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Kapitel 13

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Oskar öffnet den Wasserhahn, greift dann nach der Flasche mit der Flüssigseife. Sohn David hat sich gemeldet. Dieses Mal ging es nicht um Geld. Es ging um seinen Plan, Amerika zu erobern. Er möchte über den Großen Teich in die Neue Welt, um drüben mit einem Freund in einem alten Buick einmal quer über den Kontinent zu fahren, von New York bis San Francisco. Er wolle das tun, ehe er sich, wie er sich ausdrückte, ins Geschirr begeben, sprich, sein Studium antreten würde. David ist im allgemeinen eher wortkarg, dieses Mal war er gesprächig am Telefon.

Erzählt man, fragt Oskar sich, wenn man jung ist, so wenig, weil man so wenig zu erzählen hat oder weil man mehr damit beschäftigt ist, etwas zu erleben? Er müsste es ja eigentlich wissen, schließlich war er selbst einmal jung. Er entscheidet sich für eine weitere Induktion: Man redet wohl, aber, wie die Erfahrung zeigt, mehr mit seinesgleichen, weniger mit den Alten, und man redet gern über die eigenen Probleme. Später dann redet man über die der anderen. Nachdem er diese Überlegungen längere Zeit hat zirkulieren lassen, entscheidet er, dass das wiederum auch nicht wirklich zuträfe. Aber was ist schon zutreffend? Oder, um noch eine halbe Umdrehung hinzuzufügen: Was ist schon berechenbar? Man kommt dem Leben nicht auf die Spur, schon gar nicht mit einem geistigen Histogramm.

Oskar schließt den Wasserhahn. Er verlässt das Bad, steigt die Treppe hinunter. Constanze ist nicht im oder am Haus. Sie ist früher aufgestanden als er. Hat bereits gefrühstückt. Sie ist - erstmalig nach seinem Geburtstag - allein mit dem Drahtesel unterwegs gewesen. Einkaufen. Der Frühstückstisch ist gedeckt. Ein Morgenei harrt unter einer pinkfarbenen Wollmütze der Guillotine, und der Kaffee in der Thermosflasche. Selbst die Tageszeitung liegt bereit.

Er streckt bequem die Füße aus und greift nach dem Zeitungsblatt. Dort liest er von gestrandeten Walen. Man hat versucht, die riesigen Meeressäuger ins tiefe Wasser zurück zu schaffen, doch die meisten Tiere sind verendet. Vor einigen Jahren, erinnert er sich, gab es ein sonderbares Vogelsterben hier in der Region. Über die Ursachen fand man nichts heraus. Mutter Natur hütet, wie üblich, ihre Rätselecke.

Sie haben Post bekommen, erstmalig in diesen Ferien. Es ist keine gute Post. Eine Freundin von Constanze ist tot. Keine sehr intime Freundin, aber dennoch, die Nachricht hat Constanze zugesetzt. Oskar kannte die Freundin. Es war eine angenehme Person, einige Jahre jünger als seine Frau. Sie hatte einen Herzstillstand. Keiner weiß, warum. Sie schien gesund. Oskar steht auf und blickt über den stark verbrannten Rasen. Das Alltägliche lässt Fragen, die wie altgriechischer Chorgesang unsichtbar im Hintergrund der Daseinsbühne walten, selten den Vortritt. Oskar hofft immerhin, dass die Kunde über diesen Sterbefall die letzten Tage, die ihnen noch verbleiben, nicht zu sehr überschatten möge. Constanze neigt dazu, traurige Ereignisse, statt sie zu verabschieden, in den Kammern ihres Herzens einzulagern und gelegentlich eruptiv abzurufen.

Er fragt sich zwischendurch, wo sie eigentlich steckt? Er ist mit dem Frühstücken fertig. Vielleicht ist sie in den Ort gefahren. Er wird nachsehen. Oskar schwingt sich auf sein Fahrrad und fährt los. Er findet seine Frau auch dort nicht. Nachdem er sich vergeblich umgesehen hat, setzt er sich in das Café am Marktplatz. Es beginnt zu regnen. Es regnet bald in Strömen. Bei diesem Wetter kann man unmöglich irgendwo anders verweilen als unter einen Schirm oder, gesetzt den Fall, man säße im Trockenen, bliebe man wohl am besten, wo man ist. Oskar bleibt, wo er ist.

*

Sein Verstand funktionierte heute nur in eine Richtung - in die falsche.

