Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 14
Kapitel 11
Оглавление“Wusstest du, dass es gar nicht zutrifft, dass nach dem Tod Haare und Nägel weiter wachsen?"
"Nein?"
"Es ist eine optische T ä uschung. In Wahrheit ist es der K ö rper und die Haut, die aufgrund von Wasserverlust schrumpfen. Geschieht es nicht überhaupt viel zu oft, dass wir Ursache und Wirkung im falschen Verhältnis zueinander sehen?”
Oskar schaut seine Frau von der Seite her an. Was es doch für Themen sind, die sie so beschäftigen. Das Licht des späten Nachmittags fließt über ihr Gesicht, schafft dort eine weiche Glasur jenseits jeder physischen Härte. Manches Mal, aus einer gewissen Entfernung, sieht es so aus, als gebe es auf ihrem Antlitz keine Spuren der Zeit, fährt die Kamera dann näher heran, ändert sich das. Aber ist es nicht ohnehin oft ratsamer, überlegt er, außer bei der Arbeit, Nahansichten zu meiden?
Sie stehen zwischen Bildwänden. Es ist die letzte Station ihres Ausflugs, der über den Tag hinaus, und damit länger als geplant, angedauert hat. Es ist der Wunsch seiner Frau gewesen, in diese Ausstellung zu gehen, die in einem Haus mit Garten draußen auf dem Lande stattfindet. Sie sahen bereits auf der Hinfahrt eine Ankündigung, genauer gesagt, Constanze sah sie, und ihr gefiel das Plakat. Es war in der Nähe von Pau.
Während seine Frau die ausgestellten Bilder beschäftigen, beschäftigt ihn der umgebende Raum. Er ist quadratisch. Man kann sich, denkt er, in einer Räumlichkeit aufhalten, die wie ein Würfel ist, aber es wird vielen, sollte es für lange sein, nicht gefallen. Und was ist mit dem Kreis. Will man ebenso nicht. Der Mensch braucht Asymmetrien. Das sagt der Baumeister in ihm, vielleicht ist es aber auch nur sein Sonnengeflecht.
Doch verrät er Constanze nicht, dass er das so empfindet. Sie würde womöglich annehmen, er habe in Wahrheit etwas gegen die Bilder. Sie mag sie nämlich. Sie sind gegenständlich - figurativ, wie sie sich ausdrückt. Oskar findet das Gemalte streckenweise naiv. Der Künstler ist persönlich anwesend. Es ist ein freundlicher, älterer Herr. Er trägt einen blauen Anzug und Brille. Er sieht eher nach einem Buchhalter aus. Constanze unterhält sich mit ihm. Ihr Französisch ist besser als das seine. Das ist nicht der einzige Grund, warum Oskar an dem Gespräch nicht teilnimmt. Seine Frau nimmt ihn später beiseite.
“Es war sehr interessant, sich mit dem Künstler zu unterhalten.”
“Ah ja.”
“Ich finde, seine Bilder haben etwas Kindliches, in einem höheren Sinne.”
“Kindliches, hm, ja.”
"Er sagt, er musste so alt werden, um so jung zu malen."
“Wie alt ist er denn?”
“Das ist jetzt doch nicht so wichtig... Er sagt auch, er sei sehr um Deutlichkeit bemüht. Er strebe klare, strenge, eindeutige Aussagen an in seinen Bildern, einfache Wahrheiten, sozusagen.”
“So, aha.”
"Er sagt, er habe nicht die Absicht, als Geheimnistr ä ger in die Geschichte einzugehen."
"Die Frage ist wohl eher, ob er ü berhaupt in die Geschichte eingehen wird."
“Oskar!”
“Entschuldige, Stänzchen. War jetzt nicht so gemeint.”
Sie trinken noch einen Kaffee und essen selbst gebackenen Kuchen. Die Gefährtin des Malers, eine junge, hagere, maskuline Frau mit Christus-Zügen und langen Haaren, verkauft die Sachen an einem kleinen Stand im Eingangsflur des Hauses, das eine umgebaute Bauernkate ist. Sie verkauft auch selbst gebackenes Brot und natürlich Kataloge mit einer Werkschau der Bilder ihres Mannes. Eine Preisliste zu den Bildern, das ist klar, darf ebenfalls nicht fehlen. Oskar schaut nicht hinein. Er ist ungeduldig und froh, als sie endlich aufbrechen. Er legt beim Hinausgehen einen Arm um seine Frau. Sie lässt ihn gewähren, bleibt selber aber passiv.
