Читать книгу Die Entleerung des Möglichen - Reinhold Zobel - Страница 13
Kapitel 10
Оглавление"Ich gehe nicht mit."
"Komm, gib dir einen Ruck!"
"Nein. Ich bleibe unten."
"Du mit deinen diffusen Ä ngsten."
Sie dreht sich weg. Dann dreht er sich weg. Es ist, als klappe man ein Buch zur falschen Seite hin auf und wieder zu. Das Spiel ist nicht neu. Und eigentlich ist es auch gar keines. Es hat nur spielähnliche Routinen.
Es erinnert ihn an eine frühe Reise, mit seiner zweiten festen Weggefährtin, ins schöne Irland, nach Wicklow Head. Es gab damals ebenfalls einen Leuchtturm, und er war zu besichtigen. Und schon damals musste er es alleine tun. Aus vergleichbaren Gründen. Das Mädchen, das bei ihm war, wollte ebenfalls nicht. Er seufzt. Heute kann man dort sogar nächtigen.
Es war eine seltsame Idee, hierher zu fahren, ausgerechnet hierher nach Biarritz, zu jener Stätte, wo er letztes Jahr innere Einkehr gehalten hatte. Constanze weiß von diesem Aufenthalt, nichts aber vom dem eigentlichen Zweck der Reise. Sie hat übrigens nie danach gefragt. Es war seine Idee, das mit dem Ausflug. Er wollte sie auf andere Gedanken bringen, ihr etwas Abwechslung bieten. Sie werden nachher sicher ein bisschen durch die Straßen bummeln. Vielleicht mag sie Biarritz ja. Ihm gefällt der Badeort dieses Mal schon besser, fast so gut wie sein Name. Vorher waren sie in Pau und in Bayonne. Es sollte eine Versöhnungsfahrt werden. Constanze erklärte sich überraschend schnell einverstanden. Sie brachen auf, nachdem Timo gestern abgereist war. Das Klima zwischen ihnen ist nach wie vor unbeständig.
Oben im Phare de Biarritz angelangt, kommt Oskar mit einem anderen Besteiger ins Gespräch, es ist ein Kanadier, wie sich herausstellt. Der Mann ist redselig.
“Ich kenne sie alle, die wichtigen Leuchttürme auf unserem Erdball. Dieser hier fehlte bisher allerdings in meiner Sammlung. Waren Sie schon einmal auf Dixon Hill? Nein? Es ist einer der letzten handbetriebenen Leuchttürme der Welt, Ende des 19. Jahrhunderts erbaut. Er steht auf San Salvador, einem Eiland, das, wie Sie vielleicht wissen, den Bahamas vorgelagert ist. Man kann sein Feuer bis auf 19 Seemeilen Entfernung sehen. Man betreibt ihn noch mit Petroleum. Das wird, um es als Lichtquelle nutzen zu können, unter hohem Druck in einem Leuchtstrumpf verdampft. Im Lichthof drehen sich auf kugelgelagerten Räderkränzen tonnenschwere Fresnel-Linsen. Das Getriebe muss regelmäßig mit einer Kurbel aufgezogen werden. Dabei zieht man massive Gewichte nach oben. Und das Ganze erfordert harte, präzise menschliche Arbeit..”
Als Oskar über den still vor sich hin murmelnden Atlantik blickt, meint er die Schwingen der Zeit zu hören und sieht sich selber plötzlich als Petroleumlampe, umringt von elektrischen Kollegen, und als er nach unten blickt, sieht er Constanze dort stehen, spielzeugklein, die Arme über der Brust verschränkt. Sie raucht eine Zigarette. Sie wirkt verloren. Und er spürt das Verlangen, sie in den Arm zu nehmen. Das letzte Wochenende erscheint in seinem Sucher, und in der Entfernung ähnelt es bereits jetzt einer halb erloschenen Kerze...
Oskar balanciert die Zigarette auf seinem Handrücken.
