Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 17
Kapitel 14
ОглавлениеEr fährt ins Krankenhaus. Was ist geschehen? Sie ist gestürzt und hat sich am Kopf verletzt. Es ist auf dem Fahrrad passiert. Sie hat ein Einzelzimmer. Nun, das ist selbstverständlich, schließlich sind sie privat versichert. Der behandelnde Arzt, dem er kurz auf dem Korridor begegnet, macht einen langmütigen Eindruck, wenngleich seine Gesichtsfarbe, wie Oskar findet, die Annahme nähren könnte, in den Tiefen seines Seelenkastens poche eine cholerische Ader.
Oskar kommt, wie es sich gehört, mit Blumen. Constanze liegt in einem weißen, metallenen Krankenbett, die Hände über einer weißen, sauberen Bettdecke gefaltet, den Kopf zur Hälfte in einem weißen Verband, der den Gedanken an einen Turban nahe legt. Sie schaut ein bisschen pathetisch geradeaus. Er sucht nach einer Vase für die Blumen, es sind keine Chrysanthemen, sondern Astern und lässt sie sich schlussendlich von einer hilfreichen Schwester abnehmen, die in der erklärten Absicht damit verschwindet, einen passenden Behälter ausfindig machen zu wollen. Oscar setzt sich auf den Bettrand und greift nach der Hand seiner Frau. Es ist die linke.
“Wie geht es dir?”
“Gut.... Sag jetzt bloß nicht: Du machst vielleicht Sachen, oder: Wie konnte das nur passieren?”
“Erzähl es mir trotzdem, Schatz.”
“Ich bin umgefallen, ich weiß auch nicht, wie.”
“Wo bist du denn umgefallen?”
“In einer Kurve. Es war etwas abschüssig und ziemlich glatt, vom Regen. Und ein Bus kam. Er war dicht hinter mir und hupte. Ich glaube, das hat mich erschreckt.”
“Armes Kleines...”
“Lass nur, es geht schon wieder.”
Sie richtet sich ein Stück auf. Er will ihr dabei helfen, schiebt ihr das Kissen in den Rücken. Es gibt einen Knopf, der - man kennt das - wenn man ihn drückt, dafür sorgt, dass das Kopfende des Bettes sanft seinen Winkel verändert. Constanze betätigt ihn.
“Es ist keine schlimme Verletzung. Ein Riss in der Kopfhaut. Er musste aber genäht werden.”
“Hast du Schmerzen?.”
“Nur ein leichtes Pochen, nicht mehr. Ich werde morgen bereits entlassen.”
“Schön. Ich hole dich dann mit dem Wagen ab.”
Die Schwester kommt zurück. Sie stellt stumm und lächelnd die Blumen neben dem Bett auf einem Beistelltisch ab. Als Vase dient ein Gefäß, das ein wenig an einen pot de chambre erinnert. Oscar folgt ihr mit den Blicken, als sie das Zimmer wieder verlässt. Sie ist jung, sympathisch und dunkelhaarig. Irgendwann, denkt er, wird sie heiraten und Kinder haben… Rasch dreht er dann den Kopf zurück in Richtung seiner Frau.
“Timo hat angerufen.”
“Was sagt er?”
“Es hat ihm gut gefallen bei uns. Er ist in Brüssel. Er sendet dir tausend Küsse.”
Sie reden noch ein paar Takte miteinander. Dann geht Oskar. Auf dem Gang kommt er an einem Zimmer vorbei, dessen Tür offen steht. An einem Tisch sitzt der Arzt, Dr. Billet, er blättert in einer Zeitschrift. Es ist ein Blatt für Freunde und Liebhaber der Eisenbahn. Das kann Oskar zwar zunächst nicht sehen, doch der Arzt winkt ihn heran, und da sieht er es.
“Ihre Frau kann morgen bereits nach Hause.”
“Ja, sie hat es mir gesagt.”
