Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 11
Kapitel 8
ОглавлениеDie großen Gef ühle lä sst du doch gar nicht an dich heran, auß er vielleicht, wenn deine Katze stirbt."
"Findest du das jetzt wirklich fair?"
“Entschuldige. Tut mir leid.”
Ihr Haupt vollführte bei leichter Schräglage eine viertel Drehung nach links, dann aufwärts, was sich mit einem leichten Ruck und unter Mitnahme eines traurigen Blickes vollzog. Dorthin gingen auch, leise ausklingend, ihre letzten Worte. Sie sah dabei so aus, als ob sie von allem, was sie gerade umgab, massiv befremdet sei.
Das Bild steht ihm gerade neuerlich vor Augen, im Querformat. Dabei hatte es eher unverdächtig begonnen. Warum, so beklagte sich seine Frau am Vortage, sei er nicht wenigstens einmal ihrer Bitte nachgekommen und mit ihr nach Bordeaux gefahren? Wenigstens einmal! Nun habe sie es mit der Nachbarin tun müssen. Oskar verspannte sich im Nacken. Er hätte es schon noch getan. Das sagte er ihr auch.
"Ich hatte es zur H ä lfte bereits in Planung."
"Die H ä lfte ist nicht das Ganze.”
Sie fügte noch hinzu, er verspräche oft etwas, was er dann nicht halte...
Oskar lässt den Stuhl halb nach hinten kippen. Es ist wieder einmal soweit. Die Vorsätze sind dahin. Sie haben sich entzweit. Es kam nicht aus heiterem, aber aus nahezu wolkenlosem Himmel. Der Wasserstand im Haus, zunächst noch in zart hingetupften Rinnsalen plätschernd, ist mittlerweile einem überlaufenden Flussbett gewichen.
Heute Morgen: Sie reichte ihm erst das Frühstück und dann die Zeitung, letztere mit einer jähen Armbewegung, die in der Luft, wäre sie dicker gewesen, vermutlich einen scharfen Laut hinterlassen hätte.
"Hier!"
"Was soll ich damit?"
"Lesen."
"Sie ist von gestern."
"Ich habe dir etwas angestrichen."
"Aha."
"Ja. Schau es dir an. Es ist ü ber die Liebe."
"Ist es ein Besinnungsaufsatz oder eine Predigt?"
"Nichts von beiden. Es handelt von Mann und Frau. Die Frau f ü hlt sich vernachl ä ssigt. Und der Mann merkt es nicht. Es ist eine wahre Geschichte."
"Ich hasse wahre Geschichten … aus der Zeitung."
"Ich w ü nschte, deine Gef ü hle w ä ren andernorts auch so stark."
"Ach, St änzchen."
Sein Seufzer, es war schon der vierte oder fünfte an diesem Morgen, entließ, wie so oft bei solchen Gelegenheiten, trümmerreifes Material. Erst der Streit, jetzt dessen Steigerung. Er wollte nicht reden. Sie hatten es so oft getan. Er war es müde. Es kam, urteilte er, wirklich nichts Gescheites mehr dabei heraus. Er wusste, so einfach wurde er die Sache nicht los, aber er mochte es sich auch nicht zu schwer machen…
Oskar sehnt sich nach den noch nicht verunreinigten Quellen der gegenwärtigen Gesprächslage zurück, obgleich selbst dort streckenweise schon manches in kleine schräge Wirbel geraten war. Nur waren es außerpersönliche Themen gewesen, zunächst.
Timo hatte sich gestern, was er gerne tat, nach der mittäglichen Mahlzeit ein wenig hingelegt, und Oscar war mit Constanze ein wenig spazieren gegangen. Sie war eben aus Bordeaux zurück, früher als erwartet. Vielleicht war dort etwas unrund verlaufen. Sie sprach nicht darüber. Sie sprachen über Dinge, auf die Oscar arglos selber die Aufmerksamkeit gelenkt hatte, über Probleme einer Freundin seiner Frau mit dem Älterwerden.
"Helen glaubt, sie sehe 20 Jahre j ü nger aus, wenn sie nur ihr Gewicht h ält."
"Mancher findet im Glauben Trost."
“Du denkst also, dass sie sich da einer Täuschung hingibt?"
“Wenn man das als Hingabe bezeichnen kann… Ich denke, Es beschert ihrem Äußeren eher eine Härte, mit der man Schuhe beledern könnte. "
“Und was ist mit mir?”
“Was soll sein mit dir?”
