Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеEr sieht sich, wie er den Koffer beiseite legt. Das Gepäckstück hat bis vor kurzem unbeachtet in einer Abseite gelegen. Seine torfbraune, harte Lederhaut ist punktiert mit bunten, jetzt verblassten Aufklebern aus allen Teilen der Welt. Der Vater ist, wie er weiß, eine Zeit lang viel gereist, nach dem Krieg, vor der Geburt des Sohnes. Er ist zur See gefahren. Das war, als er ein junger Mann war. Vor dem Krieg, oder präziser: zwischen den Kriegen, den beiden Weltkriegen. Sie tragen den gleichen Vornamen, beinahe. Ansonsten gibt es, so hat der Sohn es wenigstens bis vor kurzem betrachtet, recht wenig, worin sie einander ähnlich sind.
Oskar hat vor Tagen begonnen, in Aufzeichnungen und Briefen zu lesen, wahllos zunächst. Die Pariser Blätter finden eher seine Aufmerksamkeit als das Kriegstagebuch. Er kennt Paris flüchtig, war mal für eine Woche dort. Als Soldat war sein Vater in Norwegen eingesetzt. Ein ruhiger Posten. Dennoch, einmal, so erfährt Oskar, wollte er desertieren. Er tat es nicht. Er kam unbeschadet durch den Krieg. Aber er war danach allein. Seine erste Frau hatte ihn, während er fort war, verlassen, hatte sich mit einem Franzosen zu den gallischen Nachbarn abgesetzt. Er hörte nie wieder etwas von ihr.
Als der Vater in Paris war, war Oskar Junior schon ein angehender Jungmann. Der Vater blieb nicht lange in der französischen Metropole, zwei Jahre. In dieser Zeit lebte er von seiner Familie bereits getrennt. Das ist dem Sohn natürlich geläufig. Wovon er bislang wenig wusste, ist, was der Papa während seines Aufenthalts in der Fremde so getrieben hatte…
Vergangene Nacht wurde er Zeuge eines Attentats. Es geschah auf einem weiten Platz, den eine dicke Wolke von Menschen füllte. Oskar war darin ein Korn. Er hörte den Schuss. Er sah den Sturz. Das Opfer war ein hochrangiger politischer Amtsträger. In dem nachfolgenden panischen Wirrwarr wurden zahlreiche Personen verhaftet. Darunter, zu seiner grenzenlosen Überraschung, auch er. Man unterzog ihn einem Verhör. Man konfrontierte ihn mit zwei Fotografien, die man übergroß auf eine Leinwand warf. Jedes zeigte ein männliches Gesicht, das von einer Kapuze nur leicht verdeckt wurde. Es waren Aufnahmen, geschossen während der Veranstaltung inmitten der Zuschauermenge.
Auf dem einen Foto sah man das Gesicht mit geschlossenen Augen, auf dem zweiten starrte es himmelwärts. Zwei Schnappschüsse. In der Tat sah die Person Oskar ähnlich. Und er sah sich plötzlich unter Verdacht. Selbst wenn sich zeigte, dass er unschuldig war, dachte er, fiel nicht dennoch ein Schatten auf sein zukünftiges Leben? Aber immerhin, so dachte er weiter: auf den Fotos sehe ich gut aus. Glücklicherweise kam er bald wieder frei. Das hatte er einem Mann zu verdanken: Mohun. Wie er das anstellte, erfuhr Oskar nicht. Er wurde von Mohuns Leibwächter Joe le Brie mit dem Wagen abgeholt. Als sie ans Ziel kamen, erwartete Mohun ihn bereits.
“Dir fehlt ein starker Wille, Oscar. Dennoch mag ich dich. Ich mag musisch veranlagte Menschen. Du könntest der Rücksitz meines Ichs sein. Ich erkenne das in dir. Wenn du willst, mache ich dich zu meinem Teilhaber, zu meinem geistig-seelischen Teilhaber.”
