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Kapitel 6

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Sie haben einen Anruf erhalten.

Das Gespräch trommelt in seinen Ohren nach. Es war Timo. Er will auf Stippvisite vorbeikommen. Er ist in Paris und da fiel ihm ein, er könne ja einen Abstecher machen und Oskar und Constanze in ihrer Ferienburg aufsuchen. Oskar ist überrascht: Und er ist verstimmt. Er will keinen Besuch. Sie sind hier immer allein, zu zweit. Er liebt diese Abgeschiedenheit, dieses Getrenntsein von allem, was mit der Welt da draußen zu tun hat. Constanze dagegen freut sich. Sie äußert die Absicht, einen Kuchen backen zu wollen. Timo isst gern Apfelgebäck.

Muss das wirklich sein?

Bitte, Oskar. Sei wenigstens hin und wieder ein kleines bisschen Philanthrop.”

Ich bin, wie du weißt, ein miserabler Gastgeber.

Er soll sich in das Auto setzen und noch einmal in den Ort fahren, um einige “unentbehrliche” Dinge zu besorgen, Dinge, die im Haushalt fehlen. Ja, ja, ja, schon gut, er wird es tun, wenn auch widerstrebend. Wie oft, grummelt er, lässt man sich nicht zu Handlungen verleiten, die im Grunde überflüssig sind? Viel zu oft, und das womöglich lebenslänglich.

Das Wetter wird sich ändern. Als Timo bei ihnen eintrifft, hat es sich geändert. Keine Gluthitze mehr, Regen. Und beides geschieht bei Einbruch der Dunkelheit. Timo hat dennoch das Haus, wie er sagt, auf Anhieb gefunden. Constanze findet das ziemlich toll. Wie leicht, denkt Oskar, Frauen doch mitunter zu beeindrucken sind.

Kommt in meine Arme, ihr beiden Goldstücke!

Der Empfang fällt auf allen Seiten herzlich auf, obwohl der Freund ein wenig so tut, als käme er zu Schiffbrüchigen. Findet Oskar. Doch selbst er ist jetzt unvermutet in der Stimmung, den Gast ohne Vorbehalte willkommen zu heißen. Timo hat einen großen Strauß Blumen (weiße Chrysanthemen) für die Hausdame mit dabei und einen Gedichtband für den Hausherrn. Wie er auf letzteres verfallen konnte, ist Oskar ein mittleres Rätsel. Timo, den er später dazu befragt, selbst aber offenbar auch.

100 Jahre nach meinem Tod

starb ich noch einmal.

Die Luft war voller Getöse.

Die Luft war voller Gebete.

Darunter Stimmen, darunter Gelächter,

Beimengungen, aber nicht mehr.

Erinnerungen fielen aus allen Wolken.

Und hatten, da ohne Fallschirm, einen harten Aufschlag.

Wären sie doch geblieben, wo sie waren.

Oskar hat aufs Geratewohl eine Seite in dem Büchlein aufgeschlagen. Er liest und zeigt es mit einer Geste des Befremdens dem Freund. Der runzelt die Stirn. Er trägt neuerdings eine Lesebrille. Er sieht damit merkwürdig altmodisch aus. Sie sitzen im Wohnraum. Constanze ist in der Küche, macht Häppchen für später, nach dem Kaffee.

Wie bist du nur auf diese Lektüre gestoßen, Timo?

Sie ist mir empfohlen worden. Ein verschollener Poet, den man kürzlich wieder entdeckt hat. Mehr weiß ich auch nicht. Es sollte eigentlich ein nachgeschobenes Geburtstagsgeschenk sein.

Oh. heißen Dank.”

Wie alt bist du noch gleich geworden, Oss... zweiundfünfzig?

nfzig.

Richtig Soll ich dir etwas sagen? Ich werde gerne älter. Ja, ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich sechzig werde.

Werde erst einmal so alt wie ich.