“Es war nur ein kleines Malheur. Sie müssen sich weiter keine Sorgen machen.”
“Ja, danke, Doktor.”
“Interessieren Sie sich für Eisenbahnen?”
“Nein, weshalb?”
“Ich dachte, weil Sie gerade so aufmerksam auf das Magazin hier geschaut haben.”
“Ist es denn Ihr Hobby?”
“So kann man sagen, ja.”
“Ich habe einmal an der Konstruktion einer Eisenbahnbrücke mitgewirkt.”
“Sie sind Architekt?”
“Ja.”
“Ein schöner Beruf. Man schafft Dinge, die bleiben, die einen gar überleben, nicht wahr?”
“Von Fall zu Fall. Und Sie? Sie sorgen bei unsereins für das Überleben?”
“Gelegentlich, Monsieur.”
Man versteht sich. Man lächelt sich an. Es fällt nicht so strahlend aus wie das Lächeln des Tages, der nun, nach Regeneinbrüchen, wieder hektoliterweise Sonnennektar ausschüttet, jedoch deutet es auf einige sonnige Abschnitte im menschlichen Sektor. Oskar tut, was manch einer tut, wenn man um eine weitere Äußerung verlegen sind, er starrt Löcher in die Luft. Dabei nimmt seine Miene ungewollt einen spröden Ausdruck an. Und manches Mal, wie eben jetzt, kann es innerlich zu einer retrospektiven Luftspiegelung kommen…
"Du hast zuweilen etwas Unnahbares im Ausdruck , O ss. Das kann andere leicht verprellen."
“Willst du damit sagen, ich bin so?”
“Vielleicht ein Teil von dir.”
“Welcher Teil?”
“Ich verstehe die Frage nicht.”
Oskar füllte ihrer beiden Gläser mit Cognac nach. Es ärgerte ihn ein bisschen, was Timo da gerade gesagt hatte. Verhielt es sich wirklich so, oder war es mehr eine Frage der Umstände? Für den einen bedeutet es, dass das eigene Selbst im universalen Klangkörper mitschwingen kann, für den anderen nicht. Deutet das zwingend auf einen Wesensunterschied?
Schau nicht so mürrisch drein, Junge! Diesen Satz bekam er häufig zu hören, als er jünger war. Er suchte Seelenverwandtschaften, und er fand sie nicht. Das färbte auf seine Stimmung ab und auf seine Fassade. Er galt lange als schwierig. Er nahm es an. Er kultivierte es streckenweise. Andrerseits konnte er Menschen wie Timo um die Leichtigkeit beneiden, mit der sie ihre Antennen in die Welt ausrichteten. Sie schienen immer auf Empfang. Und sie schienen immer etwas zu empfangen, was es auch war...
Oskar - zurück in der Gegenwart - legt die Zeitschrift auf dem Tisch ab. Ein Bild einer historischen Zugmaschine schmückt die Titelseite. Es gefällt ihm, das Lokomobil. Er macht sich sonst nicht viel aus Eisenbahnen, ist eher ein Autonarr.
“Was ist das für eine Lokomotive?”
“Sie heißt Martin Luther und stammt aus Halberstadt, sie wurde im 19. Jahrhundert nach Deutsch-Südwestafrika verschifft und sollte für Transporte auf einer Strecke zwischen der Küste und der Stadt Windhuk dienen. Daraus wurde aber nichts, das Wüstenland deckte den Wasserbedarf des Dampfkessels nicht, und die Lok hatte zu wenige Waggons mit Brennmaterial. Sie machte nur eine einzige Fahrt, für die sie fast drei Monate brauchte, vom Hafenort Walvis Bay zum Seebad Swakopmund. Danach rührte sie sich nicht mehr vom Fleck.”
“Daher der Name?”
“In Anlehnung an den berühmten Ausspruch Luthers, ja.”
