Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 3
Intro
ОглавлениеAlles begann verhalten, unbetont, ja, leise.
Da wandert man also, den Taktgeber im Rücken, im Kopf, im Nacken oder sonstwo, wandert vereint durch Stunden, Tage, Jahre. Das Gedächtnis, das eigene und mit ihm das restliche Ich. Und man duzt einander. Das war nicht immer so.
Selbstgespräch: Schau nur, was dort hängt? Etwas, das vorher dort nicht gehangen hat… Es sind, so ließe sich vereinfacht sagen, bruchstückhaft permutativ, sowie mehr oder minder pastos eingefärbt - bereits verloren geglaubte ungetrübte Begleitumstände. Jedoch um die soll es an dieser Stelle nicht gehen…Ja, und dann wäre da noch die…Zeit. Sie fliegt und fliegt und fliegt - vielleicht, weil sie Langeweile hat - (kleiner Scherz am Rande (des sichtbaren Spektrums)). Denn, wie ein jeder weiß oder wissen sollte, nicht sie ist es, die vergeht. Wir vergehen. Ich entsinne mich an dieser Stelle aber auch eines Spruchs auf der Puderdose meiner Großmutter: Wenn die Zeit gute Laune hat, streut sie Goldstaub in die Augen des Raumes.
Fußnote - Und dann die alten, die uralten Fragen, die sterben, wie sie gelebt haben, oft ungeliebt: Wer war man eigentlich, ehe man wurde, was man ist?
Eine Streulinse? Eine Nacktschnecke? Ein Niob? Ein halb voller Aschenbecher? Eine Luftblase? Ein Schattenriss in der Menge? Ein Volksempfänger? Eine Mumie? Ein fehlender Buchstabe? Eine verpasste Gelegenheit?
Eine, wie mancher glauben mag, rein karitative Frage. Kann man auch anders sehen - nach dem, was geschehen ist. Auf jener, sagen wir…Reise. Einer langen, umwegigen Reise. Kein Blindflug im Plastiksarg der Gezeiten. Und jetzt, so raunen innere Stimmen, findet sich die Gelegenheit, in der Sache Stellung zu beziehen. Gut, gut, so mag es denn geschehen. Einiges wird wohl ungenau bleiben - doch bei aller Unschärfe - es gilt, gewissermaßen etappenweise, jenes Material zusammenzutragen, welches sich eignet, eine große Leinwand zu kleiden. Und das fallweise, in einem kleinen Reigen handgeschöpfter epischer “Passpartouts”…
Der neue Tag, noch unbekleidet, meldete sich mit einem zarten Weckruf aus der Kehle des Nichtstuns. Es war ein Tag aus Altsilber, nein, eher ein nasser, ein graulederner, ein verfrühter Vorwintertag, durchzogen von weichen, unpräzisen Nebelstreifen, und die Feuchtigkeit, die sie verströmten, konnte man förmlich riechen. Selbst hier, im Herzbeutel der Stadt.
Eine Frau mittleren Alters auf dem Gehsteig gegenüber - sie hatte einen weißen Pudel im Schlepptau. Und sie trug eine braune Nerzstola. Und sie war eben einer cremefarbenen Limousine entstiegen, der Pudel, wie Hunde es tun, mit einem raschen Sprung hinterdrein. Der Schritt der Frau wirkte leichtfüßig. Ihre Bewegungen zeigten aber, so mein vorläufiger Befund, obschon geschmeidig im Ablauf, eine gewisse einstudiert wirkende Eleganz.
Allein, ein Pelz, murmelte ich, während ich mit der interesselosen Gefallsucht eines Hustenbonbons an meiner Zigarre sog, ein Pelz macht noch keine Dame. Warum bewegte gerade diese Szene etwas in mir? Hätte es nicht ebenso gut etwas anderes sein können, ein Schatten auf dem Mars beispielsweise? Ich hatte keine Ahnung.