Sie ist Constanze aus ihrer Handtasche gefallen. Die (nein, nicht die Handtasche) ist heute Morgen, ganz gegen ihre Gewohnheit, mit dem Rad an den Strand gefahren, um, wie sie sagte, ein Bad zu nehmen. Kein Bad im Meer, ein Sonnenbad. Da es heiß werden wird, eignen sich die Morgenstunden dazu am besten. Das wäre eine Begründung, ist aber keine. Sie hätte sich auch, wie sie es sonst tut, auf der Terrasse des Hauses sonnen können. Doch sie wollte allein sein, allein unter Strandläufern, Seetang und Sturmmöven. Stimmungskater?
Oskar wird, da Timo noch nicht aufgestanden ist, demnach nicht in Gesellschaft frühstücken. Nebenan kommen die Nachbarn in Sichtweite. Der pensionierte Brite winkt kurz herüber. Das Paar besteigt dann sein Automobil. Sie werden vermutlich zum Einkaufen fahren. Der Tag beginnt mit Wiederholungen, ansonsten unauffällig.
Oskar köpft das Frühstücksei. Viele Tage beginnen so, gescriptet. Manche, wie hinzuzufügen wäre, obendrein kalkig, klumpig, nicht lupenrein. Andere haben es am Scrotum. Manche versprühen das Aroma von Weihwasser, andere riechen nach Apotheke. Wieder andere kommen per Kaiserschnitt zur Welt. Was alles nicht viel heißen will. Sicher, es wäre schon nicht schlecht, denkt Oskar, könnte man einmal am kosmischen Mischpult sitzen und forsch an den Knöpfen drehen. Andrerseits, er möchte keine Prognose wagen, wie er sich entwickeln wird, der Tag. Das täte er nie. Sein Motto lautet zwar: carpe diem. Aber das vielleicht doch mehr wegen des Nachsatzes:… quam minimum credula postero.
Seine Mutter, wenn sie vormals eine ihrer sorgenvollen Stimmungen hatte, pflegte zu sagen: Wie soll das nur alles noch enden? Und eine weitere Zeile, die, als er ein kleiner Junge war, jahrelang als ein Lobpreise-den-Tag durchs Elternhaus geisterte, lautete: Danke fürs Kommen, Danke fürs Gehen. Auch das ging auf das mütterliche Konto und war wiederum von der Großmama ererbt.
"Da bist du ja?"
"Ihr seid immer so fr ü h schon auf den Beinen!"
"Das ist relativ, Timo."
"Wo ist deine Frau?"
"Am Strand."
"Was macht sie da?"
"Sie m ö chte f ü r sich sein. Soll ich dir Kaffee einschenken?"
"Gib mir eine Minute."
Timo kehrt ins Haus zurück. Er will zuvor noch aufs Klo. Das gehört, denkt Oskar, zu den täglichen Verrichtungen, an deren Sinnhaftigkeit kein blasser Zweifel nagt. Es gibt nicht vieles, von dem sich das sagen ließe.
Ein Singvogel kreuzt polyphon zwitschernd sein Blickfeld. Oskar vermutet, dass es eine Amsel ist. Er hört auf, die Zigarette zwischen zwei Fingern zu drehen. Er zündet sie an. Er steckt sie sich zwischen die Lippen. Er wartet. Auf nichts. Wenigstens glaubt er das.
"Seit wann rauchst du?"
"Seit wann fragst du?”
Timo ist wieder da. Er steht am selben Fleck, an dem er zuvor gestanden hat. Man könnte glauben, er sei gar nicht weg gewesen. Er setzt sich zu Oskar an den Tisch, reckt die Arme, grunzt behaglich, streckt die unbekleideten Beine von sich, die er gerne zeigt, was er auch kann, denn sie sind kräftig und wohlgeraten. Ebenso wie Constanzes Beine, die lang sind, schlank sind und alterslos erscheinen. Oskars Beine hingegen ragen etwas knochig und ungerade in diese Welt.
