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Kapitel 15

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Oskar blättert noch einmal in dem schmalen Büchlein, das er von Timo geschenkt bekommen hat. Ein flottierendes Thema darin ist der Tod und seine Vasallen. Der Autor heißt Artur B. J. Frost. Es finden sich neben Gedichten viele Prosasplitter, Auszüge aus längeren Arbeiten. Das Ganze ist wohl eine Art Best of. Das ist, denkt Oskar, eine beliebte Mode der Jetztzeit. Man nimmt ein paar Happen und hastet weiter. Es erspart Zeit, Aufwand und schont vermeintlich kostbare eigene Ressourcen. Man träfe, heißt es gerne, eine repräsentative Auswahl. Das sagt sich, als folge man einem allgemein gültigen Naturprinzip. Nur, wer wählt hier eigentlich was aus und für wen? Und mit welcher Befugnis?

Oskar legt die Geburtstagsgabe beiseite. Eine Firma könnte man mit diesen gedanklichen Texturen sicher nicht erfolgreich führen, brummt er, und als Constanze fragt, was er gerade gesagt habe, erwidert er nur kurz:

Ach, nichts.”

Es hat keinen Umschlag, das Druckwerk, dafür einen grauen Einband mit schwarzer Bordüre. Es erinnert Oskar stellenweise an Märchenbücher aus Kindertagen, äußerlich. Er war nie ein großer Märchen-Fan. Lieber schmökerte er früher in Büchern wie Robinson Crusoe oder Die Schatzinsel.

Sein Blick verlässt die vorliegende Lektüre. Sicher hat Timo, und das wäre typisch für ihn, gar nicht in dem Buch gelesen, sondern sich darauf verlassen, dass ihm von Bekannten respektive Freunden da etwas Brauchbares empfohlen worden ist. Er wird ihn noch einmal diesbezüglich ansprechen, irgendwann später. Apropos Tod. Oskar kommen die Tagebuchaufzeichnungen des Vaters in den Sinn, der eine an Gewalt fette Partitur des Todes, - wie er ja mittlerweile weiß, in seiner Pariser Zeit gleich mehrmals auf freier Lebensbühne miterleben musste…

Schau nur, da kommen sie wieder! Sind sie nicht entzückend!

Miez, Miez, Miez, Miez, Miez!

Rasch, hol etwas Milch, Oskar!

Sollte man Katzen nicht besser keine Milch geben?”

Den Kleinen werden ein paar Tropfen sicher nicht schaden. Sonst nimm eine Schale Yoghurt!

Die Katzenfamilie ist überraschend zur offenen Terrassentür herein marschiert, das heißt, die Mutter mit ihren Jungen. Ein Kater ist nicht dabei. Sie kommen bereits das dritte Mal. Vorsichtig sichert die Alte das Gelände, während vier quiekende Pelzknäuel über den Fliesenboden purzeln. Zwei der Katzenbabies sind schwarz, eines ist weiß, eines hellbraun.

Was ist, Oskar?

Ich geh ja schon. Pass auf, dass sie sich nicht erschrecken und weglaufen.

Was denkst denn du! Mach rasch jetzt.”

Es glückt. Oskar eilt in die Küche, holt eine Tüte mit ungesüßtem Yoghurt aus dem Eisschrank, füllt eine flache Schale damit, setzt warmes Wasser hinzu und kehrt zurück.

Die Katzenmutter trägt ihre Kinder zur Futterstelle und überwacht sie aufmerksam, während die Kleinen ihre Mäulchen hungrig in die weiße Pampe tunken. Oskar und Constanze halten den Atem an, schauen ergriffen zu. Staubatome flirren im Sonnenlicht durch den Raum. Ihnen gesellen sich laute Schmatzlaute zur Seite. Nach dem Mahl schleckt die Alte ihre Kleinen ausführlich sauber. Danach verschwindet die Katzen-Karawane wieder, wie sie gekommen ist.

Schön, nicht wahr?

Bezaubernd.

Constanze tut, was sonst Oskar gerne tut, sie seufzt, es ist ein Wohllaut. Sie sind zu zweit im Haus. Timo ist draußen im Garten, hat es sich im Liegestuhl bequem gemacht. Oskar dreht den schmalen grauen Band in seinen Händen. Soll er weiterlesen? Seine Frau liegt auf der Couch, Beine und Füße überkreuz, alle vier unverhüllt und greift zu einer Illustrierten.

"Ein gesunder Geist in einem gesunden K ö rper. Das ist im Grunde doch kein schlechter Grundsatz, oder?”

