Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 19
Kapitel 16
ОглавлениеEs ist ein Fall für den Sankt Nimmerleinstag.
Timo steigt aus dem Porsche. Oskar hat das bereits getan und steht, bei geöffneter Blechhaube über den Motorblock gebeugt, im hellen Sonnenschein ratlos da. Es gibt einen Defekt, aber er findet ihn nicht. Sie sind liegen geblieben. Auf freier Strecke. Niemand in Sicht, weit und breit. Keiner der beiden hat etwas dabei, um zu telefonieren. Ein Abschleppdienst wäre jetzt prima.
“Was machen wir?”
“Warten.”
“Du lieber Himmel.”
“Wir könnten auch zu Fuß gehen.”
“Wohin?”
“Zur nächsten menschlichen Ansiedlung.”
“Bei der Hitze?”
“Oder wir versuchen es per Anhalter.”
“Ja, wenn denn mal jemand vorbeikäme,Oss.”
Eine Idee muss nicht schlecht sein, um schlecht zu werden. Diese hier wird bald ranzig. Sie stellen sich an die Straße, aber es kommt kein einziges Fahrzeug.
Als alles nichts nützen will, anders ausgedrückt: als das Warten sich ins Unendliche zu verlängern droht, setzen sie sich auf einen Stein, jeder auf einen anderen und harren der Eigenheim-Zulage. Oskar murmelt halblaut vor sich hin.
"Die Dinge zeigen sich momentan nicht von ihrer Schokoladenseite."
"Du sagst es, Os s. ”
So könnte jetzt der anschwellende Tag verstreichen, um sich nahtlos in eine Lichterkette von Folgetagen einzureihen, die weiter nichts gemeinsam haben als die glitzernden Wellenkämme einer hochsommerlichen Wetterlage, die aber weiter auch nichts zu trennen scheint.
Ein klöppelndes Geräusch lässt sie aufhorchen. Es stammt von den Hufen einer Schafherde, die in einiger Entfernung aufgetaucht ist. Man sieht weder den Hirten noch dessen Hund. Sie werden aber sicher bald zu sehen sein. Ein Lichtblick am Horizont? Wer weiß. Der Hirte wird ihnen vielleicht gar nicht weiterhelfen können, es sei denn, dass moderne Hirten mittlerweile ein Mobiltelefon bei sich tragen und dieser ein solcher ist.
Wie sich herausstellt, hat der Hirte kein Mobiltelefon, dafür aber einen Raben auf der Schulter. Beide sind nicht sehr gesprächig. Auch der Hund, der später dazu stößt, nimmt von den zwei Gestrandeten und ihrer Autopanne kaum Notiz. Immerhin verspricht der Hirte, dessen gegerbtes Gesicht ein weißer Vollbart rahmt, der trotz der Hitze einen langen, schwarzen Umhang trägt und dessen Alter etwas Unbestimmbares hat, er wolle, falls er unterwegs jemanden träfe, diesen, wenn er in der Angelegenheit in Frage käme, darum bitten, nach Hilfe Ausschau zu halten.
Die Rede des Hirten ist karg und, wie Oscar bemerkt (und auch Timo wird es bemerkt haben), ein wenig umständlich. Er bietet ihnen, bevor er mit seiner Herde weiter zieht, noch zwei Äpfel und etwas Hartkäse an, was sie dankend annehmen. Dann sind sie wieder allein, ein Zustand, an den man sich gewöhnen kann, solange es tagt und die meteorologischen Verhältnisse nicht zu sehr ins Sonderbare oder Extreme tendieren. Mittag ist vorüber, und es ist schwindelnd heiß. Doch zeigen sich in der Ferne einige sahnige Wolkenschnitten, und etwas Wind kommt auf.
"Wir hocken hier wie die ersten Menschen."
" Eher wie die letzten, würde ich sagen . ”
"Vielleicht sollten wir doch ein bisschen umherlaufen, Os s."