"Ein makelloser Tag, nicht wahr?"
“Ja."
"Das Leben ist doch sch ö n."
"Soweit w ü rde ich nicht gehen."
"Komm, O ss, nimm einem nicht die Freude, von der Sch ö nheit der Dinge zu reden."
"Er stammt nicht von mir, der Kommentar eben. Es ist ein Zitat."
"Aber du schließt dich dem an, oder wie?"
"Vielleicht. Es ist auch egal. Vergiss es einfach."
"Es ist der Streit mit Conny, der dich so bitter reden l ä sst, oder?"
"Ich bin nicht bitter."
“Sollen wir ein anderes Thema wählen?”
“Reden wir über das Wetter.”
Das haben sie ja bereits getan. Der Freund erinnert Oskar mit einem Lächeln daran. Timo findet doch immer etwas, sagt sich Oskar, worüber er lächeln, wenn nicht gar lachen kann. Er drückt die Zigarette, halb zu Ende geraucht, im Eierbecher aus.
Sie könnten seinetwegen auch über die Zukunft reden, über die Jahreszeiten oder, ganz global, über den Gregorianischen Kalender. Welche Farben mögen den kommenden Februar kleiden? Und was trägt im Sommer der August? Momentan kennt Oskar keine bevorzugten Themen. Momentan ist es ihm schnurz, worüber sie sprechen. Worüber man spricht. In der Morgenzeitung las er, wie so häufig, von Selbstmord-Attentaten, von Folter, Terror und Erpressung, von Betrug und Raffgier. Als ob es nichts anderes gebe! Nachrichten wie Schüsse aus dem Hinterhalt. Hin und wieder meldet sich eine Liga zur Bekämpfung des Bösen in dieser Welt zu Wort. Meinen Sie es ernst? Sehen sie sich davon unbefleckt? Würde man es ausmerzen können, das Böse, wäre dieser Planet menschenfrei. Timo schenkt sich von dem Kaffee ein. Mit Dauerlächeln.
You are not logged in. Das müsste man aber sein, um mitreden zu können. Er will nicht mitreden. Nicht heute. Vieles von dem, findet Oskar, was für real ausgegeben wird, für unverzichtbar, ist nichts anderes, als die Firnis grober Fantasien unter der Hirnschale des jeweiligen Betrachters. Es finden sich nachträglich stets Gründe, das, was man tut, als das auszugeben, was getan werden muss. Denkt er da jetzt an etwas ganz Bestimmtes? Nein. Das ist auch nicht nötig. Aber er scheut den Geruch, den diese Vorstellungen ausströmen. Es ist der Geruch von alten Füßen.
Er kann sich immerhin erinnern, schon einmal weiträumig all jene Ereignisse und Vorgänge umschifft zu haben, die nicht unmittelbar in seiner Lebensreichweite lagen. Er gewöhnte sich seinerzeit an, sie, so sie ihm nahe kamen, sukzessive wegzufiltern, als wären sie Spam in seinem elektronischen Postfach. Das nahm in einer Phase seinen Anfang, als er mit seinen beiden Kollegen eine eigene Firma gründete, das Architekturbüro Räume&Perspektiven. Es setzte in seinem Leben so etwas wie feste Richtungsmarken, woran vorher ein gewisser Mangel gewesen war.
Da hatte es überdies diese unablässigen Stimmungsschwankungen gegeben, die seinen Schlaf unruhig und seine Tagfantasien konfus gemacht hatten. Das hörte dann endlich auf. Wohl auch deshalb, weil er zu beschäftigt war. Er hatte einfach zu viel um die Ohren. Er kam zeitweise nicht einmal mehr dazu, sich Gedanken über das Wetter zu machen, über alltägliche Themen also, die in aller Munde waren, zu denen jeder eine persönliche Meinung, eine eigene Beziehung hatte, noch weniger bewegten ihn komplexere Fragen wie die nach der Vermehrungsrate von Nacktschnecken oder der Notwendigkeit von Magenspiegelungen.
