Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеDer Strand dehnt sich weit, verlassen, leer.
Er mag das. Es ist noch früh, kurz nach Sonnenaufgang, und es ist außer ihm niemand hier. Oskar saugt die Seeluft ein, die nach Tang, Salz und blauer Ferne riecht, lauscht den multiplexen Schreien der Möven. Fülle des Augenblicks, kissenweich. Weiße Muße. Keine Zeitpeitsche, die unerbittlich nach einem schlägt.
Er ist fünf Kilometer gelaufen. Er ist gut im Training. Es hat ihn kaum Anstrengung gekostet. Jetzt geht er. Oft bleibt er stehen, schaut übers Wasser, schaut hierhin, schaut dorthin, bückt sich nach Muscheln im Sand… Hahnenkämpfe, nein, Muschelkämpfe, während einer Klassenreise nach Sylt (oder war es Amrum gewesen?) Spielerische Zweikämpfe unter Kameraden... Herzmuscheln, deren verdickte Kopfenden man ineinander hakte, um sie dann einer knirschenden Zerreißprobe zu unterziehen, solange, bis der Kalk eines der ungefragt konkurrierenden Weichtiere geborsten war. Wer hatte am Ende die stärkste Muschel? Hier finden sich nur wenige dieser Gattung.
Ein einzelner Mensch kommt ihm am Strand entgegen, ein Mann mit einem Schäferhund. Er grüßt. Oskar grüßt zurück. Franzosen lieben deutsche Schäferhunde. Oskar schlägt einen Bogen. Er sucht die Stille. Er weidet sie aus. Er denkt an gestern. Er hatte im Ort etwas erlebt, was in dieser Kulisse geradezu riesenhaft wirkte.
Es geschah im Scheitel des Tages, er wurde Augenzeuge eines schweren Verkehrsunfalls zwischen einem bulligen Lieferwagen und einer jungen Frau, die eine unbesetzte Kinderkarre schob. Es war wie eine rasche, gewalttätige Kopulation. Die vier Räder der umgestürzten, nur leicht beschädigten Karre drehten potemkinsch ins Leere. Die Frau überlebte den Zusammenstoß nicht.
Da zeigte er sich plötzlich, der tödliche Zungenkuss der Vergänglichkeit (Oskar spürte ihn) nach einem kurzen Ausritt des Lebens - Als er jünger war, war er viel auf der Piste unterwegs gewesen, nachts, in Bars, Kneipen, Tanzlokalen. Er hatte nicht allein etwas erleben wollen, es war ihm darum zu tun gewesen, in die menschliche Existenz, in die menschliche Zelle hinein zu leuchten, am liebsten in jede einzelne von Milliarden. Warum? Um das Leben an seiner Quelle zu ertasten, um zu sehen, was es in der Tiefe ausmachte, was sein Geheimnis war, wo seine Gesetze lagen. Er selber hingegen hatte dabei gerne die Distanz gewahrt. Ja, und als er jünger war, hatte er natürlich nicht ans Ende gedacht. Doch ist die Vorstellung, es könnte auf ewig so weitergehen, denn weniger unheimlich, als die, dass die eigene Existenz eines Tages erlischt?
Andrerseits, so dachte er Jahre später, existieren womöglich auch zahllose Seelen, die, würden sie je einen Blick riskieren, hinab in die gefalteten Abseiten des eigenen Selbst, dort nichts als Gräber vorfänden, Jahrmillionen alt, und - hätten sie den Mut, diese zu öffnen - feststellen müssten: die Gräber sind leer. Und gehörte er nicht ebenfalls zu diesem Club?
Oskar taucht die Füße ins Wasser.
Es ist an der Zeit, umzukehren. Constanze wird schon warten. Sie wollen heute zum Großeinkauf in den Hypermarché. Zuvor wollte sie noch Hausputz halten. Darin ist seine Frau schnell. Dennoch, er hat sich zeitig aus dem Staub gemacht. Im Zuge dieser Säuberung wird sie wieder Berge an unnützem Kleinkram von einem Raum in den nächsten verschieben. Denn sie hat einen Sammeltick. Sie kann nichts wegwerfen. Oskar schmeckt die salzige Luft. Er könnte noch für Stunden hier am Strand, am Meer entlang wandern.