"Juckt es dich in den Beinen?"
"Es geht. F ü hle mich soweit ganz frisch, bis auf ein zartes Kopfweh."
Oskar kratzt sich ausgiebig am unrasierten Kinn und fügt in Gedanken stumm hinzu: Was nach unten hin noch in Ordnung ist, erweist sich nach obenhin mitunter als Desaster. Es ist dies ein mittelloser Gedanke, der voraussichtlich Unikat bleiben wird.
Oskar studiert das ferne Gewölk, seine Gestalt, seine Bewegung. Manches gleicht Zigarren, anderes zerfetzten Lumpen. So ungleichmäßig das eine ist, die Gestalt, so gleichmäßig zeigt sich das andere, die Bewegung. Es ist, als würde beides einander anziehen und ergänzen. Als Kind fragte sich Oscar, ob da oben wohl Uhren ticken, und wo hinter den Wolken die Zeitschranke liegt.
"Was meinst du, Timo, werden wir uns hier selber ein Denkmal setzen, oder werden es am Ende andere tun?"
"Wie … ein Denkmal? Hast du Sorge, wir m ü ssten an diesem wundervollen Ort unsere Tage beschließ en?"
"Es ist weniger Sorge. Außerdem, ob hier oder anderswo, ist das nicht egal? Von diesem Planeten k ö nnen wir ohnehin nicht weg."
"Aha. Deshalb, meinst du, ist es egal, wo man seinen Geist aufgibt?"
"Du tä test es lieber in den Armen einer weiblichen Wesens, nicht wahr?"
"Wie du jetzt gerade darauf kommst."
"Man muss gelegentlich Auseinanderliegendes zusammen denken."
"Wobei mir einf ä llt: Ich hatte mal eine Autopanne mit einer Frau. Es war in Tunesien, und wir kamen in eine heikle Lage. Es passierte in der W ü ste, wir hatten einen Jeep gemietet. Sie fuhr. Pl ö tzlich gab der Wagen seinen Geist auf, mitten im Nirgendwo ."
"Und was habt ihr gemacht?"
" Gevögelt … Grinse nicht, es war so. Und es war ihre Idee. Ich war etwas in Panik, sie gar nicht. Sie fand die Situation prickelnd."
"Bemerkenswert."
"Ich erinnere mich noch, was sie sagte, wenn sie Sex wollte: Komm schon, Darling, steck deinen Schl ü ssel in mein Schneewitchen-Schloss."
"War sie Engl ä nderin?"
"Amerikanerin. Ihre Mutter war Deutsche. Und sie lebte auf beiden Kontinenten. Wir waren drei Monate zusammen."
" Nicht eben lange ?"
"Sie hatte einen herrlichen, schlangengleichen Leib. Aber es war der Leib einer W ü rgeschlange. Sie war äu ßerst besitzergreifend, weiß t du."
"Und wie ging euer W ü sten-Abenteuer aus?"
"Man fand uns rechtzeitig … sonst wäre ich ja auch nicht hier. W äre übrigens nicht schlecht, wenn das jetzt ebenfalls passieren t ä te."
" Wir warten noch eine halbe Stunde und marschieren dann aufs Geratewohl los, okay?”
"Wie sagte dieser Sch ä fer vorhin …Nord ö stlich l ä ge die n ä chste Ortschaft?"
“Ja, so sagte er, glaube ich."
“Und weißt du, wo Nordosten ist?"
"Wir gehen nach dem Stand der Sonne."
"Mit einem munteren Lied auf den Lippen, wie!"
“Genau. Wir wandern fröhlich kreuz und quer, das Jahr war satt, die Trauben schwer…"
“Rilke?”
“Nein, Tauchsieder.”
*
Ein nuklearer Sonnenaufgang. Eine schlecht inszenierte Abenddämmerung. Dann folgte die Stunde des Wolfes, und sie sattelte, zeitversetzt, auf seiner noch müden Pia mater.