Ich betrachtete diese Person, bis sie aus meinem Gesichtsfeld entschwunden war, indessen ich, was mich selber anbetraf, einem vagen Empfinden folgend, weitgehend weltvergessen, der Überlegung nachhing, ob ich wohl für das, was die Zukunft für mich bereit hielt (was immer das sein mochte), vielleicht so etwas nötig haben würde wie eine, wie soll ich mich ausdrücken… Seelen-Diät? Dieser Gedanke, mochte er gleichwohl unbotmäßig sein, ging mit dem Lidschatten eines dunklen Gefühls einher, und das, soviel stand für mich fest, war herzmuskeltief.
Machen wir einen Ausfallschritt. Nicht, um dem eigenen Zwergen-Schicksal auszuweichen. Auch nicht, um Mitglied des Hosenbandordens zu werden. Vielmehr fallweise introspektiv. Man spürt da sein Eigengewicht. Das meine beträgt an guten Tagen 87 Kilo.
Das Café übrigens, in dem ich meine Verabredung hatte, lag - wie so manches Glück oder Unglück dieser Erde - gleich um die Ecke. Ich hatte es infolgedessen nicht weit. Und ich schätze es, es nicht weit zu haben. Ja, ich schätze eine gewisse Art von Nähe. Diese Art von Nähe. Ich vermutete, Carl würde schon vor mir da sein. Ich war pünktlich. Carl war, falls der Ausdruck gestattet ist, überpünktlich.
G. Antheil: Symphony for Five Instruments (Second Version)_ III. Presto - die ersten Takte - das war der Klingelton (ein “Geschenk”) Ich holte das Smartphone aus der Tasche. Viola (die Schenkerin) war am Apparat.
“Wo bist du?”
“Auf dem Weg… zu einer Verabredung.”
“Mit wem?”
“Kennst du nicht. Sein Name ist Carl. Carl Vieleck.”
“Und wo?”
“In einem Café. “
“Kenne ich das denn?”
“Ich denke nein. Es heisst Stofinger.”
“Seltsamer Name.”
“Seltsame Fragen… Wir sehen uns, Schatz. Später. “
“Ja.”
“Also. Bis dahin.”
Ich beendete das Telefonat. Schaute nach oben. Das Wetter änderte sich. Ich schätzte, dahinter verbarg sich gerade keine Navier-Stokes-Gleichung, sondern vielleicht nur eine mittlere Schnapslaune der Schöpfung.
Ich blickte um mich herum. Vor zwanzig Jahren gab es hier wie andernorts sehr viel weniger Fremde. Es war folglich bunter jetzt, ein kunterbuntes Farbenspiel…Die wundervollste Musik, sagte Carl neulich, sei in den menschlichen Sprachen zuhause. Sehe ich ebenso. Zu guter Letzt aber, auch das darf nicht unerwähnt bleiben, endet alles auf dem Gottesacker. Wäre ich Cherub oder Zauberer, überlegte ich, wäre mir das herzlich egal.
“Ich habe im Grunde nie recht verstehen können, wie ein Mensch sich anmaßen kann, einen anderen Menschen zu verurteilen.”
“Du meinst, von Amts wegen?”
“Vorderhand.”
“Und mir will es nicht in den Kopf, wie ein Mensch glauben kann, dass ihm, indem er ein Grundstück auf unserem Planeten käuflich erwirbt, dieses Stück Erde von Stund an als sein persönliches Eigentum betrachten kann. Ist das nicht infam?”
“Monogam infam.”
“Horch! Hörst du? Die Vögel?”
“Nein… Warte… Ja, doch.”
“Eine alte Regel besagt, dass man während der Mahlzeit nicht trinken soll."
"Sondern?"
“Danach.”
“Aha.”
“Wolltest du nicht einst die Welt verändern, Castor?”
“Ja… Und?”
“Die Welt hat dich verändert, nicht wahr.”
“Das ist wohl richtig.”
