugel gewesen.

Kurzum, alle diese Möglichkeiten blieben im Grunde unbefriedigend. Sicher, die Anerkennung, die er zeitweise hochdosiert erfahren hatte, vermochte vorübergehend seine Lebenswurzeln zu wässern. Doch war das auf Dauer nicht sättigend, nicht berauschend genug. Er konnte schließlich außerhalb dieser Räusche nicht immer nur mit den Elfenbein-Tasten seines Klaviers reden oder, was ihn an Plattheiten umgab, in musikalische Hologramme verwandeln.

Dann die Zeit davor: Die erste Schockwelle, in der auch die erste Schneekugel zerbrach. Es war die Nacht nach dem Abend, an dem er mit Saloua im Kino gewesen war. Es war seine Idee gewesen. Er hatte sie dazu eingeladen. Sie sahen Orfeu Negro. Er hatte zufällig gesehen, dass der Film in einem kleinen Kino im Quartier Latin gegeben wurde.

Das Unheil, das dann folgte, schickte seine Vorkoster, aber weder Ferenczy noch er wollten die warnenden Anzeichen beachten. Keiner von ihnen hatte einen Blick übrig für die Scharmützel, die zwischen Mohun und dem Rotfuchs abliefen, obschon diese, in Gestalt eines ersten Überfalls, bereits einmal auf das Rapzodie übergegriffen hatten. Beide nahmen das, was es an Hinweisen gab, nicht auf die leichte Schulter. Im Gegenteil, sie nahmen es auf gar keine Schulter. Sie traten es mit Füßen. Das war natürlich grob fahrlässig. Wie viele Fehler, fragte Oscar sich später, kann man sich leisten, ehe die eigene kleine Welt in Stücke bricht? Er suchte nicht nach einer Antwort auf diese Frage. Es gab vielleicht auch keine. Es war, wie wenn man sich bemühte, die Schlucke zu zählen, die einen vom Vollrausch trennten. Der Vergleich hinkte, aber dafür waren Vergleiche ja da.

Es war Oscars letzte Arbeitsnacht im Rapzodie. Am folgenden Wochenende würde er ins Gouffre Bleu überwechseln. Die Eröffnungsfeier dort war ja bereits Geschichte, mit jenem tödlichen Nachspiel, dessen Zeuge er unfreiwillig geworden war. Und hier wurde es nun sozusagen seine Abschiedsvorstellung.

Piff, Paff! Piff! Kurz vor Mitternacht verwandelte sich der Laden in eine Schießbude. Ein Dutzend hoch gerüsteter, schwarzmaskierter Schlapphüte stürmte das Tanzlokal. Dieses Mal wurde nicht allein das Mobiliar zerlegt, man ballerte auch um sich. Gäste gab es keine mehr, nur Teile des menschlichen Inventars, nämlich Oscar, Ferenczy, Maria, die Putzhilfe - eine alte Spanierin, sowie Raoul und Didi, die Mohun voraus beordert hatte. Oscar war, was sein Glück war, gerade auf Klo. Maria, Ferenczy und Didi starben im Bleihagel. Raoul wurde am Arm verletzt. Der Spuk war rasch vorüber. Der Überfall hatte eigentlich Mohun gegolten. Und der wäre, hätte die Vorsehung es nicht anders gewollt, zu diesem Zeitpunkt ebenfalls im Rapzodie gewesen. Dass er es nicht war, daran war sein weißer Citroën schuld. Der blieb auf dem Weg zu Ferenczys Tanzladen nämlich mit einem Kolbenschaden liegen.

Oscar entsann sich bei dieser Gelegenheit einer Bemerkung des Wieners Laszlo Varga, dem er bei einem ihrer späteren Treffen von den Überfällen erzählte. Dessen Kommentar - nicht ohne eine Prise Schadenfreude geäußert - lautete: die Vorkommnisse sollten all denen eine Lehre sein, die meinten, der Tod sei lediglich ein Angebot im Schaufenster der Konkurrenz.