Er gähnte und vergaß vorübergehend, den Mund zu schließen. Es war dunkel. Er machte Licht. Das war möglich, denn neben ihm stand eine Lampe. Er dachte nach. Das Verkehrte verrät sich nicht immer dadurch, dass man das Richtige bereits kennt. Er hätte gern einen Spiegel gehabt, um hinein zu sehen. Er war überzeugt, ein ihm fremdes Gesicht zu erblicken. Etwas entzog sich ihm pausenlos, wenn er es zu greifen oder zu begreifen suchte, wohl weil es keinen festen Bestand hatte, sondern flüssig war wie Spucke. Er redete sich gut zu, indem er sich sagte, man müsse nur bei Gelegenheit das Gegenteil von dem denken, was man glaubt, denken zu müssen, und manches änderte sich, würde vielleicht sogar klar oder doch wenigstens klarer. Für ein paar flüchtige Augenblicke beruhigte ihn das, bis ihm etwas anderes einfiel: Der 8.April…war das nicht schon gewesen?! Wie konnte ein Datum solch eine Gewalt über das eigene Denken gewinnen, ausgenommen vielleicht, es handelte sich um ein Todesdatum? Einstweilen gab er sich geschlagen, forschte nicht weiter nach. Er war also hier. Es mochte Anfang April gewesen sein, dass er woanders gewesen war. Nun, aus dem Mann mit den zwei Gesichtern war eben der Mann mit den zwei Adressen geworden. Auf eine gewisse Art war er jetzt hier ansässig, er war sich aber sicher, dass es noch jenen anderen Ort gab, an dem sich zuvor sein Zuhause befunden hatte. Er erinnerte sich unvermittelt, gehört zu haben, wie einige ihm unbekannte Stimmen sagten, man habe die Laborwerte und später die Säuglinge vertauscht, oder auch andersherum. War von ihm die Rede gewesen? Doch nein, er war kein Säugling mehr, ganz bestimmt nicht. War er etwa Vater geworden? Ach, beruhigte er sich, das alles waren wahrscheinlich nur aufdringliche Laute aus den Wurmlöchern seiner Existenz, diese Stimmen, diese unnützen Worte. Wie war das mit ihm, wenn er zu viele Worte machte? Er beherrschte die Grammatik nicht, sie beherrschte ihn. Folglich ließ er es lieber und fasste sich kurz.
"Wie geht's?"
"Danke, ich habe zu tun."
Die Frage war ihm mehrfach gestellt worden, die Antwort gab er nur einmal. Es musste schon eine Zeit her sein. Er stand auf, es war Morgen, aber noch nicht hell, wie er, nachdem er die Vorh ä nge vor den Fenstern aufgezogen hatte, mit einem Blick nach draußen feststellen konnte. Er machte sich ein wenig zurecht, f ü r die Sterne, denn andere waren nicht zugegen. Er war allein. Selbst der Mond hatte offenbar Ausgang.War er eingesperrt in diesen Raum? Es war ein Einbett-Zimmer? Ab und an, erinnerte er sich, war eine junge Frau herein gekommem, eine Pflegerin - ja, es k ö nnte eine Pflegerin gewesen sein - hatte sein Kopfkissen gerichtet. Er hatte sich dabei wie ein beliebiges, ja, nutzloses St ü ck Fleisch gef ü hlt, vielleicht noch mit einer Nummer versehen. Er selbst kannte die Nummer nicht. Ihm wurde bedeutet, er habe hier nichts zu sagen. Aber jeder hat etwas zu sagen und wenn es nur 'Guten Tag' und 'Guten Weg' ist. War er denn ein Nichts? Nein, soweit war es