“Mein Vater äußerte - als er noch lebte - oft und gerne den Satz: Aus dir, mein Sohn, hätte etwas Großes werden können. Leider besitzt du das Talent, deine Chancen gründlich zu verschlafen.”
“Hm.”
“Von mir heisst es übrigens auch, ich sei eine Steißgeburt gewesen…Wie war das bei dir?”
“Keine Ahnung. Ich habe, glaube ich, an dem Tag gefehlt.”
Gedächtnis-Protokoll; eines Gesprächs mit Carl… Gesprächsfetzen. Etwas wirr. War es neulich? Gleichviel.
Sagte ich nicht vorhin, das Café, in dem ich verabredet war, läge gleich um die Ecke? Was aber, wie ich lernen musste, nicht zwingend zur Folge hat, dass man in Kürze an seinem Ziel ist, nicht, wenn sich unangemeldet eine Spalte vor einem auftut. Und das an einem Tag, der wie geschaffen schien für Gruppensex unter Stockrosen oder Ölsardinen.
Zunächst gab es da einen Schusswechsel. Auf offener Straße. Bleidunst. Lärm. Schreie, Chaos… Tödliches Spiel? Ein Attentat? Ein Überfall? Eine Maskerade? Jemand zerrte mich in einen nahen Hausflur. Eine fremde männliche Hand. Ein bärtiges Gesicht.
Was mir sofort ins Auge fiel: Der Mensch in dem sandsteinfarbenen Safari-Look, der mich unaufgefordert in den leichenblass beleuchteten Hauseingang manövriert hatte, humpelte auf dem rechten Bein. Ich zeigte darauf.
“Sind Sie verletzt?”
“Nein. Stammt von einem Unfall… Als ich elf war.”
“Was geht hier vor?”
“Keine Ahnung.”
“Und wer sind Sie?”
“Ein Passant, wie Sie.”
Der Dialog stoppte an dieser Stelle, da zwei brandneue unbekannte Personen die örtliche Bühne betraten. Ein Mann. Eine Frau. Ein Paar, wie ich zunächst anzunehmen geneigt war.
“Wir sollten besser verschwinden! Und zwar rasch! Sie werden jeden Moment hier sein.”
So sprach der männliche Neuankömmling. Sein Tonfall wirkte unentschieden und hastig. Und er machte, vermutlich angesichts widriger Umstände, keinen sehr entspannten Eindruck. Er schien mir jung, im Dämmerschein des Hausflurs, hatte jedoch kaum Haare auf dem Kopf (oft aber täuschte ich mich in den Menschen, nicht allein, was das Alter anbelangte). Er trug eine Hornbrille. Ich trat auf ihn zu, schaute ihn an, als hätte ich eine Frage. Ich hatte eine Frage.
“Wer wird jeden Moment hier sein?”
“Diese Meute. Diese Verbrecher und Mörder.”
“Haben Sie denn die Schüsse nicht gehört?”
“Doch, ja.”
Es war die Frau, eine zierliche, unruhige Person, die, nicht weniger angespannt als ihr bebrillter Begleiter, zuletzt gesprochen hatte. Meine Erwiderung fiel sparsam aus, denn jetzt öffnete sich abermals die Haustür, (besser gesagt, sie flog, als wäre sie von einem Kinnhaken getroffen, mit einem Stöhnlaut auf) und weitere Gestalten, männlich, wiederum zwei an der Zahl, drängten herein.
Einen Moment lang dachte ich, dass … doch nein, es handelte sich, wie sich erweisen sollte, nicht um die erwähnten zwielichtigen Subjekte, sondern um Personen, die auf der Flucht waren. Sie wirkten auf mich bidirektional und in Teilen (die Älteren im Publikum werden sich eventuell erinnern) wie Pat&Patachon. Bei dem Kleineren stand, was ich infolge meiner umher wandernden Blicke zufällig gewahr wurde, der Hosenstall offen. War der passende Quellcode dafür Schrecken, Platzangst (¿), Wirrnis, Chaos, Panik? Er sprach jedenfalls mit einem bebenden Unterton in der Stimme. Und das in meine Richtung.