Er hielt, während er rastlos tätig war, den Blick stets strikt geradeaus gerichtet. Das beschränkte das Gesichtsfeld. Man sah so, jenseits der horizontalen Begrenzungslinie, die man selbst gesetzt hatte, nicht, was unterhalb geschah, den Unterleib der Dinge gewissermaßen. Man sah lediglich die Brustansicht, einen Ausschnitt ähnlich dem, den man vom Fernsehen kannte, wenn Ansagerinnen oder Ansager die täglichen Nachrichten verlasen. Natürlich verhielt es sich allgemein stets so, dass man nur Ausschnitte eines Ganzen erfasste, doch im vorliegenden Fall beschränkte er den Ausschnitt zusätzlich und mutwillig. Da konnte es schon einmal zu fatalen Irrtümern kommen, zu vermeidbaren Irrtümern. Betrachtete er, wie einmal geschehen, eine Frau und einen Mann, der Mann dicht hinter der Frau sitzend, beide rhythmisch schaukelnd, auf und nieder, vor und zurück, und sagte sich: die kopulieren, so musste er bei genauerem Hinsehen feststellen, dass das Paar in Wahrheit auf dem Rücken eines Maulesels saß und durch eine Wüste ritt. Und woher stammte dieses Bild? Aus dem Reiseprospekt? Aus dem Neuen Testament?
“Was grübelst du da, Oss?”
“Sehe ich so aus, als ob ich grüble?”
“Genau so. Ich kenne diesen Ausdruck bei dir.”
Oskar klappt das Stirnrollo nach unten. Man könnte auch sagen, seine Miene verfinstere sich. Häufig, wenn er sich ärgert, rudern seine Gedanken ins Allgemeine. Er hat sich heute morgen geärgert.
Constanze machte ihm wieder einmal zum Vorwurf, er wäre halbherzig in seinen Entscheidungen. Er lasse sich immer eine Hintertür offen. Das sei schon so gewesen, als sie einander kennen lernten. Sie habe es nur erst spät bemerkt. Der Zusammenhang, in dem ihre Worte fielen, ist ihm abhanden gekommen. Es ist auch nicht weiter wichtig. Wichtig ist, sie hat im Grunde recht. Im Geschäftlichen scheut er kaum ein Risiko. Aber privat meidet er fast jede Strömung, bleibt lieber am sicheren Ufer zurück. Es gab viele Gelegenheiten, bei denen er gern mehr aus sich heraus, mehr ins Ungewisse gegangen wäre. Aber er hat sich nicht getraut. Er scheute vor dem emotionalen Abenteuer zurück, davor, Umstände einzugehen, die seiner Kontrolle entzogen waren. Er bezog einen quasi chinesischen Standpunkt.
Er tut es immer noch. Das begann schon in der Jugendzeit oder früher. Es gab da über dem Eingang zu der Schule, wo er in die Tanzstunde ging, einen Spruch: Lieber schlecht tanzen als sitzen bleiben. Der Spruch gefiel ihm nicht.
*
Sie waren zu fünft seinerzeit: Freddy Lenz, Lo Kastor, Pim Reiser, Carmen Soraya und er. Er nannte sich Oscar Forte und war der Spaßmacher der Truppe. Alle, bis auf Freddy, hatten sich Künstlernamen zugelegt. Ihre Combo trat unter dem Namen Rat Cat auf. Das war, wie er später fand, ein idiotischer Name, dafür war er aber in englisch.