Unerwartet ist Timo etwas rot geworden. Er lacht hastig. Es ist ein kräftiges, ein warmes Lachen. Es ist sein Markenzeichen, eines von vielen. Es ist mehrheitlich ansteckend. Oskar tritt ans Fenster, späht ins Dunkel hinaus, das Geräusch des Regens, der gegen die Scheibe klatscht, prickelnd im Ohr. Er würde immerhin, sollte er bis morgen anhalten, auch etwas Gutes haben, der Regen, er wird den Nachbarn davon abhalten, den Rasen zu mähen.

Oskar ist entspannt. Er dreht sich um und mustert, von diesem unbemerkt, den Hinterkopf seines Freundes. Um Timo herum liegt eine Dünung von besonderer Beschaffenheit, eine Dünung, die sich auf den Raum, auf andere Seelen, so jetzt auch auf Oskar überträgt. Es ist eine Art subversiver Chemie, und sie schafft gelöstes, heiteres Wohlbefinden, nicht immer, aber oft. Er hatte fast schon vergessen, dass es so ist. Oskar fühlt sich sonderbar verjüngt.

Liegt es daran, dass dem Gemüt des Freundes ein moosgrün kindhafter Zug zugrunde liegt, etwas das Oskar zu manchen Gelegenheiten, wenn er nicht so gut auf Timo zu sprechen ist, gerne als Unreife geißelt? Constanze empfindet ähnlich, kommt allerdings zu anderen Schlussfolgerungen. Für sie ist Timo ein Troubadour. Oskar macht einige Schritte, greift nach der Packung mit den Gauloises, die sich auf dem Glastisch findet, lässt sie in seiner Hosentasche verschwinden. Er möchte nicht, dass Constanze nachher mit dem Rauchen anfängt. Es ist, das weiß er, die einzige Packung im Haus.

Und wie geht es so mit euch?

Es geht.

Das klingt nicht wirklich gut, Oss.

Doch, soweit ist alles ganz okay.”

Oskar verzieht keine Miene. Timo ist in Freizeitkleidung. Er trägt kurze, khakifarbene Hosen, in deren Taschen er gerade seine Hände versenkt hat, weiter hellbraune Slipper aus Kalbsleder und ein khakifarbenes, offenes Baumwollhemd, das viel behaarte Brust sehen lässt. Er sieht ein bisschen aus wie ein Legionär, ein Wüstenfuchs.

Was hat dich übrigens nach Paris verschlagen?

Tja, Oss... das möchtest du wissen. Ich habe da eine… kleine Gespielin.

Eine neue Liebschaft also?

So ist es. Sie heißt Chantal.

Klingt wie aus einer Fernseh-Soap. Und wie ist sie?

Gebraucht, aber aus erster Hand. Und sie himmelt mich an, weißt du.”

Verstehe.

Und bildhübsch ist sie und blitzgescheit. Sie würde dir gefallen.

Warum hast du sie dann nicht mitgebracht?

Sie muss arbeiten.

Constanze tritt auf. Sie wirkt jetzt um zehn Jahre jünger. Sie ist kaum geschminkt, die Sonnenbräune schmückt sie und ein ärmelloses, luftiges, blau-weiß gestreiftes Kleid, das ganz verliebt ihren schlanken Leib umhüllt. Sie hat etwas Lippenrot aufgelegt. Blau ist ihre Herzensfarbe. Sie winkt Oskar Richtung Küche, damit er ihr beim Hereintragen hilft.

"Du siehst wirklich zum Anbeißen aus, Conny."

Danke,Timo. Vorher magst du vielleicht noch in meinen Apfelkuchen beißen. Habe ihn frisch gebacken."

"Mir zuliebe?"

Wenn du so willst."

"Du kennst meine Schw ächen."

"Wenn es denn eine ist.”