Aber einer, der gerne missbraucht wird."

"Schon. Aber du folgst ihm ja auch. Ich meine, du l ä ufst jeden Tag deine Runden, machst Kraft-Training, spielst Tennis…”

"Sicher. Es ist ü brigens Badminton Nur gebraucht mein Verstand den K ö rper nicht als Droge."

"Darin liegt f ü r dich der Unterschied?"

"Zu den Obsessionen unserer Gegenwart, ja."

Und was hältst du von dem Spruch: Einer für alle. Alle für einen?”

Find ich gut… Was ist los, Stänzchen, hast du heute deinen philosophischen Tag?”

"Fahren wir nachher noch an den Strand?"

"M ö chtest du?"

"W ü rde ich sonst fragen?"

"Ich glaube, ich bleibe lieber am Haus."

"Dann frage ich Timo."

Ja, tu das. Ihr könnt den Wagen nehmen, wenn ihr wollt."

"Warum? Ich radele auch gern, bei gutem Wetter. Und das Wetter ist gut."

"Aber Timo f ä hrt lieber mit dem Auto. Er hasst Fahrr äder."

"Du weißt, ich fahre den Porsche nicht so gern."

"Schatz, es ist ein Auto wie andere Autos auch."

"Mir ist es zu schnell."

Sie machen eine Gesprächspause. Oskar liest, blättert, liest. Nach geraumer Weile überzieht Constanze ihn mit einem Netz seltsam musternder Blicke. Er spürt das und hebt den Kopf. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen, als wisse sie etwas, was er nicht weiß.

"Du wirkst nachdenklich in letzter Zeit, irgendwie selbstversunken."

Findest du?"

"Ja, manchmal huscht so ein lyrischer Ausdruck ü ber deine ergrauten Z üge."

"St ä nzchen, du schmeichelst mir."

"Das wollte ich nicht, verzeih."

Er überhört die letzte Bemerkung. Er ist in einer friedfertigen Stimmung. Das Klima zwischen ihnen ist ein wenig blasig. Man könnte auch von unterseeischen Gasbildungen sprechen. Sie sind aber noch unzertifiziert. Oskar reckt die Arme, atmet hörbar. Er blickt zum Fenster hin.

"Ich w ü nschte manchmal, wir k ö nnten wieder wie fr ü her in die Welt blicken."

"Wie meinst du... blicken?"

"Aufgeschlossener Ich habe dich, als wir jung waren, immer daf ü r bewundert, ja, angebetet, dass du so ü bersprudelnd warst... wie eine muntere, frische Quelle."

"Glaubst du etwa, du hättest dich nicht ver ändert?"

"Nein, ich war immer schon... ungenieß bar und gallenbitter."

*

Seine Stimmung schlug einen Purzelbaum.

Erst hustete er, dann räusperte er sich. Sein Schädel, er war sich nicht sicher, ob es wirklich der seinige war, wog gut dreizehn Tonnen oder mehr und roch nach Strandgut. Seine Gemütslage glich einem nicht bestellten Gemüsebeet, genauer gesagt, sie war eine Schneise der Verwahrlosung. Sein Blick senkte sich nach innen, dorthin, wo, wie er wohl wusste, das eigene Dunkel tief war. Tief wie der Marianengraben.

Er wollte das tödliche Resultat der Strafaktion nicht bezeugen, er hatte schon genug mit ansehen müssen, doch wagte er nicht, sich zu weigern, als Joe und Napoleon ihn in ihre Mitte nahmen. Sie gingen den schmalen Korridor entlang, der zu den Hinterzimmern des Clubs führte. Sie blieben vor der Tür am Flurende stehen. Joe schloss auf. Der Türrahmen war aus Stahl. Dennoch schien es, als würde er knarren, als sie eintraten.

Sie hätten so manche Pokerpartie zusammen gespielt, verkündete Napoleon mit dunkler, kratziger Stimme, die Arme vor der Brust auftürmend, und Cosmin habe das Spiel meisterlich beherrscht, sonst sei aber nicht sehr viel mit ihm anzufangen gewesen...

Mohuns Leute mussten ihn vom Hinterhof hierher verlegt haben. Jetzt lag er leblos am Boden, in einer Ecke des Zimmers, exekutiert, gefesselt, nackt. Etwas später betrat Mohun selbst den Raum. Er warf ein unruhiges Auge auf die Leiche. Oscar sah, dass sein linkes Augenlid zuckte, und er hätte fast schwören mögen, auf seiner runden Stirn zittere eine einsame Schweißperle.

