Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 15

Kapitel 12

Оглавление

Er schließt hinter sich ab.

Dann legt er Hand an sich, mechanisch, bei herab gelassener Hose. Er macht sich nicht die Mühe, sie auszuziehen. Das Ganze dauert kaum länger als eine Runde Zähneputzen. Dann wäscht er sich, guckt aus dem Fenster des Badezimmers, zu der Zypresse hinüber, die heftig im Wind schwankt und dabei aussieht, als sei sie lebensmüde. Es sieht natürlich nur so aus. Dann brabbelt er vor sich hin, wie er es manchmal tut: Das, was man das Jenseits nennt, ist im Buch des Lebens doch lediglich der Verweis auf eine noch unaufgeschnittene Seite.

Sie waren in der Kirche, Constanze und er, an diesem Morgen. Es war eine dieser jähen, spontanen Einfälle, die seine Frau gelegentlich heimsuchen. Es war die Kirche im nächst gelegenen Ort, ein katholisches Gotteshaus. Sie sind beide nicht katholisch.

Heute ist Sonntag. Das Gotteshaus zeigte sich in der Frühe recht gut besucht. Der Geistliche, ein schmaler alter Mann, hielt eine Predigt. Sie war kurz. Jemand spielte die Orgel. Eine Bachsche Fuge, wie Oskar herauszuhören meinte. Er glaubte noch etwas zu hören. Er hörte sich mit dem Priester plaudern und diesen etwas sagen und sich dann etwas fragen (frei nach Karl dem Dünnen):

Der Ort der Erlösung, mein Sohn, liegt jenseits unserer Vorstellung.

Und wo ist das genau?”

Irgendwo im Nirgendwo.”

Oh, ich glaube, da war ich schon einmal.

Und dabei kam er sich vor wie ein Ministrant, der die Glocke läutet. Er und Constanze setzten sich nach dem Gottesdienst noch in ein Café. Die Wetterlage zwischen ihnen entsprach in weiten Teilen der himmlischen, zarte Schäfchenwolken mit winzigen Schaumkronen.

Der Geistliche eben erinnerte mich an meinen Bruder.

An den jüngeren oder den älteren?

Den älteren.”

An Jakob also. Und worin? Äußerlich?

Nein. In der Art, wie er redete, in der Stimme, in den Bewegungen.

Constanze trinkt von ihrem Kaffee. Oskar hat sich zusätzlich eine tarte aux pommes kommen lassen. Sie greift, noch ehe er davon zu essen begonnen hat, nach der Gabel und genehmigt sich ein Stück, was er mit einem Runzeln im Unterholz seiner Stirnfalten quittiert. Plötzlich weist seine Hand über den Platz, an dem die Terrasse des Cafés liegt.

Schau mal!

Was?

Dort drüben!

Das kleine Mädchen?

Ja... Himmel! Hat man je eine so aufblühende Schönheit gesehen?

"Sehr anmutig, die Kleine, aber, du weiß t ja... Sch ö nheit vergeht."

"Sicher, Schatz. Das Leben doch aber auch."

"Nur leider in aller Regel sp äter."

Tröste dich. Wirklich schön ist nur, was traurig endet.

Und wenn es so wäre, es tröstet mich überhaupt nicht.

Bestellen wir noch einen Calvados zum Kaffee?

Wie du magst. Übrigens...

Ja?

Heute wird es hier im Ort ein Volksfest geben, mit Musik und Tanz.

Ja, und?

Wollen wir da nicht mal hingehen?

Ach Stänzchen, du weisst doch, ich tanze nicht.

Tu es mir zuliebe.

Seufz.

Tust du es also?

Na schön, ich tue es.

Wir tun es!

Ja, einverstanden, wir tun es.

Oskar bestellt zwei Calvados. Es wird wieder stickig heiß werden heute. Der steinerne Platz glänzt wie der Rücken eines riesigen Gürteltiers. Einige Frauen gehen mit Sonnenschirmen. Ein Duft von Lavendel. Ein Hund bellt. Alte Männer spielen Boule. Junge Männer prügeln sich. Gleich wird die Turmuhr schlagen.

Gerade musste ich an meinen Vater denken. Er war ein guter Handwerker. Er war selbstbewusst und unbeirrbar. Und er war kreativ, aber kein Denker.

Wieso fällt dir gerade jetzt dein Vater ein?