“Ich bin fünf Jahre älter als Helen.”
“Aber du hungerst dich nicht scheinjung.”
“Findest du, dass man mir mein Alter ansieht?”
“Nein.”
“Das kommt nicht sehr überzeugend.”
Hier lauerte die Falle, und er tappte hinein. Er hatte auch gar keine andere Wahl. Er hätte “Ja” sagen können oder: “Gelegentlich”. Es hätte nichts geändert.
Später folgte ein Kurswechsel hin zu scheinbar unverfänglichen Themen: Neues vom Förderverein. Constanze hält selbst in den Ferien, via Mobile, engen Funkkontakt dorthin. Man fördert den künstlerischen Nachwuchs, und sie ist seit Jahren aktives Mitglied. Aktuell ist ihr Favorit ein junger Kölner Maler. Oskar kennt ihn, weil seine Frau nichts ausgelassen hat, um das überragende Talent ihres Schützlings unter die Leute zu bringen. Sie hat Oskar zweimal zu Vernissagen mitgeschleppt und zwei Bilder des jungen Genies erworben. Sie hängen in häuslicher Umgebung, dort, wo man ihnen nicht aus dem Weg gehen kann, im Wohnungsflur. Der Junge mag zwar talentiert sein, aber in Oskars Augen fehlt ihm jeder Sinn für das Machbare.
"Du magst ihn nicht, weil ich ihn mag."
"Unsinn. E s ist nur leider jemand, der schon in frühen Jahren keinen Fehlstart ausl ässt."
"Man kann einen K ü nstler doch nicht nach seiner Alltagstauglichkeit beurteilen."
"Man kann schon, zumal er sich selber ja als Realist auslobt."
"Das bezieht sich auf sein Werk."
"Sein Werk? Schon diese Bezeichnung erscheint mir mißraten . Von einem Werk kann man vielleicht reden, wenn der Knabe Fü nfzig ist. Falls er dann ü berhaupt noch malt. Außerdem, Menschen wie er definieren Wirklichkeit doch hauptsächlich ü ber Ausstellungskataloge."
"Dann nenne es sein Schaffen. Außerdem neidest du ihm ja nur seine Jugend und seine Frische?"
"Darum geht es hier nun wirklich nicht."
"Nein, es geht um deine selbstgerechten Ma ß stä be."
"Ich bin kein Kulturbanause, Stänzchen, aber ich nehme mir das Recht, das Leben zu verteidigen, das du und andere gern profan nennen."
"Tatsache ist jedenfalls, dass du von Kunst nicht viel verstehst."
"Was weisst du schon von Tatsachen!”
"Ihr habt doch nicht etwa Streit miteinander?”
Timo ist in das Wohnzimmer getreten. Er blinzelt schläfrig. Er hat gerade sein Nickerchen beendet. Er kommt barfuss, nur in Shorts die Treppe herunter. Das Haar hängt ihm wirr in die jungenhafte Stirn. Er sieht, wie Constanze es ausdrücken würde, zum “Knuddeln” aus und sorgt vorübergehend für eine Prise Entspanntheit.
Constanze lächelt, wie sie für ihn, Oskar (so geht es diesem trotzhalber durch den Kopf) niemals lächeln würde. Er setzt dem Erscheinen des Freundes eine Frage entgegen, die, das wird ihm selber rasch bewusst, gleichermaßen als Aufforderung an sich selbst gedeutet werden könnte.
"Aufgetankt?"
"Ja, danke der Nachfrage ."
"Soll ich dir eine starke Tasse Kaffe kochen,Timo?"
"Das w ä re fein, Conny."
"Warum nicht uns allen, Schatz?"
"Schon gut, obwohl du eher Wasser und Brot verdient h ättest."
"Nun vertragt euch mal wieder. Streit macht h ä sslich."
"Oskar f ü rchtet um unser aller Wirklichkeitssinn. Dabei sollte er lieber ö fter einmal sein Herz sprechen lassen ."
"Das hat bei mir eine mehr vegetative Funktion."
" Oskar ist Baumeister, Conny, er sieht die Dinge eben vorzugsweise pragmatisch."
"Wenn es nur das w ä re. Aber er hat häufig das Einf ü hlungsverm ö gen einer Mikrobe.”