"Eines m ü ssen wir jetzt jedenfalls nicht mehr bef ü rchten."

"Was denn, Chef?"

"Dass Cosmin noch ein As im Ä rmel hat."

Joe kaute an einem Streichholz. Dann sprang sein tiefes, gutturales Lachen durch den Raum, in Halbtonschritten, paarte sich mit einem Lächeln Mohuns, das aber eher Andeutung blieb.

Mohun setzte sich an den Tisch. Dort lagen, im Halbkreis verstreut, Papiere, Fotos, Dokumente. Er gönnte ihnen einen flüchtigen Blick. Anschließend erhob er sich wieder. Ging auf und ab. Das Licht der Tischlampe verschoss zu den Seiten hin flackernde Blitze. Sie schwankte, die Lampe. Mohun war, als er aufstand, mit dem Kopf gegen sie gestoßen.

Das Zimmer glich einer Verhörzelle. Und es hatte offenbar einem solchen Zweck gedient. Cosmin war wohl, bevor man ihm den Garaus gemacht hatte, an diesem Ort peinlich befragt worden. Joes riesiger Körper ragte gleich einem Totenhügel in den Raum, warf im Schein der Deckenlampe einen Überschatten. In diesem Schatten ruhte Cosmin. Ja, er schien darin aufgebahrt.

Er hinterlässt eine Frau und eine kleine Tochter. Wir werden ihnen Geld schicken. Du kümmerst dich darum, Joe."

Ja, Chef. Ein reizendes Püppchen übrigens, die Kleine, Jeannette heißt sie; so unschuldig. Cosmin brachte sie manchmal mit hierher in den Club."

"Unschuldig, ja, mag schon sein. Doch eines Tages wird auch sie einen Junker finden, der sie auf die Hörner nimmt .”

Oscar trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er wollte hier raus. Und noch etwas wollte raus, eine aus Ohnmacht, Angst und Empörung geborene und für ihn eher untypische Wutattacke.

All deine Willkür, all deine Macht, das, ehm, ist ja nur geliehen, wie dein Leben. Eines Tages wird es damit aus und vorbei sein, wird es verglühen wie eine Sternschnuppe."

"Langsam, mein Freund, langsam. Du wirst uns ja am Ende noch zum Dichter. Soll ich dir etwas sagen, Oscar: Du l ä ufst hier herum wie ein Wurmfortsatz. Ä ndere das. Ich rate dir dringend dazu."

Mohun war ganz gelassen geblieben, als Oscar so unerwartet wie zornesrot seinen Kommentar ausspuckte. Ja, der Auswurf schien Mohun eher zu amüsieren, oder er tat zumindest so.

"Kann ich gehen?"

"Geh nur!"

Oscar wandte sich mit zwei, drei raschen Schritten dem Ausgang zu. Ehe er den Raum endgültig verließ, veranlasste ihn die Stimme Mohuns noch einmal zum Innehalten.

"H ö r zu, Oscar! Cosmin war ein Verr äter. Hä tten wir ihn nicht beseitigt , h ä tte er daf ü r gesorgt, dass man uns beseitigt, und zwar, damit das völlig klar ist, uns alle…”

Das Fest war vorüber. Die Gäste hatte es fortgespült. Oscar durchquerte den leeren Club, warf einen schrägen Blick Richtung Bar, Richtung Bühne. Das Licht ringsum leuchtete spakig, rostig, kalt. Es roch nach abgestandenem Tabakrauch. Halbvolle Gläser und Flaschen paarten sich auf und unter den Tischen, volle Aschenbecher machten Doktorspiele. Stühle waren, wahrscheinlich von verirrten Leberhaken getroffen, auf die Herzseite gestürzt. Enthemmte Gliedmaßen hatten Wein, Bier oder Sekt verschüttet. Das Piano ragte rachitisch und einsam in eine einsame Kulisse.

Hinter Oscars Schläfen pochte ein bitterer Cocktail aus Erschöpfung, Schwindel und Schmerz und dem Rückstand chloroformierter Stunden. Er trat, freier atmend, nach draußen in die Nacht, er stand da unter blitzenden Sternen, unter dem schroffen Licht eines Erdtrabanten, der einer geplatzten Zyste glich. Er sah zur Uhr. Es war früher Morgen. Das Datum hatte er vergessen. Es spielte auch keine Rolle…

An diese Anfänge im Gouffre Bleu musste er jetzt denken, als ihm der plötzliche Einfall kam, Saloua aufzusuchen. Er sah das damalige Geschehen spiegelverkehrt und mit Patina versehen, obwohl es nur einige kleine Zeitkapseln zurück lag. Einiges davon, etwa den Cosmin-Part hatte er geglaubt, längst verdrängt zu haben, tief vergraben unter der Kruste seines Wachbewusstseins. Das Ganze war nun aber wieder nach oben gespült worden. Warum? Wozu? Weil es eine Art Fortsetzung gefunden hatte, jenseits des zerrissenen Hymens einer nur für Sekunden jungfräulichen Gegenwart.