Es ist gar nicht von mir die Rede, der Angesprochene ist mein Vater, ging es Oskar durch den Kopf, als er aus dem Traum erwachte…
Die Bilder drehen ab, und Oskar sich auf die andere Seite. Er möchte wieder einschlafen, aber es gelingt nicht. Er steht auf und will die Verandatür schließen. Etwas bewegt sich. Eine pockennarbige Kröte hockt auf der Türschwelle. Er tritt nach ihr, und sie hüpft eilig davon. Draußen ist alles schwarz. Eine fugenlose Wand, die das Haus zu zerquetschen droht, das Haus und seine Insassen. Seine Hand zittert. Er zieht die Vorhänge zu. Eigentlich mag er es nicht, wenn die Vorhänge zugezogen sind. Er tut es dennoch. Constanze würde es gut finden. Sie fürchtet sich unablässig vor Einbrechern, hier draußen, wo die Häuser einzeln stehen und manche leer sind. (Gut, dass sie ihn jetzt nicht sehen kann.) Dabei lauern in den Städten doch weitaus größere Gefahren.
Er legt sich wieder hin. Er ist zum Schlafen nach unten auf die Couch gewechselt, weil es, wie er hofft, an diesem Ort etwas kühler ist. Er hat Constanze all die Zeit über nichts von seinem Fund erzählt. Und er hat nicht vor, es zu tun. Er nennt es seine Biarritz Connection. Denn dort, innerhalb weniger Tage, las er fast alles, was sich in dem Koffer fand.
Einige Zeilen gehen ihm nach, während eine erschöpfte Müdigkeit seinen Atem langsamer und seine Glieder schwerer werden lässt, Zeilen aus den väterlichen Skizzen, Zeilen, die sich wie die Coda einer unvollendeten Erzählung in seinem Kopf formieren.
…Ich ahnte, ich hatte einen Fehler begangen, doch war es zu spät, ihn zu korrigieren. Das Blau des Himmels, das sich beim letzten Mal in ihren Augen gespiegelt hatte, war mir blass erschienen. Ich wollte heimkehren, voller Geschichten, nur wer würde meine Geschichten hören wollen? Farben, Klänge stiegen in mir auf und erloschen wieder - abschiedsschwer. Und mit ihnen erlosch ein Teil meines müde gewordenen Selbst…
*
“Schreib ein Lied für mich, Oscar. Seit ich vierzehn Jahre alt war, wünsche ich mir das.“
Die Stimme kam aus dem Off. Oscar dachte an diese Worte, die die letzten gewesen waren, ehe sie sich trennten. Er hatte Mohun in aufgeräumter Stimmung angetroffen, den Blick, wie stets, stahlgrau, glänzend und echsenhaft wachsam auf totes wie auf lebendiges Material gerichtet.
Der Tag trug keinen Minirock, aber schon etwas Ähnliches. Er begann leer, geruchlos wie eine noch ungebrauchte Strumpfhose und erinnerte ihn, warum, war ihm nicht so ganz klar, an sein erstes Zusammentreffen mit Mohun und gleichermaßen an sein Debüt im Rapzodie.
Ersteres trug sich zu an einem staubtrockenen Morgen gegen neun Uhr mitteleuropäischer Zeit im Hauseingang vor Ferenczys Tanzladen. Unrat bedeckte den Bürgersteig. Die Stadtreinigung war aus unveröffentlichten Gründen nicht in Aktion getreten.
Ein kleiner Mann mit einem großen Gesicht. Mohun, ein von Gestalt kräftiger Mensch, stand, beide Hände in den Taschen seines Kamelhaarmantels, so lässig wie breitbeinig da, ein Wesen, seiner selbst, wie es den Anschein hatte, vollkommen gewiss. Er trug einen Hut mit schmaler Krempe, aus torfbraunem Wildleder. Wenn er diesen lüftete, rückten eine mondähnliche Stirn, die sich über einer leicht gebogenen Nase wölbte, sowie zu den Seiten hin ozeanisch gewelltes, dunkelbraunes Haar vor das Auge des Betrachters. Er trug das Haar kragenlang. Seine Haut besaß eine Tönung wie von geröstetem Sesamöl. Er war Mitte Vierzig. Er rauchte nicht. Er trank nicht. Er war Vegetarier.
Über seine Vergangenheit sprach er nur ungern. Seine Mutter kam aus Indien, sein Vater war Sachse und Kneipier. Sein eigentlicher Name war Frank Freyer, doch trat er, den Mädchennamen seiner Mutter mit einbeziehend, als Freyer-Mohun auf, die Menschen in seiner Umgebung nannten ihn in der Regel abgekürzt Mohun. Das schien eine der wenigen Regeln zu sein, die zu akzeptieren er sich bereit fand.