Sie lächelt. Auch ihr Lächeln ist jung und frisch. Oskar kehrt, das Kuchenblech in den Händen, ins Zimmer zurück. Er bleibt, ohne es abzusetzen, stehen, die Szene betrachtend, versonnen, grüblerisch.

Die frühen Jahre. Oskar sieht seine Frau, wie er sie damals sah, auf den Schiefertafeln der Zeit. Er denkt an etwas, das er lange verdrängt hat, an ihren ausschweifenden Lebenswandel jener Periode. Pflücke die Rose, eh sie verblüht… Die Rose, ja, das war ihr das Leben, das eigene. Sie stürmte unter vollen Segeln dahin, unter anderem von der fixen Idee angetrieben, die Blüte ihrer Jahre könnte bereits am Ausgang der nächstfolgenden Nacht ein jähes Ende finden. Sie hatte nicht nur mehrere Liebhaber, sie hatte mehrere gleichzeitig. Sie war eine attraktive Erscheinung. Sie konnte sich ihre Verehrer aussuchen. Nur suchte sie sich in der Regel die falschen aus. Es war keine verletzte Eitelkeit, die Oskar so urteilen ließ. Es gab andere, neutralere Beobachter, die das ebenso sahen, und auch Constanze selber gab es später, mit einer Ausnahme, zu. Fast alle ihre Affären hatte sie mit Künstlern, ein Maler war darunter, ein Poet, ein Cellist, ein Schauspieler und einmal auch ein - Skilehrer.

Oskar ertrug diese für ihn sonnenfinsteren Phasen mit zusammengebissenen Zähnen und mit Schlaflosigkeit. Seine Frau wurde ihm fremd. Es kostete ihn alles sehr viel Kraft, verwirrte seinen Verstand, der einem bei solchen Anlässen ohnehin eher im Wege steht. Er sagte sich nur immer wieder: Es geht vorüber, es geht vorüber. Sie wird zurückkommen. Und sie kam zurück. Jedes Mal…

Oskar! Was machst du nur? Du solltest doch den Kuchen nicht mit dem Blech bringen!

Nein? Wie denn?

Ihn auf den großen Teller tun, er stand direkt daneben.

Ach so. Entschuldige.

Lasst nur, er schmeckt ja bestimmt auch so.

Nein,Timo.Wie sieht das denn aus? Wir sind hier doch nicht in der Backstube.

Constanze nimmt Oskar rasch das Blech aus den Händen und verschwindet kopfschüttelnd in der Küche. Timo widmet dem Freund einen barmherzigen Blick.

Sie hat schon irgendwie recht.

Irgendwie, ja.

Komm Oss, genehmigen wir uns in der Zwischenzeit einen Cognac.

Timo wirft den Kopf zurück, um die Stirn von einigen Strähnen seiner dichten, blonden Mähne zu befreien. Es geschieht auf eine fast feminine Weise. Oskar schaut zu. Er selber ist kahl, seit er achtundzwanzig ist. Es hat ihm nie gefallen, doch hat er sich, wie man es eben tut, daran gewöhnt. Constanze meinte einmal, er habe einen Charakterkopf, da würde ein Haarkleid lediglich ablenken. Seltsam nur, dass fast alle ihre Liebhaber über dichtes, lockiges Haar verfügten.

Und wieuft es so im Job?

Ich reise viel durch die Lande.

Timo besitzt ein Kameraauge. Er ist begabt in dieser Hinsicht, aber er ist auch unberechenbar. Er tut alles, wenn überhaupt, auf die letzte Minute. Oskar hat einmal mit ihm in einem Projekt zusammen gearbeitet. Es wurde nie fertig. Der Freund hielt keinen Termin ein. Wenn man ihn brauchte, tauchte er ab. Und er hatte stets fantasievolle Ausreden. Oskar hat sich so manches Mal gefragt, wie Timos Auftraggeber eigentlich mit diesen Unregelmäßigkeiten zurecht kommen?