Er machte sozusagen zwei Entdeckungen post festum. Die zweite wurde vertagt, die erste schien bereits mit einem Geburtsfehler behaftet, was aber nicht so war. Er weilte unter Artgenossen, die ab und an jemanden umbrachten. Sie fielen nicht weiter auf, nicht mehr als andere gewöhnliche Sterbliche. Sie aßen und tranken, legten sich schlafen, sie gingen auf Toilette, sie litten unter Haut- oder Seelenkrätze, ihr Handschlag (den Oscar aus persönlichen Gründen zu vermeiden suchte) übertrug keine bösen Krankheiten, sie heirateten und zeugten Kinder. Sie trugen kein sichtbares Zeichen, kein Kainsmal, das deutlich machte: Ich bin ein Mörder. Hatte er anderes erwartet? Ja und nein.

Er war im Krieg gewesen, doch, abgesehen davon, dass er nie auf jemanden hatte schießen müssen, war das nicht vergleichbar. Was unterschied einen Mörder von einem Nichtmörder? Die Tat, nicht das Tatmotiv. Etwas, was besser passte, wollte ihm nicht einfallen, obwohl es etwas, was besser passte, geben musste. Alles, dachte er so zusammenhang- wie hilflos, ist so, wie es ist, schwarz, weiß oder beides. Die zweite Entdeckung, die er machte, war: Er war in dieses Babel verstrickt.

Er war kein Mittäter, aber doch immerhin Mitwisser. Ja, ja, er hatte sich schuldig gemacht. Und das bereitete ihm heftiges Bauchkneifen. Würde er sich je daran gewöhnen können? Er glaubte damals nicht daran. Er hoffte es nur, klammheimlich, ohne es sich eingestehen zu wollen. Inzwischen wusste er, dass es möglich war… im Lande Nod, östlich von Eden.

Oscar vermutete, dass Saloua sich bei ihrer Mutter aufhielt. Er kannte die Adresse, obwohl er nie dort gewesen war. Sie, die Mutter wohnte, seit ihr Mann tot war, in einer winzigen Wohnung unweit des Friedhofs Montparnasse, in der Rue... der Name war ihm entfallen. Doch war das Bild der Straße auf seiner Retina eingeätzt und gleichermaßen das Haus. Und die Nummer war ihm erinnerlich Es war die Nummer 12. Er wiederholte es dreimal, wie eine Beschwörungsformel.

Die Mutter Salouas war zu Lebzeiten ihres Mannes wenig bis sehr wenig in Erscheinung getreten. Sie war eher unsichtbar im Hintergrund verblieben, und selbst dieser Hintergrund wurde nach außen kaum je erkennbar. Dennoch schien die Tochter stark von ihr beeinflusst. Die Mutter war wie jemand, den man oft zitiert, der aber selber weder zu sehen noch zu hören ist. Es war kaum vorgekommen, dass sie einmal im Rapzodie gesichtet wurde, wenn Oscar es recht bedachte, im Grunde so gut wie nie.

Saloua unterstützte ihre Mutter finanziell, denn aus dem Nachlass Attila Ferenczys waren nicht viel mehr als ein paar vertrocknete Erbsen zurück geblieben. Etwas Geld kam auch von Mohun. Doch im Grunde wollte die Frau keine Hilfe, schon gar nicht die Frank Freyer Mohuns. Sie versuchte, für sich selber aufzukommen, indem sie, offenbar mit einem gewissen Erfolg, ihren Lebensunterhalt als Wahrsagerin und Kartenlegerin bestritt. Saloua hatte Oscar einmal den Vorschlag gemacht, sich von ihr seine Zukunft lesen zu lassen. Er hatte er das Angebot abgelehnt…

Auf dem Weg zur Bushaltestelle geriet Oscar unfreiwillig in eine Prügelei. Er wollte ausweichen, aber es war zu spät. Ein junger Mann kam ihm in die Quere, fasste nach seinem Arm, krallte sich an ihm fest. Er wurde verfolgt. Drei andere Jugendliche waren hinter ihm her. Sie sahen nicht aus wie Franzosen, eher wie Nordafrikaner. Algerier vielleicht, dachte Oscar.