Frank Mohun schloss die Tür auf, er hatte den Hauptschlüssel zum Rapzodie. Sie blieben ungefähr eine halbe Stunde.
“Riecht nach Frauen hier, nicht wahr?”
“Ja… wann soll das Ganze, ehm, über die Bühne gehen?”
“Wenn die Dinge wieder im Fluss sind.”
“Ah, bon.”
“Was denkst du inzwischen darüber?”
“Nichts. Ich habe das Denken eingestellt.”
“Ich sehe es dir an. Die Sache missfällt dir, nicht wahr? Aber betrachte es doch einmal so herum: Der Mann genießt meinen persönlichen Schutz. Es gibt hier eine Menge finsterer Gestalten. Und auf diese Weise kann ihm kaum etwas passieren.”
“Wenn du es sagst.”
“Und außerdem, es geht weniger schief.”
“Ich bin es gewohnt, dass Dinge schief gehen.”
“Schenk uns noch ein Glas ein, Oscar… Man sollte sich, mein Lieber, nie mit Verlierern zusammen tun… schon gar nicht, wenn man selber einer ist.”
“Danke für den Rat.”
“Noch etwas, Oscar. Ich kann, ohne dass man mir Widerstände entgegensetzt, nicht leben. Bei dir verhält es sich umgekehrt. Du scheinst mir süchtig nach Ausgleich.”
Ehe sie den Laden verließen und sich trennten, tranken sie einen weiteren Cognac aus einer Flasche, die Mohun zuvor einem abschließbaren Barschrank entnommen hatte.
Vor der Tür wartete Joe le Brie mit dem weißen Citroën seines Herrn. Sein eines Auge, es war das linke, war nicht in Ordnung. Es irrlichterte. Joe war riesig, stammte aus dem Elsaß, und war Mohuns Leibschatten. Die beiden Männer bildeten eine Einheit. Ja, sie schienen miteinander verwachsen zu sein. In Joes mächtiger Brust, sagte Mohun gern, schlage ein butterweiches Herz…
Irgendwann, viel zu spät, ging sein erster Arbeitstag zu Ende. Mit faulem Nachgeschmack. Schon ein Voraus-Kommando seiner Erwartungen hatte Schiffbruch erlitten. Als Ferenczy ihm gegen Mittag einen Rohrpostbrief zukommen ließ, erfuhr Oscar, dass die Heizung im Rapzodie ausgefallen war. Und das an diesem frostkalten Wochenende. Bereits seine Mansarde hatte sich als schlecht geheizt erwiesen. Oscar musste sich bislang so manche Nacht in den Tiefschlaf frieren. Jetzt also zusätzlich dieses malheur an seinem neuen Arbeitsplatz. Ein unfroher Auftakt.
Das Interieur war von Plüsch dominiert, spermafarben. Es gab keine Bedienung. Ferenczy selber sorgte für den Ausschank der Getränke. Man tanzte Calypso&Tango. Die Begleitmusik kam von Schallplatte. Das würde jetzt, wo Oscar da war, anders werden. Und das Publikum? Viel überreife Weiblichkeit, Ehefrauen,Witwen, die dem néant ihrer irdischen Existenz zu entrinnen suchten und drohten, mit jeder frisch aufgelegten Körperdrehung die wehrlose Eleganz dieser beiden stolzen Tänze zu erdrosseln. Es gab sogar einen Gigolo, denn es herrschte Männermangel.
Der Gigolo war ein unechter Spanier. Er leistete den Damen Beistand, nicht allein wenn es an der Schrittfolge haperte. Er war Ungar wie Ferenczy, hieß eigentlich Laszlo Varga, trat aber bei Ferenczy unter dem Namen Ramon Garcia auf. Er hatte, wie Oscar hörte, früher in Wien gelebt. Er war ein passabler Tänzer, doch wirkte er wie ein Restposten. Er hatte sicher einmal bessere Tage gesehen, jetzt bröckelte der Putz. Es war ein zierlich gebauter Mensch, vieles an ihm wirkte kraftlos, die Augen, die Gesten, die leicht näselnde Stimme. Er war, genau wie Oscar, eben über mittelgroß, sein Gesicht war konkav und von ranzigen Magenfalten durchzogen. Sein Alter ließ sich schwer schätzen, sein Haar war dunkel. Möglich, dass er es färbte.