Oscar drehte die Schallplatte. Warum hatte er Varga das erzählt? Vielleicht, weil er - im Gegenzug - auch einmal ein paar persönliche Schnipsel in ihre Gespräche einfließen lassen wollte. Waren sie denn persönlich? Ja und nein. Auf der Rückseite der Plattenhülle fanden sich Infos über den Künstler. Antônio Carlos Jobim. Geboren in Rio. Noch kannten ihn nur wenige in der Alten Welt. Das würde sich, darauf wettete Oscar seinen Musikknochen, in der Zukunft ändern. Was er, in aller Bescheidenheit, musikalisch dazu beitragen konnte, wollte er tun. Er klappte den Deckel des Pianos zu, was ein bisschen nach Sarg klang. Varga warf ihm einen angeschrägten Blick zu.
“Es heißt, es wird bald Ärger geben im Rapzodie.”
“Ich habe, ehm, auch so etwas läuten hören. Was sollen wir also tun?”
“Ich fürchte, wir können nichts tun.”
“Es geht um diesen Rotfuchs, nicht wahr?”
“So ist es.”
“Und Ferenczy möchte Mohun dazu bewegen, mit ihm und seinen Leuten zu verhandeln.”
“Sie sagen es.”
“Vielleicht kommt es ja doch noch zu einer, ehm, Einigung.”
“Glauben Sie wirklich daran?”
“Sollte man nicht wenigstens versuchen, mit Ihnen zu reden?”
“Eine falsche Note, nicht wahr, bedeutet nicht viel. Ein falsches Wort dagegen kann... tödlich sein.”
“Und Sie rechnen damit, dass ein solches fallen wird?”
“Ich denke, es ist bereits geschehen.”
Ja, Oscar wusste von den schwärenden Unwetterwolken. Es war ihm beim Essen zugeflogen (Dinge dieser Art erfuhr man vorzugsweise beim Essen). Ungemütliche Nachrichten in gemütlicher, vertraut trauter Runde. Obwohl, so traut war sie gar nicht gewesen, außer ganz zu Beginn…
“Die stehen da auf der Bühne, als wollten sie gepfählt werden, nicht wahr.”
Die Tanztruppe war neu. Die Mädchen sprühten vor Lebendigkeit und vor Temperament. Sie waren zu sechst und trugen keine Landesfarben. Mohun hatte sie, wie er sich ausdrückte, aus dem Garten Eden abgeholt. Den Eindruck machten sie allerdings nicht. Zwei kamen von der Elfenbeinküste, drei aus dem Senegal und eine aus dem Jemen. Sie würden nicht bleiben. Es war eine Art Gastauftritt anlässlich der Neu-Eröffnung des Lokals, des Gouffre Bleu. Sie sollten einen knappen Monat lang auftreten.
Die hiesige Bühne, wiewohl bereits verbreitert, fasste keine solche Leibesfülle. Die Musiker mussten ja schließlich auch noch irgendwo Platz finden. Frank Mohun hatte andere Pläne mit den Mädchen. Sie gehörten, wie er es sah, auf eine richtige, auf die ganz Große Bühne. Oscar war an diesem Abend arbeitslos. Zwar sollte er künftig hier, statt im Rapzodie spielen, nicht aber zu der aktuellen Musik, die vorzugsweise von Trommeln und anderen Percussion Teilen besorgt wurde. Er war der letzte, der das bedauerte, obwohl er die Tanznummern durchaus genoss.
Das übrige Publikum zeigte sich verzückt, ja, stellenweise geriet es gar in wonnige Ekstase. Oscar war an diesem Abend nicht selbst gekommen. Man hatte ihn gefahren. Mohuns Palastwache hatte das getan. Warum, erfuhr er später. Frank Mohun fürchtete eine unliebsame Unterbrechung der Eröffnungsparty, gar einen Anschlag. Es gab warnende Hinweise aus dem Lager des Rotfuchses. Mohun traf aufwendige Sicherheits-Vorkehrungen. Natürlich sollte von den illustren, teilweise lokal prominenten Partygästen niemand beunruhigt werden. Mohuns Streitkräfte patrouillierten draußen, im Schutzmantel der Dunkelheit.