Zu Mittag gab es Fisch. Er sagte es sich gestern, und er sagt es sich heute: seine Frau hat gerade einen schlechten Tag. Sie haben beide gerade einen schlechten Tag. Manche Tage stinken eben. Irgendwann, spricht er zu sich selbst, wirst du es aufgeben. Spätestens dann, wenn jede weitere Gegenrede zwecklos geworden ist. Oskar schweigt zur Vorbereitung schon einmal, schluckt einen unausgesprochenen Satz hinunter. Er kippt den Stuhl zurück in die stabile Ausgangslage. Wenn Wissen Macht ist, was ist dann Besserwissen?
Was geschieht, als Constanze im Zuge der Kaffee-Vorbereitung den Raum verlässt? Oskar empfängt einen überlangen Blick. Und zwar von Timo. Er wird gleich etwas sagen, denkt er und will seinem Freund darin zuvorkommen.
"Magst du dir nicht etwas überziehen?"
“Ja, tu ich gleich.”
Vorher setzt Timo sich aber noch, auf keinen Stuhl, sondern auf die unterste Treppenstufe, wo er, den Kopf in die Handflächen, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, in einer Art Rodinscher Denkerpose verharrt.
Die Sonne klettert warm und seidenmatt durch die Fenster und seift ihnen die Köpfe ein. Wenn Timo nachdenkt, findet Oskar, bekommen seine Gesichtslinien etwas Maureskes. Oskar öffnet die Terrassentür. Es verspricht ein gnädig schöner Tag zu werden.
Timo gibt dann, nicht ganz unerwartet, ein paar Ratschläge, wie es, seiner Vorstellung nach, möglich wäre, den Frieden im Hause wiederherzustellen. Oskar hört sich den Beitrag kühl und schweigend an, doch hat er was gegen Friedensstifter. Timo ist aber nicht beharrend, flicht stattdessen neue Motive in das hinein, was man einen Dialog zwischen ihnen nennen könnte, was zunächst aber keiner ist.
"Wenn man dich manchmal so reden h ö rt, Os s, klingt es, als seist du ein Feind der K ünste."
"Du hast also von oben gelauscht?"
"Zum Teil, ich gebe es zu. Euer Gespr ä ch war ja laut genug."
"Hm."
"Dabei f ä llt mir ein, warst du fr ü her nicht einmal sehr eng mit einem Maler befreundet? Und hattet ihr nicht sogar gemeinschaftliche Spitznamen: Max und Moritz?"
"Woran du dich alles erinnern kannst … "
"Was ist eigentlich aus ihm geworden?"
"Aus dem Maler? Weiß nicht. Er hat sich von mir abgewandt."
"Und warum?"
" Keine Ahnung, vielleicht weil er eines Tages erkannt hat, dass ich in Wahrheit doch ein Volltrottel bin. ”
*
Ein Scheinwerfer blendete ihn, als er die Augen aufschlug.
Der Scheinwerfer war die Sonne. Langsam gewannen seine Gliedmaßen an flugtauglicher Höhe. Er hatte den Abend zuvor ein längeres Gespräch mit Garcia-Varga geführt. Sie gingen sonst nicht zusammen nach der Arbeit noch irgendwohin. Dieses Mal hatten sie es getan. Ins Chez Ginot. Es war das erste Mal, dass Oscar in Begleitung hierher ging.
Veränderungen standen ins Haus. Große Veränderungen.
Der Wiener würde das Rapzodie verlassen. Bald schon. Man hatte ihn vor die Tür gesetzt. Mohun hatte das getan. Die Dienste eines Eintänzers waren hier nicht länger gefragt. Denn das neue Rapzodie war nicht mehr dasselbe. Das Publikum auch nicht. Das Niveau war, wie der Wiener es nannte, zotig geworden, die Ausstattung teurer, das Programm ein anderes. Es kamen nunmehr betuchte Männer, und junge Mädchen waren da, und sie taten alles, was sie taten, gegen Bezahlung. Es gab ferner einen Barmixer sowie weibliche Bedienung. Nur Oscar spielte vorläufig noch dieselben Stücke.
“Ich bedaure, dass Sie gehen müssen.”
“Ich wäre ohnehin nicht geblieben, nicht aus freien Stücken.”
“Ich denke, ehm, ich kann Sie recht gut verstehen.”
Der Wiener träufelte ein, zwei Löffel essigsaure Tonerde zwischen seine nächsten Satzbrocken. Seine Rede fiel unumwunden aus und heftig, explodierte geradezu jenseits des schmalen Spalts, der sein Mund war. Dergleichen Eruptionen hätte Oscar ihm gar nicht zugeschrieben.