Sie hatten flüchtig miteinander parliert, auf Deutsch, vor der Veranstaltung, über Kunst und über Künstler. Garcia-Varga war der ebenso entschieden wie unteilbar vorgetragenen Auffassung, alle Kunst knechte den Künstler, weil dem Tyrannen Erfolg auf ewig fest versprochen.
“ Sie sehen das, ehm, reichlich düster.“
“ Ich kenne zu viele Zukurzgekommene.“
“ Wo haben Sie früher gearbeitet?“
“ Sie meinen, hier in Paris?“
“ Ich meine, in Wien.“
“ In einem Kaffeehaus, als Bedienung.“
“ Spielen Sie ein Instrument?“
“ Ein wenig die Bratsche. Warum fragen Sie?“
“ Mir kam die Idee, Sie könnten mich musikalisch vielleicht... verstärken.“
Wie es Oscar beiläufig zu Ohren gekommen war, hatte Varga früher einmal ein eigenes Geschäft besessen, einen Musikalienhandel. Doch darüber redete er nicht.
Ein weiteres Gespräch fädelte sich ein, nachdem die ‘Tanzstunde’ vorüber war. Dieses Mal war es Garcia-Varga, der auf Oscar zukam, in dem leicht schlingernden Schritt, der diesem Mann, wenn er nicht tanzte, offenbar zu Eigen war.
“Monsieur, ich hätte da meinerseits eine Frage.“
“ Fragen Sie.“
“ Spielen Sie Schach?“
“ Verhalten.“
“ Dann lassen Sie uns demnächst doch eine Partie spielen, nach der Arbeit.“
“ Meinetwegen.“
“ Übrigens, Monsieur von der Höh, woher haben Sie eigentlich Ihr gutes Französisch?“
“ Gut? Mhm, Na ja... Ich war als junger Mensch, ehm, für einige Zeit in der Gascogne.“
Oscar hatte es eilig. Ihm war nicht danach, viel zu reden. Ferenczy wollte ihm noch sagen, dass an diesem Abend ja alles glatt verlaufen sei und er seinen musikalischen Einstieg zufriedenstellend gemeistert habe, doch Oscar winkte in knapper Bestätigung ab, brabbelte ein rasches oui, oui und entschwand.
Er strebte heimwärts, ließ den Tag kurz Revue passieren, dann betrank er sich. Er schwankte quer durchs Zimmer. Die Umgebung schwankte. Das Universum schwankte. Vielleicht, dachte er und fand den Gedanken irgendwie tröstlich, ist der liebe Gott ja Alkoholiker. Betrunken sackte er schließlich auf sein Bett. Es war eben nach Mitternacht. Und Freitag, der Dreizehnte.
... In niobgrauer Fr ü he in einer niobgrauen Stadt irgendwo im Auge schwarzer Tr ä ume fand er seinen Leib, seine sieben Sachen unter sieben Zwergen wieder, und die Zwerge waren zu eng geratene Gedanken, die aus ihrem Nest gefallen waren, als der Rest seines Bewusstseins noch schlief. Ein Gespinst aus Wirrnis und Schrecken lag dar ü ber. Kamele liefen durch das Bild. Wind zerrieb W ü stensand vor einer eingeölten Sonne. Und es war heiß, erstickend heiß ...
Oscar erwachte schweißgebadet. Für Minuten wusste er nicht, wo er war, wie er hieß, was geschehen war. Er stellte fest, dass er noch in seinen Kleidern steckte. Dann kam die Erinnerung. Sie schmeckte süßsauer, in Teilen salzig.
Er stand auf, er wusch sich, rauchte dann eine Zigarette. Er schaute aus dem Fenster, herab auf den Autoverkehr, auf Passanten, Hunde, Siele, Pflastersteine. Dort drüben war der Tabac, wo er seine Zigaretten, Bus-Tickets und ab und an eine Tageszeitung kaufte. Gegenüber an der Ecke befand sich die Telefonzelle, von wo aus er telefonierte, wenn er telefonieren musste. Dort war das alltägliche Leben... als Tröpfcheninfektion.