Da es wohlig warm ist, und noch nicht spät, fahren sie den Rest der Strecke offen. Das Autofahren in Frankreich ist, findet Oskar, abseits der großen Straßen wunderbar. Er sagt es Constanze. Er sagt es nicht zum ersten Mal. Und dieses Mal gibt sie ihm recht.
Das Blau über ihnen ist blitzsauber. Einige Wölkchen ziehen, bilden Streifen. So hat Oskar ihn am liebsten, den Himmel, und weit sollte er sein. Hier ist er das. Man muss, äußert er irgendwann in friedlicher Tonlage, die Dinge im größeren Maßstab betrachten, dann werden sie kleiner, weniger bedeutend, und am Ende, ist er versucht hinzuzufügen, unterlässt es aber, sieht man sie, mit etwas Glück, in keiner Übertreibung. Er denkt kurz an das, was einst sein Deutschlehrer über einen bedeutenden Philosophen sagte, Oskar meint, sich zu erinnern dass es Hegel gewesen ist:
"Wenn sein leuchtender Geist an eine Laterne pinkelte, dann ging die Laterne aus."
*
Er trug jetzt gelegentlich Hut.
So wie heute. Er lüftete ihn vorübergehend. Im Grunde wäre es richtiger zu sagen, er lüftete seinen Kopf. Das war bitter nötig. Denn das was sich zugetragen hatte, war keinem unglücklichen Zufall geschuldet. Konnte ein Zufall unglücklich sein? Er, Oscar, war es jedenfalls.
Die gesammelte Zerstörungswut einer Nacht war, als habe sie die Leiche des Tages gefleddert, wie ein Fluch über ihn wie auch über andere gekommen. So empfand er es, sich selber sah er dabei als jemand, der letzthin ein Unbeteiligter war. Er hatte nichts angestellt, oder vielmehr: manches unterlassen. Das eben mochte seine Verfehlung sein. Man muss sich regen, hatte er, wieder nüchtern, andern Tages gedacht, um nicht versehentlich das Ziel jener Blitzschläge zu werden, die das Schicksal in den Magazinen einer unendlich launischen Freigebigkeit bereithält, um sie mehr oder minder wahllos und oft unangemeldet auf Teile der Menschheit loszulassen.
Nun, über diese Einsicht war es Mittag geworden. Und gegen Mittag hatte er ja das Haus verlassen. Da stand er also, Ecke Rue Vaugirard und Rue Guynemer und kratzte sich auf eine Weise, die etwas Hilfloses hatte, am Kopf. Im hellen Sonnenschein sieht man jedes Staubkorn. Und so kam er sich vor: wie ein Staubkorn. Er sammelte sich und dann seine Eindrücke. Das Resultat fiel niederschmetternd aus. Wenn er achtzehn Stunden zurück blickte, sah er ein Klassentreffen blind taumelnder, zahnloser Augenblicke.
Und es stieß ihm sackweise auf. Man hätte vielleicht versuchen sollen, für die Probleme, die es gab, rechtzeitig eine Lösung zu finden, was aber vermutlich schwer gefallen wäre. Mehr Erfolg versprach im gegebenen Fall einzig wohl die Maßnahme, all das, was die Probleme verursachte, gar nicht erst zum Zuge kommen zu lassen. Ohne Hoden kein Hodenkrebs. (Nur als Beispiel)
"Lauf weiter!"
"Warum?"
"Lauf schon!"
"Wohin?"
Er folgte ihr, verwirrt, sein Tempo beschleunigend, denn er musste es beschleunigen, sonst hätte er sie aus den Augen verloren. Sie warf die Arme durch die Luft, während sie lief, wie ein Vogel im Flug. So, dachte er, laufen nur Frauen. Sie waren auf der Höhe des Kaufhauses Samaritaine. Da waren sie zuvor drinnen gewesen. Und sie hatte, ohne dass er oder jemand anderes davon etwas mitbekam, ein paar Sachen, darunter eine Flasche Chanel No. 5 sowie eine Halskette, windschnell in ihrer Handtasche versenkt. Doch dann, bei ihrem nächsten Diebesgut, wurde sie von einem Kaufhausdetektiv beobachtet. Es gab aufgeregtes Geschrei, und sie rannte davon. Oscar rannte, da ihm nichts Besseres einfiel, ratlos hinterdrein. Jetzt ging es über die Pont Neuf. Und weiter. So hatte es begonnen, gestern früh. Es war nur die Ouvertüre gewesen. Stunden später folgte der eigentliche Hauptakt. Aber der vollzog sich in einer anderen Aufführung.