“Wir müssen einen Ort finden, wo man sich verstecken kan!”
“Hier? Im Haus?”
“Natürlich. Raus können wir nicht. Viel zu gefährlich.”
“Wir sollten vieleicht die Treppe nach oben nehmen.”
“Keine ganz so schlechte Idee.”
“Und wir könnten an den Wohnungstüren klingeln.”
“Hat niemand ein Handy?”
“Ich habe eines.”
Seltsamerweise besaß, wie sich zeigte, nur ich den gefragten technischen Gegenstand. Während um mich herum ein Bienenschwarm an Stimmen nervös durcheinander summte, zog ich mein Smartphone heraus. In der Eile glitt es mir allerdings aus der Hand und fiel zu Boden. Die Unruhe der anderen hatte mich offenbar angesteckt. Ich bückte mich, sammelte das Teil wieder auf.
“Soll ich… die Polizei rufen?”
“Unbedingt. Und machen Sie um Gottes Willen rasch!”
“… Oh, tut mir leid. Das Gerät muss Schaden genommen haben. Es funktioniert nicht mehr.”
“Du lieber Himmel.”
Wir - also jene zusammengewürfelte Schar, die unsere überschaubar kleine Truppe ausmachte - waren mittlerweile auf dem Weg in die oberen Stockwerke. Der Kleinere des männlichen “Komiker-Duos” teilte sich mit der Frau die selbst gewählte Aufgabe, beiderseits an den Wohnungstüren zu klingeln. Aber vergebens. Niemand öffnete.
“Weiter, Leute, weiter!”
Der Mensch, der mich vorhin in dieses Gebäude geschubst hatte, war offenbar entschlossen, eine Art Führungsrolle in unserer Gruppe zu übernehmen. Es war dies nicht die erste Anweisung, die, begleitet von einer energischen Handbewegung, von seinen Lippen abhob. Sein dunkler, kräftiger Bariton mochte immerhin für eine solche gehobene Laufbahn geeignet sein.
“Teufel, was war das?”
“Das war die Haustür…”
“Heh! Wer immer da oben ist, kommt jetzt mal schön langsam herunter! Und keine Tricks, verstanden! Wir verstehen nämlich absolut keinen Spaß!”
Wir blickten einander im halben Dutzend der Reihe nach an. Verunsichert. Verstimmt. Ratlos. Einige ängstlich. Es waren Leute im Haus. Neue Leute. Bedrohliche Leute. Die Männerstimme, die eben von unten zu hören gewesen war, ließ sich kaum denen zurechnen, die dazu angetan sind, einem das Herz zu erwärmen. Was würde als nächstes folgen?
Zunächst einmal folgte etwas, dass unverhofft einen Funken der Erleichterung, ja, fast schon einen Lichtstrahl der Zuversicht in das sich verdüsternde Ambiente unseres Sechser-Klubs einbrachte …Polizeisirenen. Vor dem Haus schien ein Einsatz-Kommando Position zu beziehen. So hörte es sich für meine Person, die sich der Lösung des Rätsels, was hier eigentlich vor sich ging, langsam ein Stück näher glaubte, jedenfalls an.
Unterstützt hatten mich dabei auch jene Kommentare aus der Runde, die sich der Frage widmeten, wer dort draußen mit welchen dunklen Absichten unterwegs war. Etwa, um eine Kapuze aus Unheil über unser aller Alltagswirklichkeit zu ziehen? Über eine Welt namentlich, der urplötzlich etwas seltsam Fremdes wie gleichermaßen Unheimliches anhaftete?