Der Kontakt mit dem Wiener, der ihm, nachdem er das Rapzodie verlassen musste, noch einige Male über den Weg lief, hätte gegebenenfalls Bestand haben und Oscar weiterhin als Quelle dienen können, aus der die eine oder andere rhapsodische Information zu beziehen war, wenn er nicht von sich aus eines Tages, nachdem ihm seltsame Dinge über Varga zu Ohren gekommen waren, auf eine Fortsetzung verzichtet hätte.

"Man kann es sich nicht immer aussuchen, mit wem man es zu tun bekommt."

Die besten Eintrittskarten sind die, die nicht im freien Handel erhältlich sind.”

Diese zwei Sätze Vargas hatten unversehens eine zusätzliche oder doppelte Bedeutung erhalten, denn wie Oscar erst kürzlich durch Saloua erfahren hatte, frönte Varga einer Leidenschaft, die ihn zum Gesellschafter an einem zweifelhaften Vergnügen machte, bei der weder der Eintritt noch die Karten freien Spielregeln unterlagen. Er stellte sich heraus, dass er jemand war, der offenbar schon seit langem amourös im Trüben fischte. Er warf seine Angelrute nach unschuldigen, kleinen Mädchen aus. Der Wiener war ein Lolita-Mann.

Unlängst, so Saloua, wäre die Polizei auf ihn aufmerksam geworden. Man setzte ihn für eine kleine Weile fest, konnte ihm allerdings nichts nachweisen. Inzwischen lief er wieder frei herum. Wenn es nach ihr, Saloua ginge, sollte Varga die Pest holen oder aber -, so variierte Oscar, der sich von dieser Passion nicht ganz so befremdet zeigte - ihren Wunsch auf seine Weise: das Schicksal mochte den Mann ruhig mit einer Haarzunge strafen. Ein Fortsetzungs-Gedanke, der ihm in diesem Zusammenhang kam, ging dahin sich zu fragen, warum er nicht selber Varga auf die Spur gekommen war? Stets schien er derjenige zusein, der als letzter von Dingen erfuhr, die vorübergehend als Geheimnis kostümiert, in Umlauf waren.

Die Zeit danach, zweiter Akt, dritter Akt, Coda... Es gab Abläufe, da lagen Ich-Schichten, die sonst bedeckt blieben, plötzlich frei. Ja, man kannte sie selber kaum. Man schlüpfte in eine neue Rolle, und alles änderte sich: Stimme,Tonfall, Mimik, Gestik, selbst die Schrittfolge.

Oscar legte kurz eine Verschnaufpause ein. Er tat das auf dem Friedhof Père Lachaise. Er hatte dort nichts Besonderes zu erledigen. Er war in einer Art Sekundärlaune, bereit für heitere wie für grimmige Scherze. Es hieß, über Tote, Kranke sowie Behinderte kursierten die übelsten Witze, aber ebenso die besten. Er verlor vorläufig keinen Gedanken daran, dass er an einem Ort weilte, wo sich jede lebendige Angelegenheit, ob geregelt oder ungeregelt, ein für alle Mal erledigt hatte, wo nicht viel mehr zu tun blieb, als ab und an Kränze auf frisch aufgeworfene Erde zu legen, Blumen zu gießen und auf diese oder ähnlich formelle Weise der Verblichenen zu gedenken. Er sprach das Wort ‘Tod’ nicht gerne aus, er dachte es nicht einmal gerne, und seit er, ohne es herbei gesehnt zu haben, mit dem Thema eng verbunden war, am liebsten gar nicht.

Es war, soweit er sich erinnern konnte, sein erster Aufenthalt auf einem Friedhof, aus freien Stücken. Er mochte es nicht, auf Friedhöfe zu gehen. Einmal hatte er gemusst, nämlich als sein Vater beerdigt worden war. Er entsann sich dessen kaum, wollte es auch gar nicht. Ein Friedhof, sagte er sich, war nicht der passende Ort für Musik und Tanz, ungeeignet auch für die sterbliche Liebe, und Träume endeten hier vorzeitig mit Genickstarre. Ein schwarzromantischer Zweizeiler flog ihm unversehens durch den Sinn, während über ihm der Ruf einer Amsel tönte: Auf famosen, selbstgerechten Steinengrüften kümmern Nelken, Rosen, Hyazinthen über Trümmern von Gebeinen in von schlechten Düften welken Lüften.