Der Freund gehört zu jener ja nicht seltenen Spezies von Menschen, die eine Geschichte so lange erzählen, bis sie selber daran glauben. Aber er ist andrerseits ein charmanter Plauderer, ein guter Gesellschafter. Und ein Hypochonder. Es findet sich keine Krankheit, kein Gebrechen, worunter er nicht irgendwann glaubt gelitten zu haben. Und all die Frauengeschichten? Sie sind wahrscheinlich sein eigentlicher Lebensborn. Immerhin, mit Timo hatte Constanze nie etwas. Da ist sich Oskar einigermaßen sicher. Obwohl es so sein könnte oder so hätte sein können. Vielleicht hat er es nie versucht, weil er vor ihr zu viel Respekt hat, jedenfalls nicht deshalb, weil sie die Frau eines guten Freundes ist. Und sie? Hätte sie es nicht gerne getan? Oskar kennt darauf die Antwort nicht, und will sie letztlich auch nicht kennen.

Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen, Oss?

Vor mehr als einem halben Jahr, glaube ich.

Ja. Da hattet ihr, Conny und du, gerade euer Kriegsbeil begraben. Ich war sehr erleichtert, seinerzeit, musst du wissen.”

Ach ja?”

Ich habe euch immer dafür bewundert, dass ihr es solange miteinander aushaltet.

Oskar lächelt sanft. Die Gefühlsregung des Freundes wirkt durchaus unverstellt. Sie unterbrechen ihr Gespräch. Constanze ist zurückgekommen. Der Cognac muss warten. Oskar geht und öffnet die Terrassentür. Der Regen hat aufgehört. Würzig und milde strömt der feuchte Atem der Nacht herein, im Dunkel von Licht umfangen. Es ist Vollmond.

*

Bruder Martin war wieder aufgetaucht, hatte ihn überredet zu bleiben, die ganze Nacht über. Ehe Oscar, nach einem Zug durch verschiedene Bars, an einem Tisch mit Unbekannten zunächst beim Kartenspiel verloren hatte, um anschließend volltrunken tischunter zu sacken, biwakierten in seinem Kopf noch abgesägte Bilderfolgen (er wusste nicht woher, noch warum) die, wären sie von nüchterner Hand geordnet worden, wohl keine stabile Reihenfolge, aber immerhin einen gewissen Sinn ergeben hätten.

Er waren im Kern zwei Szenen, ihre Bilder verschränkten sich, die letzten herzten einander wie zwei Geschwister, die einander lange nicht gesehen haben.

A: Am Trocadéro. Er wurde erwartet, an der Plattform, von wo aus man umfassend Eiffelturm plus Marsfeld überblicken kann. Dort stand ein Mann, beschattete mit einer Hand die Augen unter der hohen Stirn. Auch die Sonne stand hoch. Der Turm war hoch. Sie war Oscar bislang nie aufgefallen, diese alpine Stirn. Seine Verabredung trug das Haar neuerdings streng zurück gekämmt. Daran musste es liegen. Es sollte ihr letztes Treffen sein. Es gab Umstände (von denen er erst später erfuhr), die Oscar veranlassten, von weiteren Kontakten Abstand zu nehmen.

Wussten Sie, das es dort oben in diesem eisernen Wahrzeichen einige verborgene Räume gibt?

Nein.

Sie dienten dereinst Gustave Eiffel als Arbeitsklause.

Ah ja? Welch schönes Versteck…

B:13. Arrondissement; einfaches, aber leckeres Essen, Sägespäne auf dem Fußboden, Papierdecken auf den Tischen, krumm gesessene Stühle; ein Tunesier führte das Lokal. Oscars Blick verhakte sich in einem Kleidungsstück von Garcia Varga. Es war eine eng sitzende, schwarz-weiß gestreifte Weste, die wirkte, als wäre sie Teil einer Dienstkleidung.

Und wo hat es Sie hin verschlagen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?

Ich bin jetzt Butler im Dienste einer englischen Lady.

Hier in der Stadt?