Das also würde bald Oscars neue Wirkungsstätte sein, ihm erlauben, wieder am Piano seinen Platz einzunehmen. Wenn er gewollt hätte, hätte er sogar eine bessere Wohnung haben können, aber er wollte nicht. Sie hätte sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Mohuns Domizil befunden. Soviel Nähe behagte ihm nicht. Ihm war nicht daran gelegen, ständig unter Beobachtung zu stehen. Mohun hingegen war ein Mann, der seine Schäfchen gern in Ruf- und seine Feinde in Sichtweite wusste.
*
Der Mensch blieb stehen, eingeschüchtert und im Ungewissen darüber, was er als nächstes zu gewärtigen habe. Er zog die Schultern nach oben, nicht sehr weit und spähte so stumm wie unsicher in das ihn kühl badende Halbdunkel. Mohuns Leute hatten ihn am Ausgang der Toiletten abgefangen und unbemerkt nach draußen, in den mit Müll und Abfällen dekorierten Hinterhof des Gouffre Bleu verbracht. Sie unternahmen zunächst nichts, was ihren Gefangenen betraf, plauderten vielmehr miteinander, als wäre er gar nicht vorhanden.
Irgendwann und ohne Ankündigung trat dann einer von ihnen auf den ängstlich zurück weichenden Mann zu, ein zweiter folgte. Die beiden schauten ihr Opfer nicht an, das, als wollte es eine Frage stellen, beide Arme in einer unschlüssig halbherzigen Bewegung anwinkelte und dabei den Mund öffnete. Derselbe blieb geöffnet, wandelte sich zu einer gekrümmten Schmerzhupe, als die beiden Bewacher in raschem Wechsel und mit massiver Härte auf den Hilflosen einschlugen. Der Mann, am Kopf und in der Magengegend von Schlagringen getroffen, sackte wimmernd zu Boden, wo eine gezielte Serie von Fußtritten seinen Schädel in eine wild pendelnde Knochenschaukel verwandelte. Er schrie jetzt. Es waren erstickte Schreie. Oscar fühlte eine mit Panik versetzte Kälte in allen Gliedern. Er wollte weglaufen, doch es ging nicht. Er wandte den Blick ab, um nicht noch mehr Rohheit und Leiden mit ansehen zu müssen. Er fühlte sich beobachtet von den zwei Figuren, die sich nicht an der Gewalttat beteiligten. Die nachfolgende Ewigkeit mochte vielleicht fünf Minuten betragen. Danach war Stille. Oscar blickte nach oben. Der Himmel zeigte ein kristallines Nachtblau. Und die Sterne assistierten mit funkelndem Strass.
Als er schließlich einen furchtsamen Blick dorthin wagte, wo dieser Mensch lag, den Mohuns Leute verprügelt hatten, sah er nur einen dunklen, bewegungslosen Klumpen. Vielleicht hatte der Mann das Bewusstsein verloren. Vielleicht stellte er sich tot. Vielleicht war er es.
Oscar schreckte zusammen, als einer aus Mohuns Leibgarde ihn kurz und fordernd an der Halsbeuge fasste. Die Berührung brannte auf seiner Haut wie ein Rheumapflaster. Dabei war sie eher sanft, eine Art Streicheln und auch des anderen Stimmfarbe unterwanderte den rauen Kanon seiner Worte. Sie hatte das Aroma sonnengereifter Oliven, diese Stimme, sowie einen milden Klang. Das war doch schon etwas, fast so etwas wie Freundschaft.
"Wir gehen jetzt. Du hast nichts gesehen. Verstehen wir uns?"
"Was hat der Mann denn nur getan?"
“Der Mann ist ein Verräter.”