Der Morgen danach. Die Sonne strahlte trügerisch auf eine Mauer des Irrsinns, die vor seinen Augen endete oder bereits früher. Er war sich darin nicht sicher, nein, er wusste es nicht. Doch fühlte er den Schmerz, einen Schmerz, der pochte, unmittelbar hinter seinen Schläfen pochte er, in Moll, gastierte dort, kaum Pausen einlegend, eigentlich gar keine, mal massiv, mal tröpfchenweise, aber immer aktiv, sozusagen allgegenwärtig.
Oscar war erschöpft. Er würde heute keinen Widerstand mehr leisten. Er war willens, sich auf das Wenigste zu beschränken, auf eine Realität im Schattenriss. Ihm war sehr bewusst, dass das, was geschehen war, einen tiefen Einschnitt, eine Wendemarke, eine Zäsur bezeichnete. Jedem, der betroffen war, musste das bewusst sein. Er dachte an Vorgestern, an das Treffen mit Pepe. Da war der See der Ereignisse schon schlammig gewesen, aber die Luft noch klar.
"Hier, ich schenke sie dir."
"Ein Kompass wäre mir lieber.”
Pepe gab ihm die Uhr. Oscar bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung. Sein unhörbares Gemurmel machte diese Geste obsolet. Pepe verkaufte seit kurzem Zeitmesser. Er hatte sie werweißwoher. Er trug sie, nach klassischer Hehlerart, am Innenfutter seines Jacketts. Sie saßen zusammen im Jardin du Luxembourg. Es war warm. Die Vögel jubilierten. Oskar wog das Teil in der Hand. Es hatte die Form eines Bullauges. Und einen Deckel. Öffnete man den, fand sich, an der Innenseite, erhaben, eine Inschrift: Chronochrom. Und darüber, mit einer Klammer befestigt, ein Stück Papier. Entfaltete man dasselbe, las man:
Dies ist keine gew ö hnliche Uhr. Du kannst auf ihr die Zeit verstellen... die reale Zeit. Aber du kannst sie nur vorstellen, nicht zur ü ck. Geh also achtsam mit ihr um .
Er lächelte grimmig, während ihn gleichzeitig ein diffuses Frösteln befiel. Wäre dem wirklich so, wie es da zu lesen stand, er würde keinen Gebrauch davon machen. Dessen war er sicher…
Oscar fasste mit der Hand in die Tasche seiner Anzugjacke. Seine Finger umschlossen kühles, rundes Metall. Er spürte das Ticken darunter. Er atmete nervös. Es gab kein Ende. Es würde nie ein Ende geben. Denn selbst der Tod setzte keines. Denn er kam ja immer wieder. Denn er hatte ja nie genug. Er war so unersättlich wie seine menschliche Beute, solange sie noch am Leben war. Über das Nachher wusste man ja bekanntlich nichts.
Oscar schaute sich um. Er brauchte dringend einen Stimmungsaufheller. Er steuerte das nächste Bistro an. Es flüsterte ihm zu, was er hören wollte: Besucher wie du sind stets willkommen. Regen kam nieder, klebrig und laut, mit einer übermäßigen Quart; man konnte nicht weit sehen. Es war, als litt der gesamte Planet an Wassersucht.
Die Erde drehte ihren ewig trächtigen Leib… Kerze gerade, Möhre krumm. Text aus einem Schlummerlied. Er hatte es für sich selber intrinsisch in Töne umgesetzt. Er trank den bestellten Wein und tat, was er in solchen Momenten gerne tat. Er haderte mit sich, abseits des Weltgeschehens, schalt sich einen, der zu nichts nutze ist, oder einen, der zu lange alles richtig machen wollte und doch vieles falsch anfasste, selten imstande, das einzulösen, was er sich vorgenommen oder anderen in Aussicht gestellt hatte.
Üb das noch einmal, Oscar! So hallte es seit undenklichen Zeiten in seinem Hinterkopf trommelnd nach, das gestrenge, kolossale Echo seiner Mutter, wenn er am Piano sein Spiel zu verbessern gesucht hatte. War es nicht letztlich alle Tage so gewesen? Sie war es, die einst für seine Klavierstunden aufgekommen war, von ihrem Ersparten, nicht etwa der Vater. Darauf hatte sie stets Wert gelegt. Und heute?
Er war nicht so betrunken, wie er gerne gewesen wäre. Bevor er sich am Ende dieses Tages ins Bett legte, masturbierte er, was ihm gerade noch gelang. Er hatte vergeblich versucht, Saloua zu erreichen. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Auch Mohun blieb unsichtbar. Oscar schlief ein unter Tränen. Das ganze dunkle Verhängnis im Nacken. Das Rapzodie war ausgebrannt. Ferenczy war tot. Schrecken und Ohnmacht. Grabesstille. Kain erschlug Abel. Oder war es umgekehrt?