Es war der vorläufig letzte klare Gedanke, denn zu weiteren reichte es nicht mehr in dem nun einsetzenden Tumult. Die drei heranstürmenden Gestalten holten den flüchtigen Jungen ein und packten ihn, während er sich verzweifelt zur Wehr setzte und gleichzeitig an Oscar festklammerte. Dann stürzten zwei schwarz gekleidete Frauen mit Kopftüchern hinzu. Sie schlugen mit Handtasche und Regenschirm abwechselnd oder gemeinsam auf die drei Verfolger ein. Sie schimpften und jammerten lauthals mit grellen, sich überschlagenden Stimmen. Auch der verfolgte Junge jammerte. Es war ein einziges Durcheinander.

Schließlich kreuzte die Gendarmerie auf, und alle, auch Oscar, mussten mit auf die Wache. Man ließ ihn warten. Also wartete er. Auf das Ende des Dramas. Nach anfänglicher Nervosität beruhigte er sich. Neben ihm saßen die beiden Frauen, eine hatte Nähzeug dabei, das sie irgendwann auf ihren Knien ausbreitete. Sie strömte einen heftigen Knoblauchgeruch aus. Die zweite redete unaufhörlich.

Was bliebe, fragte er sich, wenn alles, was zu viel ist, fehlte? Etwas tief in ihm antwortete: Das Notwendige. Aber was war das Notwendige? Die Frage entglitt ihm wieder. Die an der Schlägerei beteiligten Burschen hatte man nach hinten verbracht. Ein Gendarm war zurück geblieben und war damit beschäftigt, mit dünnen Bleistiften Mikado zu spielen.

Sein Kopf war groß. Sein Kopf war plump. Und der Rest des Mannes übergewichtig. Die Sitzhaltung hatte etwas unerhört Starres. Irgendwann öffnete sich der fleischige Mund. Es war kein Schrei, nicht einmal ein Laut, der heraus hüpfte, nur etwas Speichel.. Dann reckte der Beamte sich träge. In dieser Bewegung lag nichts, was beispielsweise an ein Hüftleiden gemahnte, dazu hielt er sich zu gerade. Er machte, wenn überhaupt, keinen kranken Eindruck. Eher schon wirkte er gelangweilt, abgestumpft, gleichgültig, interesselos, abwesend, kurz: unbeteiligt.

Oscar war der Mann von Anbeginn wenig sympathisch. Er wurde schließlich nach vorne gewunken, und der Gendarm nahm ein kurzes Protokoll auf. Oscar geriet etwas ins Schwitzen, doch stufte man ihn, wie sich zu seiner Erleichterung in der Befragung herausschälte, nur als Zeuge ein, und als solcher wurde er auch vernommen. Er hatte weiter nichts auszustehen. Nach einer knappen Stunde wurde er entlassen.

Er war also wieder frei und im Freien. Die Himmelsschüssel wölbte sich beinahe liebevoll über dem mausgrauen Rücken der Stadt. Paris wirkte aufgeräumt, fast geschwätzig jetzt mit seinen geschäftig hin und her eilenden Bürgern, seinen einmal ruhig, einmal hektisch rollenden Automobilen, seinen Quarrees, diesen akkurat angelegten Grüninseln, seinen Hotels mit den Großbuchstaben, seinen examinierten Museen, seinen opulenten Marktständen, seinen einladend duftenden Restaurants und Cafés, seinen stolzen Brücken und schweigsamen Statuen, seinen bunten Kiosken, seinen schlangennestverwandten Jugendstil-Eingängen an den Metrostationen und der in ein ungesalbtes Licht getauchten, wie morphiumsüchtig vor sich hin murmelnden Seine.

Oscar hatte Hunger und Durst. Er verwarf die Idee, Saloua aufzusuchen, ging stattdessen in eine nahe Brasserie und bestellte ein frisch gezapftes Bier. Er besann sich auf die Ereignisse der jüngsten Zeit. Es war überwiegend ein Überkreuz-Muster aus verknoteten, unentwirrbaren Fäden. Das Nachdenken darüber konnte zum Geduldsspiel werden. Doch störte es ihn vorübergehend nicht. Er schaltete es weg, als wäre es eine störende Verkehrsdurchsage im Radio.

Die Entleerung des Möglichen

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