Das Prügelopfer namens Cosmin gehörte zu Mohuns innerem Zirkel, zu seinem Hauspersonal, und man hatte ihn, wie Oscar bald erfahren sollte, als Spitzel entlarvt. Er spionierte für den Rotfuchs. Er würde seine Enttarnung wohl kaum überleben. Die Szene hier im Hinterhof war eine Art Vorspiel für den Gang zum Schafott… Bühnenseitig richtete sich das Interesse auf die Eröffnungs-Gala des Gouffre Bleu. Man wollte sie sicher nicht mit übel riechenden Blutlachen trüben.
Das war zwischendurch passiert, im ersten Drittel des Abends. Oscar hatte es noch lebhaft im Sinn. Wie auch etwas weiteres, das diesem Ereignis vorausgegangen und, wenn nicht fatal, dafür aber peinlich unangenehm gewesen war. Nämlich als er hierher chauffiert wurde.
"Was ist?"
"Ich m ü sste mal, ehm, austreten."
"Denkst du, wir halten extra deinetwegen an?"
"Lass nur, Boris. Gerard, stopp doch mal da vorne. Ich muss auch pinkeln!"
Der Fahrer hielt an einem begrünten Karree mit Springbrunnen. Die Türen des Citroën flogen auf. Die Insassen stiegen aus und stellten sich in einer Reihe auf, dann öffneten Mohuns Männer ihre Hosenställe und begannen alle gemeinsam, ihr Wasser abzuschlagen. Oscar tat es ihnen nach. Nicht richtig. Er hörte das rege Plätschern der benachbarten Harnströme. Seine Hand dagegen hielt ein stummes, aktionsloses Glied. Sein Körper verspannte sich. Es war unmöglich. Es ging nicht. Er konnte nicht pinkeln.
Er stand da, ein kleiner, errötender Junge. Er versuchte schließlich, einfach so zu tun als ob. Dem Himmel sei Dank war es dunkel. Vielleicht würden die anderen seinen Aussetzer ja gar nicht bemerken. Er sah starr geradeaus, wie ein Kind, das beide Hände vor die Augen hält, in der Annahme, es könne so die Welt für eine kleine Weile aussperren…
Varga unterbrach die Bilderserie. Er zeigte an, dass er an Aufbruch dachte. Er wolle, sagte er, zeitig schlafen gehen. Oscar war nahe daran gewesen, dem anderen von diesen beiden jüngsten Vorfällen zu berichten. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Was er im Nachhinein bedauerte. Er hatte zu lange gezögert. Geschick oder Ungeschick..?
“Wieso warst du überhaupt dabei?”
“Ich kam aus der Toilette, gleichzeitig mit diesem Unglücksraben. “
“Du meinst, Verräter.”
“Meinetwegen.”
“Und was geschah dann?”
“Ich war der einzige Zeuge. Sie nahmen mich kurzerhand mit.”
“Sie wussten, wer du bist?”
“Natürlich. Es waren ja dieselben, die mich, ehm, eine Stunde zuvor abgeholt hatten.”
“Und du hast die ganze Zeit über zugeschaut?”
“Ich hatte keine Wahl. Es war fürchterlich zu sehen, wie sie den Mann zusammen schlugen.”
“Er hat es nicht anders verdient.”
“Billigst du etwa diese Methoden, Saloua? Ich finde sie abscheulich.”
“Wer sich nicht wehrt, geht unter.”
Er sah sie an. Sie erwiderte ruhig seinen Blick. Es geschah zwischen zwei Tanznummern, dass sie über den Vorfall sprachen. Sie saßen zu zweit am Tisch. Mohun war in ein Hinterzimmer des Clubs verschwunden. Angeblich in dringenden Geschäften.
"Schau mal, ist das nicht Yves Montand?"
"Du irrst dich. Er sieht ihm nur ä hnlich."
"Nein, ich glaube, er ist es."