Er denkt an seine Mutter. Er wirft Sand mit seinen nassen Füßen auf. Seine Mutter lebt im Altersheim. Sie wird bald neunzig. Sie ist älter als der Vater, der jetzt zwanzig Jahre tot ist. Oskar kann sich gar nicht erinnern, sie früher so streng erlebt zu haben, so monadisch. Sie ist konservativ und prinzipientreu, ja, das ist sie. Und sie war einmal eine sehr schöne Frau. Er schaut himmelwärts. Eine vornehm monochrome Wolke spreizt ihren Sommerrock. Es könnte Gewitter geben. Das geht an der See bekanntlich im Handumdrehen.
Dann war da noch dieses Zerwürfnis, gestern Abend. Ein Streit, der aufbrach wie eine giftige Pflanze. Dieses Mal war nicht er daran schuld. Aber er war der Beschuldigte. Er fühlte sich nicht als solcher. Sie warf ihm ein paar Dinge an den Kopf, doch sie hatte die Flugbahn falsch berechnet. Sie machte den Fehler, auf zu altes Material zurückzugreifen. Es beeindruckte ihn nicht. Es ging sozusagen in gekrümmter Linie an ihm vorbei. Ihre Stimme, die wie zersprungenes Glas klang, füllte den Raum mit Vorwürfen, die als dicke Regentropfen kamen, doch war nichts darunter, was seinem Empfinden nach das Aufspannen eines Schirms gelohnt hätte. Sie redete in Sätzen, deren Ausgang er kannte, ehe sie ganz ausgesprochen waren. Er hätte manches auswendig hersagen können. Das meiste davon war, wie er es sah, im Grunde verjährt. Er wurde undurchdringlich und hart. Hinterher tat es ihm leid…
Oskar wendet sich der Landseite zu. Zu den Dünen hin wird der Sand schrittweise gröber. Ich will jetzt zurückgehen, denkt er, und es ihr sagen. Als er das Haus erreicht, hört er von draußen das Geräusch des Staubsaugers. Constanze ist also noch bei der Arbeit. Er zögert, bleibt nahe der Terrasse stehen und schaut über den verdorrten Rasen, über den Zaun, über das schmiedeeiserne Tor, die das Grundstück nach hinten begrenzen. Beide sind halb zerfallen. Sie haben keine Funktion mehr. Oskar streicht sich über den haarlosen Schädel. Die Nachbarn schlafen noch, nein, sie sind gar nicht da. Das Auto steht nicht vor der Tür. Oskar betritt das Haus.
“Es tut mir leid wegen gestern.”
Er hat abgewartet, bis seine Frau den Staubsauger ausgeschaltet hat. Es wirkte, als beende sie einen Zeitvertreib. Sie trägt ein rotes Kopftuch. Das Haar, das darunter hervor schimmert, ist nass. Sie geht barfuss. Da sie öfter als er in der Sonne war, ist sie bereits gut durchgebräunt. Es vergeht eine Weile, ehe sie sich ihm zuwendet. Sie streift ihn mit einem kurzen Blick, während sie sich eine Zigarette anzündet. Sie ist ein hoch gewachsener, nervöser Frauentyp. Trägt sie Schuhe mit hohen Absätzen, ist sie größer als er, obwohl Oskar nicht klein ist.
“Du warst wieder einmal sehr ausfallend.”
“Ich weiß.”
“Und abweisend.”
“Ja, entschuldige.”
Constanze erweckt den Eindruck, als wolle sie noch etwas hinzufügen, doch sie schweigt. Auch er schweigt. Nach einer Weile sieht er sie geradeheraus an.
“Unser Leben verläuft doch eigentlich in geordneten Bahnen, nicht wahr?”
“Ist es das, was dich derzeit umtreibt?”
“Nein. ich meine nur, es fehlt uns doch an nichts, materiell betrachtet.”
“Warum betonst du das so?”
“Keine Ahnung...Vielleicht, weil ich denke, was morgen wird, müsste uns nicht beunruhigen, nicht ernsthaft.”