Oskar schaut auf die schmucklose Uhr an der Wand des Arztzimmers. Sie tickt geräuschlos. Er wollte früher einmal, in ganz jungen Jahren, zum Südpol reisen. Er hatte gelesen, dort sei das Ende der bekannten Welt. Er merkte später, sie kann auch vorher schon zu Ende sein.
Es ist bald Mittag. Er hat Hunger. Drei Tage verbleiben noch, bis Constanze und er hier abreisen werden. Ab wird es dann gehen, ab nach Hause. Er verlässt das Spital. Merkwürdig, wie vertraut ihm diese Gegend bereits geworden ist. Als hätte er sich nie anderswo aufgehalten. Nein, denkt er, so kann man es nicht sagen. Aber man sagt eben vieles so dahin. Billionenfach - Hellebarden der Flüchtigkeit.
*
Minus-Ereignisreihen, die sich sich zum Aufgalopp formierten.
Er überquerte die Pont Neuf, entfernte sich von dem Tatort. Das Opfer lag lang hingestreckt, sah jetzt, nach seinem Ableben, irgendwie wertlos aus. Er sah es nur kurz, die Stelle wurde von der herbeieilenden Polizei abgesperrt, die Leiche weggeschafft.
Mit der Sache hier hatte er nichts zu tun. Es war ein politisches Attentat. Der Anblick, so flüchtig er auch ausgefallen war, ließ Oscar an jenen anderen mit den zwei Männern denken, die er kürzlich in ähnlicher Stellung hatte daliegen sehen, im Gouffre Bleu. Tote auf Bestellung. Das einte die beiden Ereignisse. Keiner der Toten war Opfer unvorhersehbarer Umstände geworden.
Und Oscar ging noch etwas durch den Kopf, als er, aufblickend, einen Haufen schroffer Wolken über den Himmel klettern sah: Konnte nicht jeden Augenblick etwas weitaus Gewalttätigeres seinen Lauf nehmen? Vielleicht öffnete sich unversehens eine kilometerbreite Erdspalte oder der Mount Everest kippte auf die Seite, und alles Tun - Gespräche, Arbeit, Eifersüchteleien, Reisen, Putzzwänge - erschiene mit einem Schlage null und nichtig? Er war sicher nicht der erste, der diesen Gedanken hatte.
Dergleichen geschah indes nicht, es blieb bei diesem kleinen, mörderischen Zwischenfall, der, einem Bankeinbruch, einem Busunglück, dem Ausbruch einer Krankheit vergleichbar, nur mikroskopische Spuren hinterließ. Danach würde, das war zu erwarten, wieder die unbeugsame Kraft des Alltags walten.
Seine Vorahnungen hatten sich nicht bestätigt und waren doch Realität geworden, auf eine abgefälschte Weise, abgefälscht wie Querschläger. Er war fassungslos. Solch eine Anhäufung geballter Gewalt...
Er sah zur Seine hinüber. Der Fluß hatte etwas von einer geschwollenen Krampfader. Seine Ufer schienen dagegen mit einer Hornhaut überzogen. Oscar hätte gerne auf der Stelle kehrt gemacht, den Schauplatz gewechselt, wäre am liebsten planlos verreist, weit fort, nach Swambesi oder in die Innere Mongolei. Dabei hatte er jetzt streckenweise glanzvolle Tage und Nächte durchlebt, eine wahre Hoch-Zeit. Ja, die Umstände waren ausgesprochen nett zu ihm gewesen. Bis dann irgendwo ein Feuerlöscher explodierte. Von da an wurde es spukhaft. Und brandgefährlich.
Er kippte einen leeren Blick auf das Pflaster. Er sah zwei Uniformierte auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke gehen, die, ihre Augen zusammen kneifend, herüber blickten; sie beobachten mich, dachte er. Unwillkürlich ging er schneller, dann langsamer und abermals schneller; und prompt überkam ihn dieses lähmende, ätzende Gefühl, dass er so gut an sich kannte, das Gefühl ertappt worden zu sein, ertappt dabei, dass er sich vor etwas drückte, vor einer Aufgabe, die ihm zugedacht worden war, vor Pflichten, die man ihm auferlegt hatte, vor der Verantwortung für Dinge, die er hätte übernehmen müssen, kurzum, ihn plagte ein schlechtes Gewissen. Er hatte permanent ein schlechtes Gewissen, auch wenn es gar nichts gab, weswegen er sich hätte rechtfertigen müssen. Er hatte das Gefühl abonniert, und es war jederzeit abrufbar.