Oscar drehte sich um, sein Blick durchmaß einen ziemlich mageren Raum. Und hier... fand Sein Leben statt, Sein Jetzt. Auf 12 Quadratmetern. Bett, Stuhl, Hocker, Tisch, Kochecke... er stoppte die Aufzählung. Er war ohnehin fast damit am Ende. Er hatte Kopfweh. Manches Wirkliche erschien ihm unscharf, atonal, seifig eingetrübt.
“Du merkst dir ja wirklich alles.“
“Schlimmer. Ich führe darüber Buch.“
Oscar seufzte. Bisweilen sah er Conny, seine Noch-Ehefrau (sie waren bislang nicht geschieden), auch wenn sie gar nicht anwesend war. In den Lichtflecken oberhalb der Fensterbank spiegelte sich gerade eine Locke ihres Haars, blond, widerspenstig, unerreichbar.
“Du solltest endlich einmal damit beginnen, dein eigenes Leben sinnvoll zu organisieren.“
“Das ist, ehm, ein wunderbarer Einfall. Lass ihn uns in Serie geben, Schatz.“
“ Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“
“Alles in der Natur macht Sinn, bis auf den Menschen. Er ist der sinnlose Faktor.“
“Du magst ja begabt sein, Oscar. Deine Ansichten sind es jedenfalls nicht.“
“Du siehst, ich widerspreche nicht?“
“Und du hast kein Verantwortungsgefühl.“
“Verantwortungsgefühl... so, so, nun ja.“
“Ja. Denn du hast nie für irgendetwas Verantwortung übernommen, genau wie dein Vater... nicht einmal für dich selber…“
Er schaute einer Stubenfliege zu, die sich, seitwärts des Honigglases, die Flügel putzte. Auch das, konstatierte er, war Dasein. Man sollte, sagte er sich, Haltung bewahren. Hat man einen Stil? Ja, man hat. Denn hätte man keinen, hätte man nicht viel... Er lachte brüchig, drehte sich um seine eigene Achse und hämmerte den Kopf rhythmisch gegen die Wand. Vielleicht gab sich der Schmerz davon ja geschlagen und mit ihm die Erinnerung, das Denken, die Einsamkeit, die Zeit.
Er lehnte sich mit dem Rücken an den grauweiß verputzten Stein. Sein Atem rasselte, als hätte er Asthma. Er war erschöpft, nein, er war nicht erschöpft, er fühlte sich nur so. Und wie sollte es jetzt weitergehen mit ihm? Manchmal war ihm das egal. Alles, was er von sich erkannte, war eine Larve, aus der irgendwann eine weitere Larve schlüpfen würde.
Er setzte sich, nein, er kauerte sich hin. Und hielt inne. Wer nichts tut, sieht mehr… das hatte er irgendwo gelesen. Dann gab er sich aber doch einen Ruck. Denn er hatte ja noch einiges zu erledigen heute. Er brauchte ein paar Notenblätter für sein aktuelles Repertoire. Und Pepe wollte ihm ein Tonband zukommen lassen, mit Aufnahmen von Carlos Gardel. Zum Nachspielen. Im Grunde hing ihm das Ganze bereits jetzt zum Halse heraus, doch, wer konnte es wissen... womöglich lag es allein an der Besetzung, die ihm in dieser Show zugedacht worden war. Er hatte am Abend noch eine Verabredung mit Saloua. Sie wollte ihm Pepes Band übergeben. Er dachte an eine Bemerkung, die sie kürzlich an anderer Stelle geäußert hatte.
“Du bist kein typischer Musiker.“
“ Warum?“
“Musiker sind Familienmenschen.“
Er sah ihr Lächeln. Sie lächelte oft. Es gehörte zu ihr wie die Gischt zur Brandung. Er lächelte auch. Sie wusste nicht, dass er Familie hatte. Er zupfte nachdenklich an der Serviette. Sie saßen im Bistro, schauten zusammen aus dem Fenster. Es herrschte flottierendes Treiben um sie herum. Es war noch früh. Es roch nach Kaffee und nach mutterschoßwarmen Croissants.
“Wir sind unterwegs, unter anderem, um uns fortzupflanzen.”