So war beispielsweise das vermeintliche Paar, bevor es sich in dieses Haus geflüchtet hatte, nach eigener Aussage Augenzeuge geworden, wie rabenschwarz vermummte Gestalten mit gezogenen Waffen im Laufschritt die Strasse überquerten, dabei Passanten ins Visier nehmend, um auf diese wiederholt Schüsse abzufeuern. Das zuletzt zu unserem Kreis gestoßene Männer-Duo ergänzte dieses blutrünstige Szenario durch die Beobachtung, dass die Kriminellen (und um solche musste es sich ja wohl handeln) auch versucht hätten, Geiseln zu nehmen.
“Wann sieht man endlich mal was von euch Wichsern? Wir sind nicht hier, um Plätzchen zu backen!”
“Hopp, hopp, hopp! Sonst gibt es heute noch massiv Ärger!”
“Wir tun besser, was sie sagen.”
Der den letzten Satz äußerte, war der Mensch mit dem schütteren Haar, und er äußerte ihn mit unerwartet gelassener Stimme. Er stand nahe bei mir, und ich hatte mittlerweile feststellen können, dass er nicht der junge Mann war, für den ich ihn zunächst gehalten hatte. Aber er hatte ein junges Gesicht, eines, dass mich mit seinen Sommersprossen entfernt an einen Marienkäfer erinnerte.
“Er hat recht. Gehen wir also.”
Das hätte, in parahistorischer Verschränkung, auch ein Sekundant des Grafen von Monte Christo sagen können, es sagte aber hier&jetzt der Kleinere unseres Männer-Duos, sich dabei liebevoll über sein brikettschwarzes, urwalddichtes, geöltes, an den Schläfen mausgraues, negroid krauses Haupthaar streichend. Er sagte es sonderbarerweise zu mir gewandt. Als hätte ich ihn dazu aufgefordert. Was, bei Wittgenstein, nicht der Fall war. Sein Partner respektive Begleiter hatte bislang noch kaum einen Laut von sich gegeben. Trotz seiner hoch aufgeschossenen schlaksigen Figur besaß er einen Bauch, der, gleich einem runden Schiffsbug, seinem Eigner dominant vorauseilte.
Im Nachhinein stellte sich immerhin die Frage, ob man nicht besser geblieben wäre, wo man war oder doch wenigstens den Versuch gemacht hätte, einen Notausgang zu finden. Denn das Los, dass unsere verlorene Truppe in der Folge erwartete, bot wenig Spielraum und noch weniger Freiheitsgrade. Man mag ja, in schwermütigen Augenblicken, der Auffassung zuneigen, dass das Schicksal jeden von uns ohnehin in Geiselhaft nimmt, hier verhielt es sich aber ganz simpel so, dass wir Artgenossen krimineller Prägung dafür als Pfand dienten, dass die außerhalb des Hauses in Stellung gegangene Staatsmacht sich abwartend verhielt, jedenfalls vorerst keinen Versuch unternahm, das Haus zu stürmen.
Man sperrte uns in den Keller. Es gab Licht, aber keine Sitzgelegenheit. Und es schien, als würde uns eine lange, ungewisse Nacht bevorstehen. Über unsere Aufseher ließ sich nicht viel sagen. Sie waren ja maskiert. Und sie blieben, da sie uns ihre Gesellschaft vorenthielten, ohnehin bis auf weiteres unsichtbar; was in unserem Kreis allerdings niemand ernsthaft als Verlust wahrnahm.
Wie oft war es mir nicht schon widerfahren, dass ich mich gefragt hatte - im Bus, im Flugzeug, im Kino oder im Wartezimmer eines Arztes sitzend - angesichts des Umstandes, einen wenn auch nur kurzen Abschnitt meiner Lebenszeit mit mir unbekannten Personen zu teilen (Personen, denen ich vermutlich nie wieder begegnen würde) wie es wohl wäre, etwas über deren Wünsche, Träume, Hoffnungen, Vorlieben oder Abgründe in Erfahrung zu bringen. Jetzt befand ich mich also an diesem ungastlichen Ort in einer ähnlichen wenn auch nicht unbedingt vergleichbaren Situation und würde vielleicht Gelegenheit haben, dergleichen Allzumenschliches näher in Augenschein nehmen zu können.