Oscar setzte seinen Weg fort. Alles eine Schutthalde. Beide Lokale verwüstet. Gleichwohl lautete die Losung zunächst noch: Das Geschäft geht weiter. Er wollte sich ins Chez Ginot begeben. Dort würde er seinen wunden Geist mit den Bildern einer sanfteren Vergangenheit salben können. Er dachte an Saloua, vernahm ihr weiches, singendes Stimmorgan an seinem Ohr. Melodie und Rhythmus. Ungewohnte Töne der Bewunderung. Denn dieses Mal galten sie ihm.
"Aus dir wird eines Tages noch ein ganz Großer, Oscar! ”
Selbst Mohun hatte ihm mehrfach auf die Schulter geklopft. Auch er plötzlich des Lobes voll. Ihn freute vor allem, dass sein "Tastenmann" Geld ins Etablissement brachte. Es kamen jetzt mehr und mehr Gäste ins Gouffre Bleu, und sie kamen nicht nur der leicht bekleideten Mädchen wegen, sie kamen auch Oscars wegen.
"Du entwickelst dich ja langsam zum Goldesel, mein Freund."
"Ich hoffe nur, es ist kein Strohfeuer."
"Das hoffe ich auch. Streng dich also an. Überbiete dich selbst. Sonst wird man dich ein bisschen antreiben m ü ssen, notfalls mit der Peitsche."
"Hast du nicht eben noch meine Leistungen gepriesen?"
"Der eine schmeichelt, der andere droht. Ich tue beides. Zuckerbrot und Peitsche, verstehst du.“
Oscar machte im Bereich des Schläfenlappens eine Rolle rückwärts. Hinein in eine gemischte Diashow. Dunkle Bilder überlagerten jäh die hellen. Krawall im Königreich... Mohun und Saloua, sie waren an jenem Abend nicht mit unter den Anwesenden im Saal. Es gab Turbulenzen.
Charakterlich hatten beide wenigstens zwei Dinge gemeinsam: Sie waren ungeduldig und verfügten über ein, wie es so heißt, aufbrausendes Temperament. Im Falle von Frank Mohun war das weniger offensichtlich. Er beherrschte sich besser. Wenn sie sich stritten, flogen aber, wie man auch gerne sagt, die Fetzen. Und sie stritten sich nicht selten. Meistens war es Saloua, die den ersten Seitenhieb austeilte. In der Regel kehrte nach angemessener Zeit wieder Friede ein.
Augenblicklich, fürchtete Oscar, mochte es gut sein, dass der Unfrieden anhielt. Warum er das fürchtete? Es war eine Ahnung. War das also der Grund, warum er am heutigen Abend nicht recht glücklich wurde mit der Rolle, die er sich doch selber so erfolgreich zugelegt hatte? Er fühlte sich, als würde er auf einer ihm fremden Hebebühne den Hanswurst machen.
Die Male davor war das völlig anders gewesen. Das Publikum hatte applaudiert und vergnügt, ja ausgelassen mit den Füßen gestampft. Und er hatte nicht mit diesen Reaktionen gerechnet. Es waren erst eine Handvoll Auftritte vergangen, in denen er sich als Clown ausprobiert hatte, als Musikclown. Beim ersten Mal hatte noch Bruder Martin ihm assistieren müssen, um ihm die vielen dummen, kleinen Hemmungen zu nehmen. Am Ende saß er schweißnass auf seinem Hocker und spielte sich in einen von delikaten Stimmungen umrankten, musikalischen Vollrausch.