“Was meinst du damit?“
“Ich meine, man paart sich, man heiratet, man, ehm, zeugt Kinder.“
“Man kann sich doch auch geistig fortpflanzen.“
Verwundert hob Oscar die Brauen. Diesen nahezu unbetont hingeworfenen Einwurf hatte er von ihrer Jugend jetzt nicht erwartet. Seine Antwort erfolgte zögernd, beinahe stockend.
“Das mag sein…nur steckt manchmal, ehm, auch anderes noch dahinter.“
“Wohinter? Worauf willst du hinaus, Oscar? “
“Nun, dahinter steckt, ehm, etwa in meinem Fall... doch lassen wir das.“
Er wollte nicht wehklagen. Nein, kein Selbstmitleid bitte, flüsterte er sich selber zu, nicht hier vor dem Mädchen. Nicht wieder diese Tour, würde Conny gesagt haben. Er steckte sich umständlich eine Zigarette ins Gesicht. Saloua sah ihn sinnend an, hakte jedoch nicht weiter nach.
“Weißt du, Saloua, an manchen Tagen sehe ich nur Schatten. Ich nenne sie Schattentage.”
“Sei bitte nicht so düster, Oscar. Nebenbei…warum singst du eigentlich nicht?“
“Ich? Singen?“
“Du hast eine schöne, eine warme und dunkle Stimme.“
“Das heißt nicht viel. Nicht jede schöne, warme, dunkle Stimme ist eine Singstimme. Außerdem, es wäre, ehm, wohl auch nicht so ganz die geeignete Musik für mich.“
“Du meinst die Musik im Rapzodie?“
“Ja.“
“Ich will gleich auf den Marché. Was ist, begleitest du mich?“
“Ich begleite dich.“
Sie zahlten, erhoben sich und machten sich auf den Weg. Zum Marché De Jean.
*
Der Rausch war stärker an diesem Morgen, die Nebel dichter. Er trug das Pulverfass, das vorher sein Schädel gewesen war, ins Bad. Er hatte sich wieder verspätet, gestern Abend. Triolen der Unregelmäßigkeit. Das Dutzend war mittlerweile voll. Ferenczy tobte und drohte ihm, und das war nicht neu, mit sofortigem Rausschmiss.
“So kann und darf es nicht weitergehen, Oscar, so nicht!“
Das Wasser, das in Synkopen aus dem Hahn glitzerte und über sein Gesicht rann, ließ keinen Raum für intimere Betrachtungen. Es war eiskalt. Er hätte gern ein wärmendes Bad genommen. Doch hier existierte kein Bad, nicht einmal eine Dusche. Er trank in stürzenden Schlucken. An dieser Stelle wäre es wahrscheinlich angebrachter gewesen, mit Salzwasser zu gurgeln, um den Geschmack der letzten Nacht loszuwerden.
Er würde Abbitte leisten müssen. Er hatte es bisher noch jedes Mal getan. Nur dieses Mal war er entschlossen, es nicht bei einem bloßen Je suis désolé bewenden zu lassen. Er wollte mehr tun. Er wollte Besserung geloben. Er war es sich schuldig. Und den anderen auch. Schluss jetzt mit dieser jämmerlichen Figur, die auf den Namen Oscar von der Höh hörte. Schluss mit der Trinkseligkeit, mit all den Peinlichkeiten, den Ausfällen, den Niederlagen vor dem eigenen Ich.
“Du gehst wie ein Mann, du redest wie ein Mann. Du magst nach außen sogar wie ein Mann der Tat wirken, Oscar, aber es ist alles Fassade, dahinter verbergen sich… Wüsten der Leere.“
O-Ton Conny... (Sie konnte reden wie ein Feldwebel). Oscar streckte mühsam den Rücken durch. In aufrechter Haltung verließ er dann das Haus. Einem Menschen unter Milliarden wollte er es wenigstens zeigen, dass er das nicht war: ein Ort der Leere. Dieser Mensch war Saloua.
Da es draußen ungemütlich war, zog er seinen bimssteinfarbenen Cashmere Pullover an unter dem Jackett. Einen Mantel besaß er nicht. Er hatte sich kürzlich einen dritten Anzug kaufen wollen, hatte es jedoch verschoben. Ich verschiebe viel, murmelte er, ich bin zwar kein Verschiebebahnhof, aber ich war zu lange ein totes Gleis. Das muss ein Ende haben.