Unfreiwillig zu einer Art Boden-Personal mutiert und vom Unglück in andere Umstände versetzt, fand sich unsere Gruppe trächtig wie einträchtig, die eigenen Jacken oder Taschen als Sitzunterlage nutzend, im Halbkreis zusammen. Wenigstens war es nicht frostbitterkalt. Die Kellerbeleuchtung passte hingegen zur Situation. Sie war spakig und trübe.
“Schätze, es ist an der Zeit, dass wir einander vorstellen.”
In der Tat war es in den Turbulenzen der zurückliegenden Zeiteinheiten bislang versäumt worden, eben das zu tun. So wurde es auf Anraten des Bartträgers mit dem Unfall-Bein nun also nachgeholt. Den, wie ich es sah, farbigsten Namen trug die einzige weibliche Person unter uns, ein Wesen ungewissen Alters, das von seinem Äußeren her ein wenig verschattet wirkte. Sie hieß Melissa Freudenberg.
“Wir sollten uns irgendwie die Zeit vertreiben, solange man uns hier im Ungewissen schmoren lässt. Es könnte vielleicht helfen, nicht nach und nach komplett die Nerven zu verlieren.”
Der Beitrag stammte vom Begleiter Melissa Freudenbergs. Im Trümmerlicht der Deckenlampen wollte es mir scheinen, als hätten dessen Sommersprossen vorübergehend das Erscheinungsbild von Blutmalen angenommen. Dabei machte der von der Taille aufwärts leicht übergewichtige Mann mittlerweile einen recht ausgeglichenen Eindruck. Sein Name lautete Arndt Andersen. Er fuhr fort:
“Wie wäre es, liebe Mitgefangene, wenn wir zu diesem Zweck uns gegenseitig Geschichten erzählen.”
Indem er aus dem Schatten seines überlangen Freundes heraustrat, stellte Hans Pauli, der Kleinere des Männerduos Pat&Patachon die folgende Zwischenfrage:
“Geschichten? Was für Geschichten?”
“Das liegt, denke ich, im Ermessen des Erzählers.”
Nach dieser Antwort und einer kurzen Bedenkpause folgten die ersten Reaktionen. Der Giraffenmann, der, wie man inzwischen erfahren hatte, auf den Namen Walter Steinkorn hörte, machte den Anfang.
“Mein Freund und ich, wir schließen uns dem Vorschlag an, nicht wahr, Hansi?”
“Soweit keine Einwände.”
“Melissa, du bist ja sicher auch mit von der Partie?”
“Bin ich.”
“Ich mache ebenfalls mit.”
“Willkommen im Klub, Castor. Bleiben noch Sie übrig, Max.”
“Weiß zwar nicht, wohin uns die Sache genau führen wird. Aber einverstanden. Will mich nicht ausschießen.”
Nach Wortbeiträgen von Arndt Andersen und meiner Wenigkeit bekräftigte der Kamerad mit dem rostroten Vollbart, der sich der Gruppe als Max Kohlmunk vorgestellt hatte, und, wie von mir unlängst vermutet, so gerne “Leader of the Pack” gewesen wäre, seine letzten Worte, die anfängliche Skepsis zurückstellend, mit einem zustimmenden Kopfnicken. Damit war das Vorhaben formell abgesegnet…
“Verehrtes Publikum, ich bringe, aus gegebenen Anlass, ein - ich nenne es hier mal - kleines Demi-Monde-Epos zu Gehör.”
Mit dieser Eröffnung gab, was ich so nicht erwartet hatte, Walter Steinkorn den erzählerischen Auftakt. Bevor er aber ansetzte, wandte er er sich erst noch - und das in einem komplizenhaften Ton - an seinen Freund:
“Oder als was würdest du die Geschichte bezeichnen, Hansi?”
“Ich? Nun… als, ich würde sagen, Räuberpistole.”