Oscar warf das Handtuch in eine Ecke. Er hätte es ebenso gut aus dem offenen Fenster werfen können, es hätte seiner inneren und äußeren Verfassung sogar entschieden besser entsprochen. Sein Denken schlug einen Haken. Das half nicht viel. Das Dilemma war unbestreitbar.

Er wollte weg, aber er konnte nicht weg. Denn wo sollte er hin? Es umgab ihn ein riesiges Schlamassel. Wäre er nur nie da hinein geraten! (Das hatte er schon einmal gedacht und gesagt, oder?) Was machte er überhaupt hier in Paris? Wer hatte ihn auf die Idee gebracht, sich an diese Stätte zu binden? Er selber, sein Gegen-Ich, die Vorsehung? Es war ihm unklar. Sein Gedächtnis zeigte sich von schwarz geteerten Flecken übersät wie auch seine Gegenwart. Dinge, wie er sie jetzt erlebte oder kürzlich erlebt hatte, sah er sich lieber im Kino an. Kriminelle Dinge. Er sehnte sich nach leisen Tönen, nach Stille fand aber nur tödlichen Lärm. Es war jetzt der dritte Überfall. Man zählte mittlerweile fünf Leichen. Er ahnte, es würde vermutlich weitere geben. Vier der Toten ließen ihn kalt. Der fünfte aber war Ferenczy. Man hätte das Ganze einen Bandenkrieg nennen können. Doch ganz gleich, wie man es nannte, es war eine Menschenfalle.

Er wartete auf Napoleon, der eigentlich Pascal hieß und Korse war, das heißt, er musste auf ihn warten. Napoleon war Mohuns bester Mann, wie dieser selber sagte.

"Es gibt keinen heiklen Auftrag, den Napoleon nicht rasch und effizient ausf ü hren kann. Nur leider hat er einen schlechten Orientierungssinn. Man darf ihn daher nicht allein irgendwohin schicken. Er ist in dieser Hinsicht so schusselig, dass er sich selbst auf dem Weg ins Paradies noch verfahren w ürde.

Es warteten ebenso die anderen, nämlich in einem Lokal, Joe le Brie und Radu, der weder richtig lesen noch schreiben konnte und aus Siebenbürgen stammte und Raoul, der aus der Picardie kam, zwar lesen konnte, aber nicht viel mehr als Speisekarten oder Fahrpläne. Er war gleichwohl der Wortführer in der Truppe. Sein Blick wirkte meistens etwas schläfrig, und seine Redeweise war gespreizt wie die Schenkel eines beischlafbereiten Weibes. Aber er hatte das Talent, die emotionalen Parameter einer Lage rasch zu erfassen. Der Langsamste unter ihnen war Radu, er bewegte sich reptilienhaft, konnte jedoch so blitzartig wie verheerend zuschlagen, sollte ihm einmal der Sinn danach stehen. Alle vier gingen sorgfältig gekleidet. Darauf legte Mohun großen Wert, und es war in toto der einzige Umstand, dem Oscar mit einer gewissen Sympathie zu begegnen bereit war.

Mohun hielt sich für einige Zeit im Ausland auf, wo genau, war vorderhand nur vage auszumachen. Er sagte, er wolle sich schriftlich melden, in Abständen, um aus der Ferne seine Anweisungen zu geben. Oscar sollte ihn während seiner Abwesenheit vertreten und den Dolmetscher und Übersetzer machen. Mit Musik hatte das natürlich wenig zu tun. Nachts saß Oscar wie gewohnt am Piano, und am Tage musste er sich um die Korrespondenz, um das "Geschäftliche" kümmern. In den Pausen durfte er dann einnicken oder sich betrinken oder beides.

Oscar zog sich Jacke und Hose an. Sein Repertoire hatte sich in ungewohnter Weise erweitert. Statt in einer Musikcombo bewegte er sich nun in einer Truppe von Totengräbern. Die Beziehungen waren zwar rein funktional, aber trotzdem. Er hätte gern Saloua an seiner Seite gehabt, die sonst, wenn Mohun unterwegs war, die eine oder andere Aufgabe für diesen zu übernehmen pflegte, doch seit dem Tod ihres Vaters schien sie wie verwandelt. Sie tat etwas, was im Grunde gar nicht ihrem leb- und sprunghaften Charakter entsprach: sie verkroch sich.