Weil ich vorher an meinen Bruder denken musste.

Und du findest, dein Vater hatte zu wenig Verstand?

Er war kein sehr heller Kopf. Er hatte andere Qualitäten.”

Ich beneide Leute manchmal darum.

Worum?

Um ihre Einfalt - als Teil des eigenen Immunsystems. Es schützt.

Oskar trinkt von dem Calvados. Der Vater seiner Frau, kommt es ihm in den Sinn - das vergaß sie eben noch hinzuzufügen - war ein Weiberheld. Wenn sie von ihrem Elternhaus erzählt, sinnt er weiter, ist es stets, als geschehe es zum ersten Mal. Sie tut es mit einem gewissen Staunen, so als wundere sie sich, einmal Kind gewesen zu sein.

Am anderen Ende des Platzes ist ein Blumenstand. Neben dem Blumenstand verkauft ein kleiner Junge frische Erdbeeren. Jeden Donnerstag ist Wochenmarkt. Wenn Oskar und Constanze Fisch essen, was sie häufiger tun, besorgen sie ihn hier.

Meine Eltern waren im Grunde beide sehr konservativ. Meine Mutter kaufte beispielsweise ausschließlich einheimische Produkte.

Wieso sagst du, waren? Deine Mutter lebt doch noch?

Ja. Jetzt im Alter ist sie milder. Wir Kinder waren früher immer ängstlich darauf bedacht, alles richtig zu machen, was erklärt, warum wir in vielem so sind, wie wir sind… Wie war das bei dir?

Anders.”

Aber in deiner Familie gab es doch auch mannigfach Spannungen, Konflikte und Probleme?

Natürlich. Und wenn auch: Es gibt für jede Lösung ein passendes Problem.

Beschäftigt dich nicht, was dir aus deiner Kindheit an unaufgelösten Resten geblieben ist?

Wozu?

Zur Vergangenheitsbewältigung.

Ich kenne niemanden, der seine Vergangenheit bewältigt hätte. Noch ein Stück Kuchen, Stänzchen?

Danke.”

Danke ja oder danke nein?

Danke ja.”

Hier bitte. Außerdem, ich schaue nicht zurück.”

Wohin schaust du denn dann?

Nach vorne, Schatz und gelegentlich, wie du, in den Spiegel.

Da siehst du doch noch gar nichts, vorne, meine ich.

Das gilt vielleicht für andere. Gibst du mir noch mal den Zucker rüber?

Du isst zu viel Süßes.

Jetzt redest du wie meine Mutter.

Ich finde, du gehst zu sorglos mit deiner Gesundheit um.

Man lebt eben so, als ob das Leben kein Ende hätte.

Das kann ziemlich gefährlich sein.

Vergiß nicht, das Leben ist nur ein Traum.

Wer hat das noch gleich gesagt?

Jemand, der daraus erwacht ist.

Ich für meinen Teil denke oft über den Tod nach.

Das macht ihn nur lebendiger.

Das musst du mir erklären.”

Nein, ich erkläre jetzt nichts mehr…

*

Was ist das für ein Buch, das du da liest, Oscar?

Der Angesprochene sah auf, ließ die Frage jedoch offen. Das konnte er, denn der Fragesteller erwartete, wie es schien, gar keine Antwort. Der Fragesteller war Frank Freyer-Mohun. Es kam nicht oft vor, dass Mohun eine Parkanlage betrat. Heute tat er es. Sicher nicht des Wetters wegen, das sich von seiner geschmeidigsten Seite zeigte. Mohun setzte sich neben Oscar auf einen der hiesigen, stiftdünnen Metallstühle. Es herrschte munteres Treiben in den Tuilerien.

Ich finde selten Zeit zum Lesen, und wenn, dann muss es ein Roman sein, in dem drei Dinge vorkommen: Frauen, Zigarren und schnelle Autos.

Die Zahl drei, befand Oscar, schien Mohuns Lebenszahl zu sein. Er legte seine Lektüre beiseite und schlug die Beine übereinander. Er fragte sich wieder einmal, wo eigentlich Mohuns indisches Erbe lag? Und er kam, wie so oft, zu dem Ergebnis: es gab keines. Oder verbarg es sich hinter seiner kurvenreichen Geschäftstüchtigkeit, seiner tigerkatzenhaften Vorsicht? Sein Nebenmann spreizte indessen eine seiner kleinen, feingliedrigen Hände und studierte die akkurat geschnittenen Fingernägel. Seine Miene blieb dabei ausdruckslos.