Etwas außerhalb, in der Nähe von Louveciennes.

Ihre berufliche Laufbahn ist schon kurios, gewissermaßen polyphon. Ist die Lady denn verträglich?

In einem Jahr, schätze ich, könnte ich ihr Privatsekretär sein.

Oh, tatsächlich?

Sie kommt ursprünglich von der Bühne. Sie hat vermögend geheiratet, seit drei Jahren ist sie Witwe. Ihr Mann war Aristokrat und Bankier.

Hört sich viel versprechend an.

Sie ist nicht mehr jung, aber immer noch eine attraktive Frau.

Soll das bedeuten, Sie haben noch anderweitige, ehm,Verpflichtungen?

Nein, nein. Wissen Sie, was sie mir antwortete, als ich sie fragte, ob sie daran denke, sich eines Tages neu zu binden?

Nun?

Sie gab der Meinung Ausdruck, aus der Nähe betrachtet sei das männliche Geschlecht eher ein kollektiver Pflegefall, immer in Sorge um die eigene Bequemlichkeit und im Grunde träge. Sie müsse es wissen, sie sei das Füllhorn vieler starker und bedeutender Männer gewesen.

Sie sagten, die Dameme von der Bühne?

Sie war einst ein gefeierter Gesangsstar.

Diese Versatzstücke, wenn sie denn, rückblickend, von Oscar korrekt eingekleidet worden waren, gingen einher mit einem Blickabtausch, der den Gedanken hätte nahelegen können, die beiden Männer wären einander über Jahre nicht begegnet.

Und wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen, Monsieur?

Ich bin nach wie vor Pianoklempner im Gouffre Bleu.

Ah, Das nenne ich unerschrocken!

Ich wollte, es wäre so.

Ich hoffe, Ihr Leben war bislang nicht ernsthaft gefährdet?

Sie haben also von den Überfällen gehört.”

Natürlich.”

Es war warm. Und Oscar öffnete die obersten Knöpfe seines Hemdes. Er hatte ein wenig Mühe, mit dem anderen zur Begrüßung keinen Händedruck auszutauschen. Es war Donnerstag. Oder war es Dienstag? Schulklassen füllten den Marmorboden des Platzes, der wie ein Ritterharnisch in der Sonne glänzte. Rollschuhläufer drehten ihre Runden. Oscar suchte nach einer Formulierung für die Frage, die er, nach Einsatz der üblichen Eröffnungszüge, stellen wollte.

Ich hatte beim letzten Mal, ehm, den Eindruck, sie wüssten im Grunde mehr, als sie sagen.

Hatten Sie das?

Ich erinnere mich da zum Beispiel an Ihre, ehm, überraschenden Äußerungen über Frank Mohun.

Das meinen Sie... Halten Sie immer noch zu Monsieur Freyer?

Er ist mein Arbeitgeber.

Ja, Sie haben Recht. Doch seien Sie auf der Hut. Es kann Sie Kopf und Kragen kosten.

Setzen wir uns in ein Café?

Bittesehr.

Sie taten es, sie wendeten sich vom Chaillot ab, überquerten die Straße, sie suchten dort eine Brasserie auf, wählten einen freien Tisch auf der Terrasse, etwas am Rande, ein wenig abseits der übrigen Gäste, welche zur Hauptsache Touristen waren. Oscar bestellte sich ein Mineralwasser, der andere ein demi. Es blieb eine Weile stumm zwischen ihnen. Oscars Gegenüber beobachtete mit intermittierendem Interesse ein amerikanisches Ehepaar, das mit seiner kleinen Tochter zwei Tische weiter saß und sich in Mithör-Lautstärke unterhielt. Dann wandte er sich wieder Oscar zu.

"Ich war einmal beruflich selbstst ä ndig, wissen Sie.

Ah ja.”

Aber ich denke nicht gern daran zurück."

"Weil es so schlimm war?"