Napoleon war pünktlich. Nicht Joe, sondern er war es dieses Mal, der den weißen Citroën lenkte. Den Weg hatte er also gefunden. Sie fuhren zu einer Brasserie im 13. Arrondissement. Dort hockten in einer Ecke die übrigen bereits beisammen, tranken Bier und unterhielten sich über Frauen, Fußball, Fußball, Frauen und… Fußball. Die Ankömmlinge gesellten sich hinzu. Es hatte für Oscar etwas von einem Jugendtreff. Keiner, bis auf Joe (und ihn natürlich), war über dreißig.

"Warst du schon mal verheiratet, Radu?"

"Nein."

"Und du, Joe?"

"Zweimal, mein Junge. Und zweimal geschieden."

"Alle Achtung."

"Aber die Fehler, das sage ich euch, die ich bei meinen beiden ersten Frauen gemacht habe, werde ich bei meinen dritten Z ä hnen nicht wiederholen.”

Raoul und Radu lachten, weil sie merkten, dass Joe einen Witz gemacht hatte, ohne allerdings die Pointe genau zu verstehen. Wenn Joe sein übliches Schweigen für ein paar Halbsätze unterbrach, konnte ein gewisser sperriger Schalk hinter seinen Worten aufblitzen. Oscar kannte diese Seite an ihm bereits und schätzte sie.

Es war, nach gängiger Zeitrechnung, vier Uhr nachmittags. Zu sagen, der Tag hätte kommen können, wäre nicht angemessen gewesen, denn er war ja bereits nahezu vorüber. Dafür würden bald andere kommen und natürlich die Nacht, eingetaucht in ein Licht trüber Ungewissheit.

Oscar rutschte unruhig auf seinem Sitz. Es war ihm nicht recht, mit diesen Spießgesellen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, weder hier im Lokal noch außerhalb. Es war jedoch kaum zu vermeiden. Er hoffte nur, die Spürhunde des Rotfuchses würden nicht auf diese Weise erneut auf ihn aufmerksam werden. Einmal in ihrem Visier gewesen zu sein - das reichte. Mit Schaudern dachte er daran zurück. Auch an einem Zusammenstoß mit der Polizei konnte ihm nicht gelegen sein. Am Ende würde er noch genötigt sein, das Land zu verlassen. Er suchte nach einer Gelegenheit, sich aus der ganzen Sache herauszuziehen, was nicht so einfach war. Offenbar erwarteten Mohuns Leute von ihm, dass er ständigen Kontakt mit ihnen hielt, von dem, was Mohun von ihm erwartete, ganz zu schweigen. Vielleicht erwarteten sie aber auch etwas anderes. Nachfragen wollte er lieber nicht.

Man soll, dachte er, keine schlafenden Schakale wecken. Der einzige, mit dem er hätte reden mögen, war Joe. Doch ist es, dachte er weiter, wohl angeraten, nicht durch auffällige Erkundigungen an dieser Stelle Misstrauen zu erregen. Joe war ein getreuer Vasall seines Dienstherrn. Oscar hätte sich gern irgendwo Rat geholt, doch bei wem? Bei Varga? Nein, der gehörte ja nicht länger zu der Mannschaft auf diesem Kanonenboot.

Oscar hatte das Empfinden, in einem gespenstischen Wartesaal vor sich hinzudämmern. Er wartete darauf, dass Mohun zurückkam. Er wartete darauf, dass die Lage sich entspannte. Ja, er hoffte, dass die Dinge sich, gleich wie, wieder zum Besseren wendeten. Er horchte ins Unbestimmte und versuchte sich an einer Hörprobe für Klänge, die ihm vertraut und bekannt vorkamen. Doch alles Warten wurde zu einer schallenden Ohrfeige in einem schalltoten Raum. Es zermürbte seine Nerven. Der Wirrwarr war ihm zu viel, die Unruhen, die Unsicherheit, das gefährliche, in Teilen todbringende Spiel. Er war kein Krieger und wollte auch keiner sein.

Jetzt hätte er es doch gut gefunden, die seltsame Bullaugen-Uhr testen zu können, die Pepe ihm geschenkt hatte. Nur, Frage wie Antwort, ob sie das hielt, was sie versprach, hatten sich leider erledigt. Sie war nämlich weg. Sie musste ihm, während er in irgendeinem Lokal betrunken unter dem Tisch gelegen hatte, aus der Jackentasche entwendet worden sein.