Im Bus, auf dem Weg vom 19. ins 18. Arrondissement, kam ihm ein Gedanke, der im Grunde keiner war, eher eine Art Bildunterschrift. Und das Bild dazu stammte aus der Dunkelkammer seiner Erinnerung…
“Es war Zufall, das mit der Radiosendung. Es war Zufall, das mit dem Orchester. Überhaupt ist mir lange Zeit vieles so in den Schoß gefallen. Was geschah, geschah in der Regel ohne mein Zutun. Eines Tages, ehm, hörte es damit auf - schlagartig. Alles, was von jetzt an noch zufiel, waren Türen.“
Eine Beichte. Vor der Sonne Afrikas. So nannte er Saloua manchmal, wenn er von ihr zu sich selber sprach. Es war nicht geplant, und er war betrunken gewesen. Nicht völlig betrunken. Sonst hätte er sich dessen nicht in einiger Klarheit entsinnen können.
Er hatte gar nicht über Vergangenes reden wollen. Und sie hatte nicht danach gefragt. Es war eben so geschehen. Sie war in den Raum getreten, unerwartet, und nachdem alle anderen bereits weg waren. Er saß an dem altersschwachen Klavier, das sonst selten zum Einsatz kam und spielte Bach, so für sich allein, was er mitunter tat, zur Ausräucherung der trüben Stimmungslage, die in der vorausgehenden ‘Tanzstunde’ an den Säumen seines Gemüts heraufzukriechen pflegte.
“Das klingt schön.“
“Saloua! Du, hier!“
Er sah auf, überrascht, erfreut. Sie war mitten im Saal stehen geblieben, sie stand dort, die Hände um einen imaginären Bastkorb gelegt, in dem ein Strauß imaginärer Blumen ruhte, das Ganze festlich umspielt von der sonst ebenso neblig wie armselig wirkenden Deckenbeleuchtung. Selbst das müde Linoleum des Tanzbodens schien in diesem Moment einen balzenden Duft auszusenden.
“Ich hörte das Piano, da dachte ich mir, dass du es bist...Was ist es, was du da spielst?“
“Eine Komposition von Johann Sebastian Bach.“
“Wie heißt sie?“
“Invention Nr. 4... Stammt aus einem Zyklus kleiner Stücke für Klavier und ist eigentlich für vier Hände geschrieben. Ich habe es, ehm, ein wenig für meine Zwecke abgewandelt.“
“Ist das die Art von Musik, die du gerne hast?“
“Ja.“
“Warum?“
“Sie ist, ehm, so schlackenlos so rein,…. Gefällt sie dir?“
“Ja, ich mag sie. Allerdings, lieber mag ich Musik, zu der man tanzen kann.“
“Trinken wir ein Glas Wein zusammen, Saloua? Du bleibst doch noch ein bisschen?“
Sie blieb. Und nach einer Weile begann er spontan aus seinem Leben zu erzählen. Sie hörte schweigend zu. Er sprach davon, dass er in entlegenen Zeiten eine Weile in einem Tanzorchester gespielt habe, in mehreren Kontinenten auf Tournee gewesen sei, zwischen Hamburg und Haiti, von Europa über Japan, wo man die größten Erfolge feierte, bis tief hinab nach Feuerland.
Er erzählte ihr ferner, dass er als Swingpianist in London gelebt und dort, zu nächtlicher Stunde, eine eigene smarte, kleine Radiosendung komoderiert habe, eine Sendung, in der er, neben anderem, Musik seiner Wahl hatte vorstellen können. Er erzählte zusammenhanglos. Er hüpfte von Thema zu Thema. Zwischendurch leerte er anderthalb Flaschen Wein und das solo, denn Saloua trank nicht mit.
“Am Klavier sollte die linke Hand stets wissen, was die rechte tut und umgekehrt. Fern des Klaviers ist das, ehm, bei mir nicht immer der Fall gewesen.“
“Und heute ist das anders?“
“Keineswegs... wie du ja weißt.“
Sie lächelten im Chor. Oscars Lächeln kam dabei ein bisschen vom Wege ab. Es lag nicht allein am Alkohol.