Die Entladung galt Mohun. Dieser Mensch sei ja ein ausgemachter Schurke. Er, Laszlo Varga (er trat inzwischen wieder unter seinem wahren Namen auf), habe es von Anbeginn voraus gesehen. Ein Schurke, der nur sich selbst kenne und, wie nicht anders zu erwarten, über Leichen gehe. Er, Varga, ahne freilich, wohin all das, was man jetzt im und um das Rapzodie herum beobachten könne, am Ende führen müsse. Doch seine Meinung, das wisse er natürlich, sei in diesem Dunstkreis so unmaßgeblich wie unerwünscht.
"Es gibt eben Leute, die werden nie nach dem Weg gefragt."
“Was sagen Sie, Monsieur?”
“Oh, nichts. Verzeihen Sie, ich habe nur, ehm, laut gedacht.”
Oscar biss sich auf die Lippen. Sie bestellten etwas zu essen. Oscar wollte sein Gegenüber einladen, doch lehnte der das Angebot verlegenheitsfrei dankend ab. Oscar nahm diese Ablehnung verlegenheitsfrei entgegen.
Er ging sonst, außer mit Mohun, selten mit anderen auswärts essen. Mohuns bevorzugtes Lokal lag übrigens nur ein paar Häuserzeilen weiter. Gelegentlich begaben sie sich noch spät, manchmal weit nach Mitternacht, dorthin. Die Küche hatte dann bereits geschlossen. Für Mohun und sein Gefolge wurde sie wieder geöffnet. Mohun aß spartanisch. Er war ein guter Weinkenner, er verstand etwas von gutem Essen, doch er machte sich offenbar nicht viel daraus. Außerdem aß er ja kein Fleisch. Er bestellte meistens Teiggerichte, nach Art des Hauses. Nur hier, bei Philippe, dem Koch seines Vertrauens, der zugleich der Eigentümer des Restaurants war, ließ er die Speisen direkt zu sich auf den Teller gelangen, in allen anderen Fällen musste einer seiner dienstbaren, bewaffneten Geister den Vorkoster machen…
"Hier, nimm das! Rasch!”
Es war ein Montag gewesen wie dieser. Oscar hatte, bereits angeheitert, während des Hauptgangs mit dem Messer unglücklich einen seiner beschäftigungslosen Finger angesägt. Blut trat aus. Mohun sprang, als er dessen gewahr wurde, von seinem Sitz auf. Und mit einer Geste unerwarteter Fürsorge und Besorgnis reichte er Oscar eine Serviette. Seine Stimme bebte gar, als er ihm riet, die Wunde umgehend zu versorgen.
Oscar verstand die Aufregung damals nicht. Er verstand sie erst jetzt, nachdem er zur Kenntnis genommen hatte, was Varga während ihres Zusammenseins im Chez Ginot, zwischen Vorsuppe und Dessert, in keiner Randnotiz, sondern in Folge eines Beitrags, der Oscar überraschende Einblicke in Mohuns Lebensgeschichte gewährte, detailkundig vor ihm ausbreitete.
" Sein Vater f ü hrte, wie ich schon einmal erwähnte, eine Kneipe nahe der belgischen Grenze. Eines Tages, so heißt es, hatte er das Pech, dass randalierende G ä ste sein komplettes Inventar zerschlugen. Er selber erlitt, als er einzugreifen versuchte, schwere Verletzungen und behielt von dem Vorfall einen steifen Arm zur ü ck. Auch sein Sohn wurde verletzt. Es war wohl nicht gravierend, doch in seinem Fall h ä tte es t ö dlich enden k ö nnen."
“Tödlich? Weshalb?"
"Wussten Sie das nicht? Monsieur Freyer ist h ä mophil... Er selber w ü rde wahrscheinlich sagen, er habe die Krankheit der K ö nige. "
"Ich wundere mich sehr, ehm, ü ber ihre Kenntnisse."
"Es schadet nicht, ü ber Leute, die einem befehlen wollen, gut informiert zu sein."
"Da m ö gen Sie recht haben.”
Oscar schaute, weitere Erinnerungen aktivierend, über die Tische hinweg. Wie bei Philippe stand auch hier im Seitenschiff des Bistros unweit des Eingangs eine Musikbox.
"Was ist das f ü r ein lausiges Programm, Philippe, das da in deinem Klimperkasten läuft !"
"Et alors? Es ist die aktuelle Hitliste. Alle Musikboxen spielen sie."