noch nicht. Sonst h ä tte man nicht nach ihm gesehen. Er konnte sich ohne fremde Hilfe bewegen, aufstehen, sich waschen, auf Toilette gehen. War die Toilette nicht auf dem Flur gewesen? Er besaß keine pers ö nlichen Sachen. Er musste lange geschlafen haben, vielleicht war es eine Art Koma gewesen. So etwas gab es. Hatte er einen Unfall gehabt? War das hier wirklich ein Pflegeheim oder doch mehr eine Unfallstation oder gar beides? Er war sich nicht sicher. Er konnte sich nicht sicher sein. Er w ü rde die Schwester oder Pflegerin fragen m ü ssen, wenn sie das n ä chste Mal kam … falls sie ein n ä chstes Mal k ä me. Er erinnerte sich ihres Namens: Fr é n é sie. Ein Name wie eine Krankheit. Ein sch ö ner Name. Und auch seine Gedanken irrten ab. Sie gerieten aus ihrer flachen Umlaufbahn und im Anschluss einander ins Gehege. Er h ä tte, wenn er es gew ü nscht h ä tte, dem Vorgang vielleicht eine ü berraschende Seite abgewinnen k ö nnen, aber ihm war nicht danach. Wozu auch? Zu viele Fragen, die man auf diese oder jene Weise aufwerfen w ü rde, zu viele Antworten. Wobei in der Regel einiges von der Interpunktion abhing, oder, nicht oder, doch? Das Komma konnte Dinge verdrehen, machte, so fantasierte er, dass sich die W ö rter zueinander hin neigten, der Punkt, dass sie nicht umkippten. Er verfolgte das nicht weiter. Es waren gefiederte, fahnenflüchtige Gedanken. Sie flogen auf und davon. Er senkte sein schwindliges Haupt. Wie konnte man sich aber seiner Urteile je sicher sein? Es kam manches so selbstverst ä ndlich daher, h ä ufig war jedoch T ä uschung mit im Spiel, man t ä uschte sich und ließ sich t ä uschen, von der Wiederkehr des scheinbar ewig Gleichen, aus Gewohnheit. Ja, das war es: Die Gewohnheiten. Sie stiegen, wie Treibsand, aus den Niederungen auf, wo sie zuhause waren und verpesteten die H ö henlagen, wo frische Lüfte wehten; vergebens. Das Moment der Tr ä gheit. Es durfte an dieser Stelle nicht unerw ä hnt bleiben. Es war der Gewohnheit benachbart, sie geh ö rten demselben Klub an, wenn es denn einer war. Vielleicht war es auch mehr eine Art Loge, ein Geheimbund. Sie waren zahlreicher, als man es sich tr ä umen ließ. Denn sie tarnten sich. Am Ende war jedes Gehirn, hatte es erst einmal einen gewissen Reifungsgrad erreicht, ein in sich geschlossenes, ritualisiertes, starr gef ü gtes und f ü r Unbefugte unbegehbares kleines Universum, abgef ü llt mit privatem Brauchtum, eine Parzelle unkalkulierbarer Inhalte, die gegebenenfalls nur darauf wartete, ja, herbeisehnte, eines Tages aufplatzen zu d ü rfen, dann n ä mlich, wenn die Gunst der Stunde es erlaubte, im Kriegsfall, im Gef ü hlsrausch, im Exzess. Bewohnte nicht ein jeder sein eigenes Wahnsystem? Aber letztlich blieb nichts ü brig. Auch gute Taten, bessere Tr ä ume wurden zu Staub. Alles war am Ende tr ü gerisch. So stand es schon im Buche Kohelet geschrieben. Jedenfalls, der Mensch, so stellte er abschließend fest, war eine Tretmine, ja, ganz gewiss war er das oder zumindestens etwas Ähnliches .