Du bist sicher nicht hier, um mit mir über Bücher zu reden?

Erraten, mein Freund.

Der kurze, zweisätzige Dialog hätte aus einem solchem stammen können, einem Buch nämlich. Er fand zunächst keine Fortsetzung. Mohun ließ sich Zeit mit einer ausführlichen Erklärung. Er tat, als studierte er seine nähere Umgebung, die flanierenden Leute, das flüsternde Laub der Bäume, die fleißig pickenden Spatzen, die rastlosen Automobile, die die nahe Place de la Concorde wie Kugeln in einem Roulette Rad umrundeten. Eine Szenerie aus dem Poesiealbum.

Hast du die Kurve gekriegt?

Was meinst du?

Du weißt schon, was ich meine.

Du meinst meine Scheidung? Ja, sie ist eingereicht.

Du brauchst lange, bis du mal eine Entscheidung fällst, nicht wahr, mein Freund?

Das kommt darauf an.

Egal, ich lade dich jetzt ein auf ein Glas Wein. Wir müssen deinen Abschied vom Ehestand feiern.

Du kennst meine geschiedene Frau doch gar nicht.

Eben darum.

Sie marschierten ein Stückchen zu Fuß. Sie marschierten die Prachtstraße hinauf, die im Grunde keine war, die Champs-Elysées. Oscar ahnte, dass Mohun einen anderen Anlass hatte, ihn beiseite zu nehmen als den, den er genannt hatte. Mohun war ein Mann der Tat, doch in manchen Dingen konnte er verschlungene Umwege beschreiten. Als sie dann beim Wein saßen, erfuhr Oscar den wahren Grund. Es ging um Mohuns Vater. Ja, selbst Mohun hatte einen Vater. Es gab Leute, bei denen vermutete man das gar nicht. Und Mohun hatte Probleme mit seinem Erzeuger. Er wollte nicht zu viel darüber mitteilen, nur soviel, dass Oscar sich ein Bild davon machen konnte, welche Aufgabe ihn erwartete.

Er war nicht begeistert von dem, was Mohun ihm vorzuschlagen hatte. Es war im engeren Sinne auch kein Vorschlag. Doch würde er, Oscar, es wohl tun. Es würde ihm, wie er unhörbar seufzend feststellte, am Ende nichts anderes übrig bleiben. Er fragte sich, während er kleinlaut sein Jawort gab, was er hier eigentlich machte, was er die letzten Monate, Jahrzehnte gemacht hatte? Wo war es nur hin, das Leben aus zehn, zwanzig, dreißig abgelaufenen Jahren? War es mehr als geronnene Milch, mehr als ein getrocknetes Blatt, das man zwischen zwei Buchdeckel quetschen konnte, ein Buch, das vielleicht nie jemand wieder aufklappen würde? Er trank den Wein aus, während Mohun ihm irgendetwas erzählte. Er hörte kaum zu, nickte nur abwesend hin und wieder mit dem Kopf. Er war in einer melancholischen Stimmung. Das war nichts Besonderes. Das war alltäglich. Wenigstens tageweise.

Er sah, während er einen Schluck trank, seinen eigenen Gedanken nach. Geht mit Gott, brummte er und erwähnte damit jemanden, dessen er nur in manchen Daseinspausen schnittchenweise gedachte.

Soll ich dir sagen, Oscar, worauf es letztlich im Leben ankommt?

Bitte, wie?

Darauf, dass die Rechnung aufgeht.

Vorläufig, dachte Oscar, plötzlich wieder wach und aufmerksam und diese Äußerung für sich behutsam aufgreifend, geht jedenfalls kaum eine Rechnung auf, weder im Großen und Ganzen noch im Kleinen oder in Teilen.

Er fühlte sich zur Zeit nicht gut aufgehoben in seiner Haut, wofür es verschiedene Gründe gab. Es hatte zum einen aktuell mit dem zu tun, was Mohun ihm als Auftrag zugedacht hatte, zum anderen und das weitaus entschiedener, mit Saloua. Eigentlich hätte er zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Kontakt mit Mohun meiden sollen, denn er hatte Mühe, diesem unbewaffnet in die Augen zu blicken. Es war ja alles noch so frisch…

Er traf sie in einer gedämpften Seelenlage an. Wenigstens erschien es ihm so. Den Hintergrund erfuhr er überraschenderweise aus ihrem eigenen Mund. Überraschend deshalb, weil sie sonst über ihr Binnenverhältnis zu Mohun wenig nach außen dringen ließ. Was man darüber hörte, hörte man von anderen, erfuhr man aus Beobachtungen anderer, aus Vorfällen, Gerüchten, Vermutungen, wie man sie jederzeit und überall zur Genüge antreffen konnte.