Sie lässt sich ziemlich viel Zeit mit einer Entgegnung. Sie ist keine Auster, aber wer sie nicht kennt, könnte sie für spröde halten, nicht zuletzt wegen der zwei scharfen Falten in ihren Mundwinkeln, die sich, wenn sie sich nach außen hin verschließt, wie Schützengräben aufrichten können. Sie sind in den letzten Jahren prägnanter geworden. Doch im Grunde ist sie ganz weich. Als Oskar das erste Mal mit ihr Sex hatte, glaubte er, in eine Kissenhöhlung aus Daunenfedern einzudringen. Und auch ihr Herz ist, tief drinnen, aus Daunenfedern. Ihre Widerhaken, ihre Untiefen liegen anderswo.
Man hört das Zwitschern eines Vogels durch die offene Verandatür. Oskar kennt das Lied, aber er wüsste nicht zu sagen, welcher Familie der gefiederte Sangesbruder angehört. Dann ertönt wieder Constanzes Stimme.
“Du könntest dir aber, finde ich, hin und wieder ruhig ein paar Sorgen um die Zukunft machen.”
“Ich mache mir aber keine Sorgen um die Zukunft, eher um die... Vergangenheit.”
“Was willst du jetzt damit sagen?”
“Ah, das ist… schwierig zu erklären.”
Erneute Stille. Er steht, wo er zu Beginn schon stand. Seine Gefühlslage ist nicht geerdet. Sie sitzt auf dem breiten Rand des Sofas, die Beine übereinander geschlagen, den Kopf aufgestützt, raucht, wippt unruhig mit dem nackten rechten Fuß. Auch ihr Blick wandert unstet hin und her. Vielleicht, denkt sie, hätte ich “unsere Zukunft” sagen sollen. Man hört ein Auto am Haus vorbeifahren. Es ist wohl das Postauto. Es ist elf Uhr. Sonst ist es still. Wieder ist er es, der das Schweigen bricht.
“Hast du das Empfinden, unter den letzten Jahren gebe es verlorene Jahre?”
“Manchmal schon.”
Obwohl ihre Antwort ihn nicht wirklich überrascht, ist er dennoch irritiert. Und ihm ist plötzlich leicht elend zumute. Er will es nicht zeigen, aber er spürt, seine Stimmbänder torkeln, es scheint ihm fast, als könnten sie jeden Augenblick reißen.
“Stänzchen, wir sollten...”
“Was...? Was sollten wir?”
“Wir sollten unsere Zeit nicht mit kleinlichem Streit vergeuden.”
Er hat eigentlich auf sie zugehen und sie umarmen wollen, doch er wendet sich der Veranda zu, tritt dort hinaus, kaut hastig die frische Luft wider. Im Garten nebenan steht ein Eukalyptusbaum. Seine Rinde hat Hautausschlag. Liegt ein böser, fauler Zauber darüber Dahinter und oberhalb der weiß gekalkten Mauer, die die Terrasse ihrer Nachbarn umschließt, klettert an einem Kreuz aus Bambusstäben Bougainvillea himmelwärts. Das leuchtende Violett, findet Oskar, hat heute etwas Käufliches.
*
Er kam vom Gouffre Bleu. Sein Schritt war trascinando.
Er ging durch die klebrige Nacht, den Blick stockgerade auf den Erdboden gerichtet, denn ein Blick zum Himmel, das wusste ja jeder, war ein Blick in die Vergangenheit. Mit der wollte er gegenwärtig wenig zu tun haben. Dabei verpasste er gerade so einiges. Prächtige Lichtgirlanden sprühten am Firmament. Seine Sinne, über Stunden bereits auf eine dunkle Tonart gestimmt, nahmen davon jedoch kaum Notiz. Er murmelte, während er voranschritt, vor sich hin, und zwar in einer Art grimmigen Sing-Sang, der sich auf einen Vers und dessen Refrain verteilte:
“Wir sind allesamt keine unbeschriebenen Blätter, sondern Palimpseste.“
Ersteres hatte nicht er gesagt, sondern der alte Samrei, dereinst sein Klavierlehrer, zu einer Zeit, als er zwölf Jahre alt war. Er hatte sich den Satz gemerkt, zunächst nur wegen des letzten Wortes, das eine seltsam holprige Musik verströmte und dessen Bedeutung ihm damals unverständlich blieb.
Oscar rollte seine Zunge ein. Soweit war es also gekommen. Er hatte mit Geschehnissen zu tun, die ihn nichts angingen und die dennoch Teil seiner Tage und Nächte geworden waren, und sie fingen an, ihre Schatten auf seine Fährte zu werfen. Das Personal des Stückes stand fest, der Ausgang nicht. In seinem Kopf pochte eine Handtrommel mit Schellen. Im Staccato sprühte afrikanisches Lachen funkelnd wie frisches Quellwasser über seinem Gedächtnisbrunnen.