Es war ein aus den Tiefen des Unterbewussten aufsteigender Einfall, eine bizarre Laune gewesen, in das laufende Programm ein paar klassisch-romantische Klavierperlen mit aufzunehmen. Er spielte sie nicht einfach so, er parodierte sie. Umfassender gesagt, er parodierte Gestus und Mimik bestimmter Konzertpianisten. Er übertrieb den oft elefantösen Ausdruck ihres Mienenspiels, das monumentale Pathos ihrer Hände, das Ekstatische oder meditativ Versunkene ihrer Körperhaltung; er unterhielt sich mit seinem Flügel, als wäre dieser ein Hund oder als wäre er, Oscar, selbst der Hund, und zwischendurch flocht er teils melancholisch dahin fließende, teils stürmische Bossa Nova Nummern mit ein.
Er hatte, was die komischen Partien anbetraf, ein heimliches Vorbild. Das Vorbild hieß Victor Borge. Kurzum, die Darbietung kam glänzend an. Mit einem Mal war die Musik der Scheinwerfer frivoler Nächte. Und das in einem Nacht- und Amüsierclub.
“Oscar, du bist ja eine Kanone am Klavier, eine Scherzkanone.”
“Das war eine große, ganz ganz große Bühnennummer, wirklich.”
“Perfekt. Wo hast du dein Talent nur die ganze Zeit über versteckt gehalten?”
Soweit die anfänglichen Kommentare von Mohun, von Saloua und von Attila Ferenczy. Es wäre zu viel behauptet, dass Oscar darüber entzückt war. Doch es freute ihn. Es baute ihn auf. Es freute ihn besonders, dass selbst sein Ex-Arbeitgeber Ferenczy ihn lobte. Der Ungar hatte einigen Grund, nicht gut auf ihn zu sprechen zu sein. Nicht nur, dass Oscar unpünktlich seiner Arbeit nachgegangen und so manches Mal angetrunken zum “Dienst” erschienen war, Ferenczy hatte ihn am Ende auch noch ersatzlos abtreten müssen, ans Gouffre Bleu.
Was Oscar weitaus mehr beglückte, war, dass Saloua Christine Ferenczy von seinen musikalischen Clownerien angetan war. Christine, das war ihr zweiter Vorname, der Name, den ihr Vater für sie gewählt hatte. Durchgesetzt hatte sich Saloua. Wenn Oscar, was manchmal der Fall war, unsichtbare Begegnungen und Dialoge mit ihr hatte, nannte er sie Christine. Es gab ihm ein Empfinden, das anderen, hätten sie davon Kenntnis gehabt, vielleicht etwas obskur erschienen wäre, ein Empfinden, in diesen Momenten ein exklusives Band zwischen dem Mädchen und sich knüpfen zu können. In ihrer Gegenwart unterließ er es, da er wusste, dass ihr sehr daran lag, mit ihrem ersten Vornamen angeredet zu werden. Der Vater dagegen pflegte seine Tochter gelegentlich, und er war der einzige, dem sie so etwas nachsah, bei ihrem zweiten Rufnamen zu nennen.
Oscar betrat die Bühne, begann sein Programm. Es war jetzt mehr als bloßes Hintergrundgeklingel. Es war eine echte burleske Show. Er hatte einen Namen dafür gefunden: Mezzoforte. Mohun hatte ihm sogar einen Gehilfen bewilligt, dieser Gehilfe war Pepe, Oscar hatte auf ihm bestanden. Pepe reichte dem Ex-Barpianisten die benötigten Requisiten, ging ihm auch sonst zur Hand. Denn Oscar setzte zunehmend mehr ein als nur sein Klavier.