Es gibt Momente, dachte er, die keine sind, weil, sie sind zu lang. Sie spreizen sich. Andere knicken ein, sie wurden zu fr ü h verplant. Er schritt das Zimmer ab. Das war rasch erledigt. Er sah sich um. Viel gab es nicht zu sehen. Er sah erneut aus dem Fenster. Weiterhin alles schwarz. Er sah zur T ü r. Er h ä tte sie ö ffnen und wieder schließ en k ö nnen. Vielleicht sp ä ter. Er setzte sich auf den Rand des Bettes, kratzte sich, ü berlegte, kratzte sich, ü berlegte … Man konnte immer so weiter machen. Er h ä tte gern ö ffentlich bekannt gemacht, dass er ü ber seine Lage nachsann, dass er bereit war zu reden, Auskunft zu erteilen. Doch wor ü ber? Ihm fiel nichts ein, so sehr er gr ü belte, obwohl das Wort 'gr ü beln' die Sache nicht wirklich traf. Man kannte das aus dem Kino: Pl ö tzlich wachte einer auf und hatte keine Erinnerung…
Oskar legt das Büchlein aus der Hand. Er wollte eigentlich nicht mehr darin lesen. Wieso übrigens ist ihm bei der Lektüre die Autopanne vom vergangenen Wochenende in den Sinn gekommen? Er würde jetzt gern mit Timo reden, doch Timo ist abgereist.
Oskar geht auf die Terrasse. Kinder laufen über das Grundstück. Er denkt kurz daran, sie zu verjagen, lässt es aber. Als sie ihn sehen, lachen sie und schneiden Fratzen. Dann laufen sie davon. Es werden, denkt er sich, Kinder aus der Nachbarschaft sein, von jenen umliegenden Ferienhäusern, die bewohnt sind. Es ist auch egal.
Er legt sich in die Hängematte. Eine Idee von Constanze. Er hat sie vor zwei Tagen aufgespannt. Sie haben sie zufällig in der Garage entdeckt, unter Gerümpel. Meistens wird sie von seiner Frau benutzt, wenn man hier überhaupt von ‘meistens’ sprechen kann.
Neben der Hängematte liegt ein Magazin auf den Steinfliesen, es ist eine Frauenzeitschrift, eine bereits etwas ältere Ausgabe der Marie Claire. Er nimmt sie an sich, blättert darin. Plötzlich sticht ihm ein Artikel gesondert ins Auge. Er zeigt Bilder einer Ausstellung, irgendwo in New York. Eines der abgelichteten Werke kennt er, von früher her. Er kann nicht mehr sagen, wo er es erstmalig gesehen hat, ob in einem Museum oder an einem anderen Ort und ob im Original oder in einer Reproduktion, Vermutlich geschah es in Begleitung seiner Frau, anlässlich einer dieser Vernissagen, zu denen sie ihn gerne mitschleift.
Schon damals war ihm das Malwerk aufgefallen. Er sieht es sich jetzt erneut interessiert an. Es ist nur auf einem kleinen Foto zu betrachten und auch dort nur in einem Ausschnitt. Den Rest ergänzt seine Erinnerung. Das Gemälde: Ein spielendes Kind auf einer blühenden Wiese im hellen Sonnenschein. Dahinter ein Haus. Davor ein Mann und eine Frau im Streit. In der Nähe west der Kadaver eines verendeten Tiers. In der Ferne ziehen Unwetter auf. Ein schlichtes Bild, mit einer schlichten Unterzeile: Das schöne, schreckliche Leben. Er liest das, er entsinnt sich, er kennt das, jeder kennt das, und siehe, es kühlt vorübergehend die Grübelsäfte in seinem Denkapparat, es dekantiert sie. Und dann, brummt er, indem er, wie einst als kleiner Bub, zum Himmel aufschaut, der sich an diesem Morgen als gefiltertes Abbild einer weich zeichnenden Kameralinse zeigt, warten wir nur noch ungeduldig auf den lang angekündigten Vortrag: Gott erklärt uns Raum&Zeit.
*
" Eines solltest du strikt vermeiden, mein Freund: dass man von dir in der Vergangenheitsform spricht."