"Weil es so unberechenbar war.”

Am Eingang des verglasten Vorbaus der Brasserie standen einträchtig drei Kellner, ließen gelangweilt die Blicke ausschwärmen und schwatzten, die Hände, in Höhe ihrer blütenweißen Schürzen, auf dem Rücken verschränkt, munter vor sich hin. Oscar schluckte zweimal halbtrocken. Der Blick seines Gesprächspartners war vorübergehend an der Bedienung haften geblieben, um dann zurück zu den amerikanischen Touristen zu drehen.

"Man sollte nie zu privat mit anderen werden."

"Warum nicht?"

"Es zahlt sich nicht aus.”

Das Ehepaar in ihrer Nachbarschaft war noch lauter geworden. Sie stritten sich, und das publikumswirksam. Sie versuchte ihn zu dem Eingeständnis zu bewegen, dass er sich unlängst wie ein Schuft verhalten hatte, er wollte ihr das Wort verbieten. Beides misslang.

Sie wollten mich noch etwas fragen, Monsieur von der Höh?

Richtig. Es geht, ehm, wieder um Frank Mohun. Sie sagten einmal, sie seien über seine, wie Sie sich ausdrückten... Machenschaften seit langem im Bilde. Wie das?

Ich habe Augen und Ohren. Und ich hatte Gelegenheit, mit Mohuns Leibwächter zu reden, vertraulich.

Sie überraschen mich.

Von ihm weiß ich, was Sie inzwischen sicher auch wissen, dass Monsieur Freyer seine schützende Hand sich von unserem ehemaligen Dienstherrn Ferenczy bezahlen ließ.”

Sie meinen die Schutzgeld-Erpressung?

Eben das.

Ich habe erst spät davon erfahren..

Sie haben, denke ich, vieles erst spät erfahren.

Oscar hatte seine Flasche Mineralwasser geleert. Einen Luftzug lang zögerte er, schien nach dem garcon rufen zu wollen, tat es aber nicht. Die Amerikaner verließen gerade ihren Tisch. Die Mutter stürmte voran, Das Töchterchen, welches unter Tränen hinterdrein stolperte, eisern an der Hand. Der Vater, die Hände in den Hosentaschen, folgte lässigen Schrittes. Der Mann sah, fand Oscar, dem Schauspieler Richard Conte ähnlich. Sein Tischnachbar Vargas schaute den Leuten lange und innig nach.

War Ihnen übrigens bekannt, dass Monsieur Freyers Leibwächter seinen Spitznamen einem Landsmann von Ihnen verdankt?

Einem Deutschen?

So ist es. Er trieb früher in unserem alten Quartier sein Unwesen, spielte dort eine Zeit lang eine ebenso unbedeutende wie unrühmliche Rolle und war mit Monsieur Freyer befreundet. Ein rohes, ein übles Exemplar. Irgendwann verschwand er unangekündigt von der Bildfläche.

Sie sind auf Mohun nicht gut zu sprechen?

Geht es Ihnen damit anders? Zweifellos kennen Sie, wie ich, einiges aus der tönernen Sammlung seiner Lieblingssprüche, wie etwa: Einst gab es die Lehnsherren. Heute gibt es Leute wie michBeeindruckt Sie das? Er ist letztlich auch nicht mehr als ein kleiner, gerissener Ganove.

Oskar blieb eine Antwort schuldig. Seine Gedanken kurvten umher. Er dachte an Saloua. Eine Zeit lang hatte er geglaubt, sie wüsste von nichts. Das war falsch, wie ihm inzwischen klar war. Sie hatte die Rolle, die Mohun gegenüber ihrem Vater innehatte, wohl tolerieren können, solange letzterer dabei nicht zu Schaden gekommen war. Es waren sicher nicht die paar mageren Francs an Schutzgeld, die Mohuns Interesse am Rapzodie bestimmt hatten, es ging um etwas anderes. Es ging letztlich darum, wer im Revier der Platzhirsch war, er oder dieser bretonische Rotfuchs.