Es war vielleicht ein unverzeihlicher Fehler Mohuns, urteilte Oscar, sich in dieser heiklen Situation auf Reisen zu begeben, sich sozusagen weit hinter der Front aufzuhalten. Er war so nicht mehr vollständig Herr der Umstände, er gab sie aus der Hand, überließ sie seinem Gegenspieler. Trat er etwa den Rückzug an? Einmal hatte er in einem Nebensatz über den Bretonen die Bemerkung fallen lassen, jener verfüge über die stärkeren Bataillone.

Oscar fragte sich, während er still am Tisch saß und die anderen reden ließ, warum Mohun sich mit soviel Einfalt umgab? Doch mochte diese Frage untauglich sein. Mohun setzte eigene Werte. Für ihn waren seine Leute nicht allein fügsame Lämmer und harte Jungs, sie waren loyal und respektierten einen internen Ehrenkodex. Sie beugten sich einer Gesetzestafel, die nicht nur das Zusammenleben regelte, sondern gleichzeitig für Zusammenhalt sorgte. Es gab so etwas wie eine Bibel mit zehn Geboten. Vielleicht waren es auch neun, vielleicht elf. Jedenfalls garantierten sie eine übersichtliche, klar gegliederte Welt.

Außenstehende sprachen gern davon, man habe es mit Gesetzlosen zu tun. Nichts traf weniger zu. Es gab sie, die Gesetze, und sie wurden strikt eingehalten. Jeder Einzelne wusste, er war geschützt, sollte ihm Gefahr drohen; geriet er dagegen auf Abwege, erwarteten ihn harte, strenge Strafen, im äußersten Fall die Exekution. Es war alles in allem eine gut geölte, gut gepanzerte Maschine, kalt auf der Außenhaut, angenehm temperiert im Innern.

Es gab allerdings eine Nichtkonstante. Das war Mohun selbst. Er bedrohte das eigene System. Er schien gespalten in eine Hälfte, die Halt, Sicherheit und Orientierung bot und in eine andere, die ins Unberechenbare tendierte. Oft, so dachte Oscar, scheint der Führer der eigentliche Gesetzlose zu sein. Er stellt die Gesetze zwar auf, aber er ist es auch, der sie immer wieder bricht. Darin ist er ganz wie der Herrgott.

Mohun hatte überdies, so meinte Oscar sicher beobachtet zu haben, eine weitere undichte Stelle, seelenseitig. Denn es zog ihn ins Schöpferische, ins geistige Abenteuer. Er war ein cleverer Geschäftsmann. Nur war ihm das offenbar nicht genug. Hier beendete Oscar seine Analyse. Es war nicht sein Spezialgebiet. Er wandte sich den aktuellen Umständen zu.

Die Runde um ihn löste sich auf. Er fuhr ins Gouffre Bleu. Dort traf er überraschend auf Saloua. Sie hatte Neuigkeiten, die sie ihm mitteilte. Mohun war, wie schon von ihm vermutet, unterwegs in Afrika. In Drogengeschäften. Aber nicht nur. Er sah auch Filme, hörte Musik, traf sich mit Gauklern, Tänzern, Feuerschluckern, Schlangenbeschwörern, schwärmte von magischen Momenten. Mohun, sagte Saloua, spräche davon, dass er jetzt ein Leben in der Hängematte führe...

Oscar sah sich in der Vorstellung zwischen ihnen eingerahmt. Beiden war eine fließende Weichheit zu eigen, neben der er sich oft wie ein zäher Knorpel vorkam. Aber dort, wo sie hart waren, waren sie härter als er. Warum war Saloua zurückgekommen? Hatte Mohun sie fortgeschickt? Sie hüllte sich darüber in Schweigen. Er sah sie jetzt, wie er unter Bedauern feststellte, nur noch selten. Sie war ruhig geworden, ruhig und ernsthaft. Es war wohl nicht allein der Tod des Vaters. Er nahm an, eine andere Frau, auf Seiten Mohuns, sei mit im Spiel.

Oscar hatte, wie allabendlich, sein Mezzoforte. Die Nacht schien - an der Oberfläche - eine x-beliebige. Er verließ den Club als letzter. Er kannte die Räume, hatte sie oft durchschritten, wie auch die Gerüche, er hatte sie oft gerochen; er hatte die Luft hier viele Male geatmet, sie hatte sich mit seinem Atem vermischt. Aber ihm wollte es, als er die Tür verriegelte, so erscheinen, als sei all das wie in Watte verpackt. Er wähnte sich am Rande eines Nichts, aber am Ende war dieses Nichts womöglich der einzig reale, ja, der einzig verlässliche Ort.

Die Entleerung des Möglichen

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