Mohun stellte seine Worte, sie ungewohnt sorgfältig wägend, wie Positionslichter in den Raum, ganz so als gelte es, jemanden zu einem Erste-Hilfe-Kursus zu überreden. Man kann den Kopf senken und heben, so dass es nach einem Nicken aussieht, ohne dass es so gemeint ist. Oscar tat genau das. Mohun zog eine Schachtel Gitanes hervor, hielt sie ihm entgegen. Sie rauchten.
" Ich fliege über morgen."
"Allein?"
"Saloua wird mich begleiten."
"Ich dachte, ihr läget im Streit."
" Streit würde ich das nicht nennen. Sie ist mitunter etwas bockig, das ist alles. Da muss man ihr dann zeigen, wer der Herr im Hause ist. Das braucht sie von Zeit zu Zeit."
"Wie habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?"
Bei dieser Frage lachte der Befragte überrascht. In Oscars Ohren klang es, obwohl das nicht zutraf, ein bisschen scheppernd. Mohun stippte Asche von seiner Zigarette, parterre.
"Genau genommen sollte ich dir nicht davon erz ählen."
"Warum nicht?"
"Sie war ja minderj ä hrig, als sie meine Geliebte wurde. Ihre Eltern wussten nichts von mir. Es w ä re mir nat ü rlich auch egal gewesen, h ä tten sie es gewusst.”
Oscar bereute es, sich erkundigt zu haben. Nicht der Antwort wegen. Er wollte, bei näherer Betrachtung, doch gar nicht so exakt wissen, was hatte geschehen müssen, damit aus Mohun und Saloua ein Paar geworden war. Er sah den kleinen, stämmigen Mann an, blickte in seine dunklen Mohrenkopfaugen, die er mit Saloua gemeinsam hatte, nur, seine waren etwas wässriger.
Wie standen Mohun und er miteinander? Wären sie, hätten sie sich als Knaben bereits gekannt, Spielgefährten, Freunde geworden? Es war gegenwärtig jedenfalls ein zwiespältiges Verhältnis, eines gemacht aus ungleichen Zahlen.
Oscar betrachtete die dreieckigen Plastik-Aschenbecher mit ihren Cincano Aufschriften, die einzeln oder paarweise auf den Tischen standen. Ähnelten sie nicht miniaturisierten Raumschiffen? Der, den er mit den Fingern hin und her verschob, war leer bis auf zwei Zigarettenkippen. Es war halbfünf Uhr abends und gerade dunkel geworden. Es wurde Winter.
Draußen an der Place Clichy warfen die Leuchtschriften der Reklameschilder und die Bogenlampen ihr Feuer in die aufkeimende Nacht, Lichter, die tanzten, die ineinander flossen, die sich vereinigten, wie es Liebespaare tun. Wie es sich wohl anfühlen mochte, überlegte Oscar, wenn er noch einmal ein junger Mann hätte sein können, ausgelassen, unsicher, verspielt, melancholisch, heiter? Aber ich bin ja jung, dachte er, innen bin ich es, da hat sich nichts verändert, da bin ich derselbe geblieben, und wenn ich je ein anderer war, dann nur in den Augen einer ignoranten Mitwelt.
Für einen stillen, stillstehenden Moment blieben die Wände seiner Vergangenheit farblos und nackt, ehe sich plötzlich Bilder ankündigten. Tausendfach. Aus ungezählten Stunden durchwanderten sie seinen Schädel. Nicht eines aber war anfangs darunter, dass ihm gefallen wollte. Zu viele Schatten. Doch ganz ohne Schatten, das musste er zugestehen, blieben die Dinge flach und leblos. Er ging weiter zurück in der Zeit, in seiner Zeit, fort von einer Gegenwart, die einen so fest umfangen halten konnte und die zugleich so flüchtig war, zu flüchtig, um sie - wenn man denn den Vorsatz dazu hatte - wirklich fassen zu können, die andrerseits aber eine unbändige Kraft zeigte, mal als Faust mal als Gebärende, während Vergangenes und Zukünftiges nur unzuverlässige Kavaliere zu sein schienen, die ihr höflich oder auch scheinheilig den Arm boten.