Die Grabsteine, die Mausoleen, die wie aufgerichtete Schuhkartons in der Gegend herum standen, hatten etwas düster Mahnendes. Warum mussten sie übrigens stets diese spröde Kastenform haben, warum konnten sie nicht wie Hutschachteln aussehen, die ja bekanntlich in aller Regel handschmeichelnd rund waren?

Auch Bäume fanden sich nur in geringer Anzahl. Und die, welche es gab, standen barhäuptig, was der Jahreszeit zuzuschreiben war, keiner Andacht. Dafür streunten Katzen umher, in rauen Mengen. Oscar mochte Katzen. Doch die hiesigen, dachte er, haben einen anderen Geschmack als ich. Sie lebten auf dem Gelände und schienen es zufrieden. Aber sie taten es womöglich auch deshalb, weil sie von den Zweibeinern an dieser Stätte in Ruhe gelassen wurden, oder aber aus der Genugtuung heraus, ihre Pfoten auf tote menschliche Gebeine setzen zu können.

Oscar traf auf ältere Frauen, die unterwegs waren, um die Tiere zu füttern. So manch gefiederter Freund bekam dabei gleichfalls einen Bissen ab. Menschliches Jungvolk sah man kaum. Das hatte anderes im Kopf. Das hatte nichts verloren in einem Bezirk, wo sich der Raum anders als anderswo krümmte und die Zeit Gichtfinger besaß. Das hatte ja auch nichts mit Glück zu tun, und junge Leute waren schließlich Glückssucher, es sei denn, der eine oder andere unter ihnen entschied sich, weil ihm nichts Gescheiteres einfiel oder aus Weltschmerz, vor der Zeit für das Jenseits.

Oscar zog einen Vergleich, während er das sparsame Treiben auf den Wegen und zwischen den Gräbern beobachtete. Ihm erschien der Friedhof wie ein Tierpark. Er hatte das Verlangen, die Welt für einen Augenblick, aufgeteilt auf diese beiden Schauplätze, wie zwischen zwei gegensätzlichen Polen betrachten zu wollen. In beiden Fällen handelte es sich um Sperrbezirke. In beiden Fällen blieb das Leben, im einen Fall das freie, im anderen das ganze, ausgesperrt. Auch gab es nichts Unbehaustes, keine Jagd, keine Todesangst, keine Wunder, keine bösen oder guten Überraschungen, nicht Hunger noch Durst, dafür platte Langeweile... Gut, murmelte er, da ziehen wir jetzt mal einen Strich und gehen zu etwas Anderem über... Oscar fiel im Moment allerdings nichts Gescheiteres ein, als heiße Luft zu lassen. Wenigstens störte sich hier niemand daran. Die Toten waren schlechte Gerüche gewohnt. Sie standen längst mit Faulgasen und üblem Gestank auf vertrautem Fuß.

Die Sonne schien bruchstückhaft, genauer gesagt, man sah sie kaum. Das Tageslicht war glasig. Es wurde zeitig dunkel um diese Jahreszeit. Dem Licht nach zu urteilen, bröckelte der Tag aber bereits jetzt, obwohl es noch nicht spät war, vielleicht aus Mangel an Kalk. Oscar überlegte sich, seinem Magen etwas Gutes zu tun. Viele Angestellten hatten wahrscheinlich gerade ihre Mittagspause, denn es war ein Uhr. Ja, es war sogar schon ein Uhr durch.

Oscars Armbanduhr war kaputt. Er musste, wenn er die Zeit erfahren wollte, immer jemanden fragen oder nach einer öffentlichen Uhr Ausschau halten. Hier auf dem Friedhof, wo man sie nicht mehr brauchte, gab es natürlich keine. Außerdem, hätte es welche gegeben, wären sie ohnehin anders gegangen. Oscar hatte den Friedhof Père Lachaise von der Westseite her betreten. Er verließ ihn auf der Ostseite. Unvermittelt wurde ihm bewusst: es hatte ihn doch nicht so ganz ohne eigenes Zutun an eine Stätte wie diese verschlagen.

Die Entleerung des Möglichen

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