Mohun konnte radikal handeln, wenn es zu Auseinandersetzungen zwischen Saloua und ihm kam. Er wurde zwar nicht tätlich, aber er versteinerte. Und sie schlug sich jedes Mal das Näschen blutig, weil sie glaubte, sie könnte die steinerne Rüstung, die er angelegt hatte, durchbrechen. Das war kaum möglich. Er zog alles von ihr ab, seine Gunst, seine Zuwendung, seine Großzügigkeit. Er schloss sie von allem aus, wies seine Leute an, sie zu meiden, er schuf eine Mauer des Schweigens und der Isolation um sie herum. Da seine Freunde auch ihre Freunde waren, und niemand sich seinen Wünschen widersetzte oder zu widersetzen wagte, war sie am Ende ziemlich allein. Es blieben ihr nur ihre Eltern, doch mischten diese sich nicht ein, wenn es um Dinge ging, die mit Frank Mohun zu tun hatten. Für sie war dieser Mensch und die Beziehung ihrer Tochter zu ihm nicht existent. Sie ignorierten ihn, soweit ihnen das möglich war.

Eine solche Situation hatte ihre Stellungen bezogen, als Oscar und sie sich trafen. Und Saloua berichtete davon, unter Tränen. Er hatte sie noch nie weinen sehen. Sie sah entzückend aus, wenn sie weinte. Das sagte er ihr natürlich nicht. Stattdessen legte er einen Arm um sie, dann beide; dann küsste er sie behutsam auf die Wangen, die nass waren und warm, eine Wärme, die ihr ganzer Leib ausströmte, eine Wärme, die er immer hatte spüren wollen. Nun spürte er sie. Nur ihre Hände waren, als er sie fasste, eisig kalt.

Wenn ich kann, würde ich dir gern helfen.

Du kannst mir nicht helfen, Oscar.

Bist du dir da ganz sicher?

Ja. Aber es ist schön, dich jetzt bei mir zu haben.

Sie lehnte sich an ihn. Es war mehr als das. Sie sank in die Arme seiner lang gehegten Wünsche. Er wusste, er hatte das unter anderem oder vielleicht sogar vollständig dem Umstand zu verdanken, dass sie niedergeschlagen und verzweifelt war. Ja, sie mochte ihn, nein, lieben würde sie ihn nie. Das war im Augenblick egal. Er dachte jetzt nicht darüber nach. Er genoss ihre uneingeschränkte Nähe. Er hätte sie so gern getröstet.

Sie verließen das Bistro, in dem sie sich getroffen hatten, nach etwa einer Stunde. Arm in Arm. Sie war wieder gefasster. Sie hatte kein böses Wort über Mohun geäußert, sondern lediglich von ihrer Enttäuschung, ihrem Kummer gesprochen. Das wurmte ihn etwas.

Sie gingen zu ihm. Es war früher Abend. Er nahm eine Flasche Rotwein aus dem Schrank, sowie zwei Gläser. Er entkorkte die Flasche und schenkte ein. Sie tranken und schwiegen gemeinsam. Dann setzte sie sich aufs Bett und streifte mit dem jeweils einen Fuß die Sandale von dem anderen Fuß, so dass das Schuhwerk zu Boden purzelte. Sie zog die Beine auf das Bett und an ihren Leib. Mit einer Hand umfasste sie ein Knie, mit der anderen hielt sie das Glas Rotwein. Sie sah ihn lange an. Ihr Blick war vieldeutig, ihr Atem ruhig. Schließlich sagte sie:

Ich weiß, was du willst, und heute will ich es auch.

Sie schlief mit ihm... Zwischen Steinen wächst der Mond. Es war nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Es war besser. Und das, obwohl er in seiner Fantasie bereits tausendmal mit ihr geschlafen hatte. Oft überflügelt die Fantasie die Wirklichkeit. Hier war es umgekehrt.

Die Entleerung des Möglichen

Подняться наверх