Er raste, wie in einem Kinofilm, den er früher einmal gesehen hatte, in der Zeitmaschine rückwärts, in einer rasanten Achterbahnfahrt; Kulissen flogen vorüber, Moden wechselten, die Auslagen der Schaufenster; Schlagzeilen änderten sich, Gesichter, Wolken, Jahreszeiten, und einzig letztere kamen in Wiederholung. Am Ende stieß er auf etwas, das ihn erstaunte. Auf ein Bild aus seiner Kindheit. Es war ein Klassenfoto. Darauf sah man ihn im Kreise seiner Mitschüler, zweite Reihe, der dritte von links, stehend; mit einer Kappe auf dem blonden Haarschopf (ja, als Kind war er blond gewesen), ein kleiner Wildfang, offen und neugierig der Blick, doch auch ein bisschen melancholisch, und der Kamera zugewandt.
Oscar schielte in die Runde, schob den Ascher weg. Er fing einen Blick Mohuns auf. Hatte der ihn jetzt beobachtet? Mit seinen großen, stets wachsamen Augen? Egal. Er schloss die Filmbüchse. Es war ein kurzer, steiler Tauchgang geworden. Im Express-Tempo, hinein in die privaten Tiefseegräben, in die eigenen Abgründe…
Nein, so wollte er in diesem Fall nicht urteilen. Sie war ja sanft ausgeklungen, seine innere Bilderfolge. Abschließend schmückte er sie mit einem Kommentar seines Klavierlehrers Samrei:
Eine schöne Erinnerung ist wie ein schönes Weib, mit einem Unterschied: sie altert nicht.
“Ich verschwinde jetzt, Oscar.”
“Ich bleibe noch.”
“Was geht vor hinter deiner blassen Stirn? Ich frage mich das manchmal.”
“Das Übliche.”
“Das glaube ich dir nicht... Pass auf dich auf. Wenn du der Polizei in die Arme laufen solltest: Du weißt von nichts. Ich melde mich von unterwegs. Falls du einen Rat brauchst, halte dich an Joe. Und mach mir keinen Ärger, hörst du! Sei ein braver Junge.”
“Ich hoffe nur, ehm, dass hier nicht alles drunter und drüber geht, während du weg bist.”
“Wir müssen da jetzt durch. Ich werde bald wieder zurück sein. Du schaffst das schon. Zeig, dass du ein ganzer Kerl bist. Jetzt hast du Gelegenheit dazu. Adieu!”
Mohuns Stimme war ungewohnt sanft. Er hob die flache Hand zum Abschiedsgruß und verschwand. Wenigstens hatte er sich verabschiedet. Oscar hatte schon geglaubt, er würde einfach so absegeln, den Scherbenhaufen einfach so zurücklassen. Nein, er hatte sich gestern überraschend noch einmal gemeldet und die heutige Verabredung angeboten.
Was würde er, Oscar, selber jetzt tun? Für die nächsten Tage hatte er frei. Erst musste das Gouffre Bleu wieder flott gemacht werden. Es sah aus wie nach einem Luftangriff. Damit hatte er nichts zu schaffen. Darum kümmerten sich Joe und die anderen. Er konnte vorläufig zuhause bleiben. Dort allerdings fiel ihm, das wusste er, die Decke auf den Kopf, mehr noch, das Dach des Universums. Er wollte auch nicht wieder mit dem Trinken anfangen, hatte er sich doch schon, was das anbetraf, letzthin recht erfolgreich dagegen gewehrt, beständig Bruder Martin als Gesellschafter um sich zu haben. Aber war das eine Sache des freien Willens? War der Wille überhaupt frei, oder war er vielleicht nur ein Lesezeichen? Oscar erhob sich, pfiff durch die Zähne. Und was, sehr verehrtes Publikum, spielen wir als Nächstes? - Musik für kommende Festtage.