“Was du sagst, klingt nach viel Bewunderung.”
“Er ist stark, und ich mag Stärke.”
“Hm.”
“Und er ist jemand, der sich nicht verstellt.”
“Hm. Hm.”
“Er ist der Mann, dem ich Kinder schenken will.”
“Ist er dir nicht zu alt?”
“Ah non.”
Sie biss in die Tafel Schokolade, die von der Farbe kaum dunkler war als sie selbst. Sie brach in der Folge einen Riegel ab und reichte ihm, mit einem chremigen Leuchten in den Augen, das längliche Stück.
“Iß... Es macht froh.”
Er sagte nichts, schüttelte ablehnend den Kopf. Sie entsann sich offenbar nicht mehr der Worte, die sie einmal zum Thema ‘Alter’ ihm gegenüber geäußert hatte. Er aber erinnerte sich, leider, und diese Erinnerung war inoperabel.
Was fesselte sie nur an diesem Menschen? Die Antwort schien einfach: sie liebte ihn. Sie liebte den Mann, der ihren Vater in der Hand und, zumindest mittelbar, mit dem Überfall auf das Rapzodie zu tun hatte. Davon wusste sie wohl nichts. Oskar hätte sie darüber aufklären können. Das wollte er nicht. Das konnte er gar nicht. So wie er zunächst nicht wahr haben mochte und konnte, dass die zwei ein Paar waren. Doch das war ein Faktum, womöglich auch Fatum. Die beiden gehörten zusammen, dennoch bestahl sie Mohun heimlich. Sie half so der kleinen afrikanischen Kolonie, jener Gruppe von Personen, die, ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, in Ruinen im Osten der Stadt hauste. Das war nun sicher nicht die ganze Geschichte, ja, nicht einmal die halbe.
Er blieb stehen. Er war im Kreise marschiert. Er stand wieder vor dem Nachtclub. Er wischte sich die Stirn. Sterne klimperten geschäftig im Himmelsgesteck. Er schwitzte. Er empfand Angst. Sie fing ihn mit ihrem Lasso ein. War das hier seine neue Schicksalsadresse? Er sah nach der Uhrzeit. Es war fünf Uhr in der Früh. Was war vor Stunden, was war am Vortage geschehen? Diese üble Bande von Ganoven, die ihn umstellt, die ihn bedroht hatte... nein, das war zu einem anderen Zeitpunkt passiert. Und das verstimmte Klavier? Das war passé. Mohun hatte es stimmen lassen, gestern. Und er, Oscar - er sah die Kulisse eisgrau vor sich aufsteigen - war dabei gewesen, hatte getan, was ihm selber vielleicht gut täte, nämlich Aufsicht geführt. Er hustete. Er stoppte den Film, startete den Rücklauf. Die Stadt schnarchte breit vor sich hin…
Er vergrub die Hände in den Taschen seiner Hose. Sein Gang war unstet, mollusk. An seinem Hosengürtel baumelte, als wäre es ein Messergurt, ein lederner Köcher, in welchem, eingerollt, Notenblätter steckten. Oscar ging ohne Jackett. Die Stadt hatte Flügel. Es war warm. Es war heiter. Er hatte die Ärmel seines weißen, gebügelten Hemdes aufgekrempelt. Die Haut seiner Arme war fast ebenso weiß und babyglatt. Er hatte ein Musikstück transkribiert. Die Schrift, in der er Noten setzte, war sauber und gestochen scharf. Für diese Akkuratesse war er früher schon unter seinen Kollegen berühmt gewesen.
Er blieb vor einer Litfasssäule stehen. Dort warb man im Schein der Straßenbeleuchtung für eine in der Stadt gastierende amerikanische Swing-Combo. Die Reklame war den Plakaten der Dreißiger Jahre nachempfunden. Als junger Mann hatte auch er in einer solchen Formation gespielt…
Es waren die Vorkriegsjahre. Sie waren zu fünft. Man lebte und arbeitete in Hamburg und traf sich abends und nachts, nach den Auftritten, in einer Künstlerkneipe in der City, nahe der Steinstraße. Der Name des Lokals war ihm entfallen. Mitunter waren auch bekanntere Künstler unter den Gästen, sie kamen aus dem Trichter oder aus dem Café Heinze, Teddy Stauffer soll nach einem seiner Hamburger Konzerte unter den Besuchern gewesen sein, die Künneke war, nach dem Krieg, mehrmals dort und andere, deren Namen später, im Laufe der Jahre wieder verblassten.