Er benutzte Triangeln, Trommeln, Hüte, Fächer, eine Geige, einen Kamm, sein altes Bandoneon, eine Hupe sowie Handschuhe. Ja, er bestritt sein Programm in Handschuhen. Sie waren weiß und, was man im Publikum nicht sehen konnte. an den Fingerkuppen offen. Danach verlangte sein Tastsinn. Und er trat in unterschiedlichen Kostümen auf. Stets stand dabei ein halb gefülltes Glas Whisky auf dem Flügel. Für all das sorgte, in diskreter Unauffälligkeit , Pepe.
Wie gesagt, in der gerade laufenden Vorstellung wollte bei ihm keine rechte Bühnenstimmung aufkommen. Ihm schien überdies, das Publikum würde verhaltener reagieren als sonst. Und hoppla, da waren sie wieder, die Selbstzweifel. Statt den Narren zu geben, narrte er sich selbst, mit finsteren Fantasien. Pepe musste das Glas häufiger als in den übrigen Nächten auffüllen. Der treue Gehilfe machte ein besorgtes Gesicht, mischte dem Whisky heimlich Wasser bei. Er kannte den Ablauf des Stücks mittlerweile, er kannte die Glanzlichter, und er kannte die Bruchstellen.
Oscar spielte, selbst dann, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte, nie so schlecht, dass es in der nicht eben kunstsinnigen Zuhörerschaft groß aufgefallen wäre, wenn er sich einmal in den Tönen vergriff. Außerdem, wäre es doch häufiger vorgekommen, hätte es immer noch als Bestandteil der Show durchgehen können. Es mochte sogar dazu beitragen, die Fußangeln der Begeisterung im Publikum zu spannen, wenn er in unfreiwilligen Zugaben den Tollpatsch gab. Er fragte sich ohnehin unter den fluglahmen Schwingen jener Seelenlage, die ihn nun mehr und mehr einzunebeln drohte, ob es an dieser Stätte denn überhaupt die geeigneten Antennen gab für das, was er zu Gehör brachte?
Mit einem Mal sah er sich wieder als der frühe Knabe auf dem Holzschemel, der er einst gewesen war, brav seinen Czerny übend, sah den alten Klavierlehrer Samrei, wie dieser während der Etüden zeitweise einnickte. Sein Klavierlehrer hatte immer strebend sich bemüht, dem Schüler ein frühes Bewusstsein dafür einzuimpfen, was “tiefe” Musik ausmachte - zunächst mit geringem Erfolg.
Der alte Samrei meinte einmal, als Oscar gerade das Rondo alla turca übte, in diesen wenigen Noten liege bereits der ganze Reichtum eines außerordentlichen musikalischen Gehirns: Fülle, Sinnlichkeit und Kraft. Oscar brauchte einige Zeit, bis er willens war, dieser Beurteilung etwas abzugewinnen. Was, so fragte er sich, würde der gute Samrei sagen, könnte er ihn, Oscar, zur heutigen Stunde hier sitzen sehen? Vermutlich bekäme er Schluckauf oder einen Hörsturz.
Er legte die Hupe aus der Hand, mit der er gerade, sich vom Klavierschemel erhebend, einige Späße hatte einleiten wollen. Er brauchte es nicht mehr, da nun die Tänzerinnen an der Reihe waren. Er hatte Pause. Er nahm Platz, während ein halbes Dutzend nur unzureichend verhüllter sekundärer weiblicher Geschlechtsmerkmale sich ringsum den Saugnapf-Blicken der männlichen Gästeschaft aussetzte.
Oscar fühlte sich durch ein Gitter aus träger Verwirrung und matschiger Erschöpfung von dem übrigen Geschehen abgetrennt. Mittendrin, aber nicht dabei. Er starrte die kleine, stumpfmetallene Hupe an, die vor ihm lag. Ich spiele wie viele, schien sie zu sagen, nur werde ich nicht dafür bezahlt. Hatte sie gerade gesagt: bezahlt oder bezahlen? Er fragte sich ferner, ob das das Echo eines eigenen Gedankens war oder das eines fremden und in beiden Fällen, ob er ihn auf sich beziehen musste.