"Dann treib eine andere auf, eine mit amerikanischen Titeln!”
Mohun hatte die Musikbox ins Visier genommen, warf aber keine Münze ein. Es gab ausschließlich französische Titel. Keiner davon war nach seinem Geschmack. Seine letzten Worte flogen in einer Lautstärke durch den Raum, dass jeder sie hören konnte, ein von ihm entrolltes Bündel Banknoten folgte im Blindflug, landete aber zielsicher hinter dem Tresen des Besitzers, der dort Gläser putzte. Anschließend wandte Mohun sich wieder Oscar zu.
“Wo ist eigentlich Saloua? Wolltest du sie nicht zu ihrer Gesanglehrerin begleiten?”
“Sie hat sich bei mir nicht gemeldet.”
“Hat sie nicht?”
“Nein. Vielleicht hatte sie keine Lust auf den Unterricht.”
“Keine Lust? Ich werde ihr schon Lust machen. Schließlich bezahle ich den ganzen Unfug.”
“Oder sie führt ihren schönen Körper spazieren und singt, ehm, im Freien.”
“Spar dir deine Witze, Oscar. Du bist jedenfalls ein verdammt schlechter Aufpasser…”
Saloua. Vorgestern. Gestern. Heute. Oscar hatte sie seit Tagen nicht gesehen. Sie tauchte mitunter ab. Einfach so. Eine Frage verstopfte den ohnehin trägen Fluss seiner Gedanken: Was wusste Varga über Saloua? Vielleicht, überlegte er, wusste der Mann ja auch in diesem Fall mehr als er, und er stellte also diese Frage, wenngleich etwas indirekter als im Vorsatz.
“Sie wollen hören, wie ich über Ferenczys Tochter denke?”
“Sie kennen sie länger als ich.”
“Das stimmt... Seit sie Monsieur Freyer nachläuft, hat sie sich verändert.”
“In welcher Hinsicht?”
“Sie war vorher naiv und unbekümmert. Jetzt ist sie eine Ganovenbraut.”
“Sie meinen...”
“Ich meine, sie ist hart geworden, hart und berechnend.”
Oscar bereute schon, gefragt zu haben. An moralischen Urteilen war ihm nicht gelegen. Aber dann kam doch noch etwas, was ihn aufhorchen ließ.
"Wussten Sie ü brigens, dass sie stiehlt?"
“Wie, sie stiehlt?"
“Nun, sie ist eine kleine, gemeine Diebin. Sie klaut in Warenhäusern, Boutiquen und anderswo. Es mögen unbedeutende Dinge sein. Und sie bräuchte sie vermutlich gar nicht, schließlich ist Monsieur Freyer ihr gegenüber sehr großzügig, erfüllt ihr, wie es heißt, fast jeden Wunsch, dennoch tut sie es.”
"Daf ü r muss es doch besondere Gr ü nde geben?"
“Ich schätze, es geschieht aus Lebensgier. Einmal wurde sie erwischt und in Haft genommen. Monsieur hat sie rasch wieder in Freiheit bringen und es offenbar geschickt abwenden können, dass Anklage erhoben wurde.”
Oscar rutschte unruhig auf seinem Sitzholz herum. Das Wort Anklage hallte in ihm nach. Seine Gedanken galoppierten davon, irrten ab. Die Zeit rutschte lässig zwischen alle Ritzen - seine Zeit - und weitete sie. Was geschah, konnte man nicht ungeschehen machen. Was man wusste, ging einem fortan womöglich in langen Schatten nach. Oscar leerte sein Glas Wein. Er hatte Schweiß auf der Stirn.
Eines fernen Tages - er entsann sich nicht mehr, an welchem - war er aufgebrochen, einer Schuld zu entgehen, und auch, um in der Fremde ein neues Leben zu beginnen… Er verrückte den Stuhl. Das schmale Fenstersims einer schmalen Sehnsucht döste linientreu im Innenhof seiner Träume. Das Fenster darüber war nicht offen. Und es war opak. Er hätte wahrscheinlich kräftig daran rütteln müssen, um es, und wäre es nur um einen Spalt, zu öffnen.
Später. Zwei gepanzerte Fragen schrammten seine Gegenwart, die es, anders als üblich, nicht eilig hatte: Man klettert einen Hügel hinauf, und es wird Abend, es wird Nacht. Was aber mag hinter dem Hügel liegen? Und dann: Wird man im Finstern seinen Weg fortsetzen können?