Wann sind Sie eigentlich zu Ferenczy gekommen?

Knapp ein Jahr, bevor Sie im Gouffre Bleu angetreten sind.

Und vorher?

War ich Caller... Sie wissen, was das ist?

Nicht wirklich.”

Es war meine Feuertaufe, bezogen auf die nachfolgende Tätigkeit als Vortänzer. Ein Caller ist ein Ansager, ein Tanzmeister für Square Dance. Das gibt es auch hierzulande. Die Wurzeln dieses angloamerikanischen Volkstanzes liegen sogar, sagt man, in Frankreich, gehen ursprünglich auf die Quadrille zurück und wurden später zum so genannten Contredance veredelt. Es gibt, was Sie vielleicht interessieren wird, darauf fußende Kompostionen im Bereich der klassischen Musik, so finden sich etwa bei Beethoven einige Tänze, die der Tradition dieser Tanzbewegung verpflichtet sind, einer davon in der Eroica.

Interessant. Und warum haben Sie nicht weiter gemacht?

Ich bin nicht der klassische Vereinstyp. Und das Amt übernahm ich des Geldes wegen, nicht aus Passion.. Eines Tages hat man mich hinaus geworfen, zu recht.

Für das, was Oscar an Redefluss von seinem Gegenüber gewohnt war, grenzte der voran gegangene Wortbeitrag bereits an Geschwätzigkeit. Er hätte gern einiges mehr erfahren über das, was Garcia-Varga an Kenntnissen in Bezug auf Mohun in seinem geistigen Schließfach verwahrte, doch folgte ihr Gespräch anderen Bahnen, ehe es schließlich ausdünnte und zum Erliegen kam…

Sie saßen sich gegenüber gleich Asteroiden in einer anonymen Punktwolke. Fixsterne schickten ihr Licht, dieselben, die schon die Zusammenkunft der beiden Männer an tunesischen Tischdecken begleitet hatten, nun erneut zu Gast bei ähnlichen wie bei anderen Themen.

Sie hatten wohl keine behütete Kindheit, Monsieur?

Wie kommen Sie darauf?

Sie erwähnten vorhin kurz ihr Elternhaus. Es klang bitter... Das meine war allerdings auch keine Idylle.

Hat man sie hart angefasst?

Mein Vater war Privatgelehrter, ein strenger eitler Mann. Wenn er mich demütigen wollte, sagte er: Ich bin Etwas und du bist Nichts. Du musst erst noch Etwas werden. Wenn ich dich nicht hätte, änderte sich nichts, denn nichts kann man nicht von etwas abziehen. Ich war also, soviel hatte ich begriffen, eine Null. Andere aber, dachte ich mir später, brauchen die Null, die für sich nichts ist, um selber Größeres zu sein. Das ist ein Anfang. Eines Tages tritt hoffentlich mehr hinzu. Aber man muss abwarten können, warten, bis die eigene Stunde gekommen ist.”

Oscar schwieg dazu, fühlte sich aber, als er dieses vernahm, sonderbar ertappt. Ich habe, dachte er und noch zu Teilen nüchtern, den Mann doch unterschätzt.

Während zwischen Garcia-Varga und ihm die Wortbeiträge seltener zu werden begannen, mehr Hohlraum lassend für Abschweifungen des eigenen Geistes, spürte Oscar diesem Gedanken noch einmal nach. Schließlich äußerte er dann, schon um seinem Gegenüber darin zuvorzukommen, den Wunsch, aufzubrechen.

Wird man einander noch einmal sehen?

Hm, ich gebe nur ungern Versprechen ab… auf die Zukunft.

Ich hoffe jedenfalls, dass diese Ihnen bringt, was Sie sich, ehm, von ihr erwarten.

Danke, Monsieur. Ich will lediglich das, was mir zusteht.

Die Entleerung des Möglichen

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