Es waren schwierige Zeiten. Die Musik stand unter Verbot. Es gab Razzien. Dennoch, die Kneipe überlebte den Krieg. Ihre Blütezeit hatte sie eigentlich erst in den Jahren danach, monetär gesehen. Oscar entsann sich des zweiten Nachkriegswinters. Schieber, Schwarzmarkthändler, Hafengrößen, gelegentlich ein Lude, viele die Taschen prall gefüllt mit Banknoten, Zigaretten, Zigarren, goldenen Uhren; kleine, große, beleibte Männer in langen Mänteln, mit breitkrempigen Hüten, junge, mit Schminke verminte Frauen, in Zobelpelz und Fuchsstola, gaben sich hier, jenseits der zeitkonformen Kulisse aus Kriegsruinen, Steckrüben, schlechten Pralinen und Buttermarken ein munteres, ein gieriges, ein ausschweifendes Stelldichein. Künstler fanden sich zunehmend seltener unter den Gästen.
Eines Abends, an einem frostigen Montag im Februar, er war zu dieser Zeit ohne feste Arbeit und mehr aus wehmütiger Erinnerung noch einmal in die Kneipe gekommen, lernte er Cornelia Stramm kennen. Knapp ein Jahr dauerte es, und sie waren verheiratet. Sie war dieses erste Mal in Begleitung einer Freundin und ihres älteren Bruders. Ihr Bruder hieß Martin und mixte aus billigen Rohstoffen Duftwasser zusammen, das er, abgefüllt in kitschig bunten Flakons, als Parfüm an reiche Kaufleute verkaufte. Er machte Geld damit. Vor allem in der Nachbarschaft christlicher Festtage blühte das Geschäft. Er gründete eine Firma und lebte in Saus und Braus, und das in jenen Zeiten! Später lösten sich seine Gewinne in Spirituosen auf. Durch ihn lernte Oscar das Kettensaufen. Seitdem hieß der Alkohol bei ihm Bruder Martin.
Das Gouffre Bleu hatte noch zu. Oscar hatte die Schlüssel. In Kürze würde der Klavierstimmer kommen. Er betrat den abgedunkelten Saal, machte Licht. Es gab eine Bühne. Davor stand ein Piano. Er war der Pianist. Er spielte nicht mehr, wie vormals, auf dem Bandoneon. Und er spielte andere Stücke, unbekannte, frische Klänge, frische Rhythmen - Bossa Nova. Mohun hatte das Lokal einem Pariser Gastronom abgeworben, obwohl ‘abgeworben’ die Sache nicht ganz traf. Der andere hatte sich in einer finanziellen Notlage befunden und Mohun hatte ihn, wie er süffisant bemerkte, daraus befreit.
“Schlecht in Gelddingen, der Mann. Beschäftigte sich zu viel mit Poesie.”
Das Interieur des Clubs war einem Aquarium nachempfunden. Es sah, so empfand Oscar es, etwas lemurenhaft aus. Aber waren so nicht große Teile der Gegenwart, ja, der ganzen hiesigen Epoche? Es gab einige echte Schaubecken. Mohun hatte die Einrichtung weitgehend belassen, wie sie war, nur die Bar pulste jetzt in schrillen, hastigen Neontönen, und die Bühne war vergrößert worden.
Seit Oscar nicht mehr bei Ferenczy arbeitete, arbeitete er hier. Letzteres war die Ursache, die ersteres zur Folge hatte. Ihm jedoch schien es, als lägen zwischen beidem ganze Dekaden, umzäunt von einem Karussell aus Ereignissen, deren Reihenfolge nicht mehr klar zu beziffern war.
“Alles in Ordnung?”
Etwas legte sich mit sanftem Wiegeschritt auf Oscars Trommelfelle. Es war die Stimme Mohuns. Der hatte unbemerkt den Clubraum betreten. Oscar drehte sich um und antwortete stumm mit einem Kopfnicken. Der Klavierstimmer war bereits wieder gegangen.