Ob er es nun war oder nicht, Oscar fischte mit seinen Gedanken in anderen Gründen. Während er über die Fährnisse dieser Welt nachsann, war er im nächsten Moment unvermittelt von einem anderen Verlangen beseelt, nämlich den Tänzerinnen, die gerade ausruhten, noch weiter, als es ohnehin schon möglich war, unter die knappen Baströcke schauen zu können. Er trank dabei reichlich Whisky - heute auf Kosten des Hauses, daher Whisky und weil es zum Interieur passte - und brachte, plötzlich wieder streng monomanisch, ein Hoch aus auf Afrika.
" Weißt du, was Mohun neulich zu mir meinte?"
"Was?"
"Er meinte, w ä re ich h ä rter, k ö nnte er sich vorstellen, mich zu seiner rechten Hand zu machen."
"Oscar. Ich habe es dir schon einmal gesagt. Eigentlich fliegen dir doch alle Herzen zu. Du machst nur zu wenig daraus."
"Wo du das sagst. Diese Burschen aus Mohuns Schutztruppe … es ist seltsam, aber ich glaube, sie m ö gen mich."
"Sei froh."
"Aber ich mag sie nicht, und schon gar nicht das, ehm, was sie tun ."
“Du verurteilst Frank und seine Leute, und doch bist du ihm wie ein Freund verbunden.”
“Ich verurteile nicht, Saloua. Das ist es nicht.”
"Er ist nicht so skrupellos, wie du ihn siehst. Er ist ehrlich. Er ist groß zügig."
"Ja, im Umgang mit dem Leben anderer."
"Es ist nicht so, wie du denkst … W ü rdest du dich f ü r deine Liebste pr ü geln? ”
“Auf diesem Gebiet fühle ich mich, ehm, nicht recht zuständig."
“Frank würde es tun."
"Ich vermute eher, er ließ e prü geln."
"Nicht, wenn es um mich ginge."
"Bist du dir da sicher?"
"Ganz sicher."
“Du, ehm, verteidigst ihn immer.”
Oscar seufzte. Saloua schob, wenn sie nachdenklich wurde, gern die Unterlippe mittels der Zunge vor, es fügte ihrer üblicherweise heiter-sorglosen Gesichtslandschaft etwas hinzu, eine kleinteilig grüblerische Note. Noch im Streit, dachte er, rechtfertigt sie Mohuns Handeln. Und sie hatten Streit, seit Tagen. Offiziell sprach niemand davon, doch jeder bei Hofe wusste es. Vorhin, als Mohun noch mit am Tisch gesessen hatte, war zwischen ihm und Saloua kein Wort gewechselt worden. Es war ein Wunder, dass sie nicht an getrennten Tischen gesessen ja, mehr noch, dass Mohun Saloua überhaupt zu dieser Veranstaltung mitgenommen hatte.
Die Musik setzte wieder ein. Die Tänzerinnen kehrten auf die Bühne zurück. Ihr Lachen war nie strahlender gewesen. Oscar trank sein Glas Whisky leer. Es war das dritte. Er sah Saloua von der Seite her an. Das künstliche Licht des Nachtclubs, das auf ihre Züge fiel, tauchte diese in einen kostbaren, erlesenen Schimmer. Sie erhob halblaut ihre Stimme.
“Findest du, dass Frank eine gute Wahl getroffen hat?”
“Was diese Mädchen angeht?”
“Ja.”
“Was findest denn du?”
“Frank weiß immer, was er tut. Er hat ein Gespür für solche Dinge… Andrerseits.”
“Andrerseits?”
“Er wollte ursprünglich gar nichts mit Bars und Nachtclubs zu tun haben."
"Sondern?"
"Er wollte zur B ü hne, zum Film."
“Ach.”
“Ich wünsche mir sehr, dass er aus diesem Geschäft hier aussteigt, bald.”
"Man ist eben froh, wenn die Knoten sich l ö sen."
"Welche Knoten, Oscar?"
"Die, die das Leben flicht, in einer Welt. in der, ehm, so viel Schreckliches geschieht.”