“Komm, Oscar, es wartet noch eine Aufgabe auf dich.”
“Und was, wenn man fragen darf?”
“Ich erkläre es dir später.”
Sie traten hinaus ins Freie. Mohun war ohne Wagen gekommen, oder sein Wagen war bereits wieder abgefahren.
Es sei nur ein paar Häuserblocks entfernt, sagte Mohun. Sein Schritt war langsam, federnd, gelassen, als hätte er alle Zeit dieser Welt. In einem Torbogen auf der gegenüberliegenden Straßenseite wartete jemand auf sie. Oscar erkannte die Gestalt bereits von weitem. Es war Saloua, die dort wartete, vor einem Monoprix Laden. Ihm war, als winkte sie zu ihnen herüber. Doch vielleicht täuschte er sich. Unerwartet stieß Mohun ihn mit einer Frage in die Seite.
“Du magst das Mädchen, nicht wahr?”
“Sie könnte die Sonne sein, um die ich kreise.”
Oscar war von der Unmittelbarkeit seiner Reaktion selber überrascht. Mohun sonderte bei dieser Antwort ein Lächeln ab, das etwas von einer Daumenschraube hatte und enthielt sich weiterer Kommentare.
Hätte er es dennoch getan, seine Worte wären zweifelsfrei im Lärm eines Automobils versickert, das eben dicht an ihnen vorüberfuhr. Etwas flog vom Pflaster der Straße auf. Das Auto hatte eine Kronenbourg Flasche überfahren. Oscar blieb, als sie die Straßenseite wechselten, einen halben Schritt hinter Mohun, der nun unvermittelt etwas schneller ging. Was konnte er schon anderes tun?
Die zwei Männer waren einander das erste Mal bei Ferenczy begegnet, unter Umständen, die Oscar, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, mutmaßlich versucht gewesen wäre, anders zu wählen. Eines Abends stand ein weißer Citroën vor dem Eingang des Rapzodie. Es war um Mitternacht. Mohun kam nicht allein. Zwei Männer begleiteten ihn, der eine war Joe Le Brie. Sie grüßten nicht, als sie eintraten. Sie marschierten stramm auf Ferenczy zu, nahmen ihn zangengleich in ihre Mitte und verschwanden zu viert in dessen Büro. Oscar legte sein Instrument beiseite, sah Garcia-Varga fragend an. Dicke Luft, signalisierte dieser stirnrunzelnd. Eine knappe Stunde später tauchten die unangemeldeten Gäste wieder auf. Ferenczy, der nach ihnen aus seinem Büro trat, war leichenblass. Er sagte nichts. Und niemand fragte ihn.
Mohun, der Oscar im Hintergrund stehen sah, trat auf ihn zu und sprach ihn an. Oscar erinnerte sich der Worte, die Mohun an ihn richtete. Er habe, sagte jener mit einem kühlem Lächeln, bereits von ihm gehört... Erst einige Zeit später sollte Oscar erfahren, was es mit dem unerwarteten Besuch auf sich hatte.
Während sie sich, so kam es Oscar wenigstens vor, wie durch Sirup watend, Saloua näherten, lief ihnen ein etwa zehnjähriger Junge vor die Beine. Er baute sich vor Mohun auf und machte, während dieser zum Stehen kam, inmitten seiner wilden, schwarzen Locken ein wichtiges Gesicht.
“M’sieur, warum haben Sie einen Hut auf?”
“Weil ich dann schärfer sehen kann, mein Kleiner…”
Oscar sah gerade gar nichts scharf. Er verscheuchte die Bilder. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es wirklich gestern gewesen war, dass der Klavierstimmer, dass Mohun, dass Saloua... Er befestigte den Blick an dem goldenen Hufeisen, das die zwei Stufen tiefer liegende Eingangstür des Nachtclubs bewachte und welches man, begehrte man Einlass, gegen das schwarze, polierte Holz schlug, woraufhin sich eine kleine Luke öffnete, durch die ein Türsteher spähte, was Oscar an eine weitere, noch kleinere Luke erinnerte, an der Tür zu jener Zelle, in der er sechs Monate der ihm zugeteilten Lebenszeit hatte zubringen müssen... Ich sollte, dachte er, nun langsam doch einmal heimwärts ziehen. Wo aber war das? In einer Dachmansarde?