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Bereits im Frühjahr, nach den großen Regenfällen, waren die Ratten immer wieder in die Häuser gekrochen. Aber erst nach den heißen Sommerwochen hatte es mit der Angst vor ihnen begonnen.

Heute denke ich, es war ein Vorzeichen für alles, was geschehen sollte. Wie ein leises Donnergrollen am Himmel, noch bevor man die rabenschwarzen Wolken sah und man die Elektrizität riechen konnte, die mit den Blitzen kam.

Die meisten Ratten kamen von der Müllhalde, die es zu dieser Zeit noch gab. Dort hatte es natürlich immer schon welche gegeben. Der Aufseher der Stadt, der da nach dem Rechten sah, verscheuchte sie mit einem Luftgewehr und legte regelmäßig Giftkonserven aus. Niemand hatte damals Angst vor ihnen. Man erschlug sie mit einer Schaufel, traf man eine davon in seinem Haus an. Doch in diesem Sommer waren sie zu einer regelrechten Plage geworden.

Sie kamen über die Felder, durch die Kanalstränge, und fraßen sich durch die Keller in die Häuser. Auf den Straßen lagen sie in den frühen Morgenstunden, ausgeblutete Kadaver mit offenen Mäulern, wenn sie das Gift erwischte.

Da die Ferien begonnen hatten, waren es die Kinder, die nach Ratten suchten. Wir fanden sie überall. Sie gierten aus Abwasserrohren, verschwanden in Kellerschächten. Wir konnten sie sogar riechen, wie alte Männer den Schnee in den ersten Novembertagen riechen können.

Es war die Zeit der Teufel und des Staubes, der blutigen Schlieren auf den gestampften Lehmböden. Eingeweide und scheußlich schimmernde Fliegen.

Leibrand wusste immer, wo er die meisten Ratten finden konnte.

»Ich kann sie hören, du musst nur deine Augen schließen. Sie singen«, sagte Leibrand. Ich schloss meine Augen.

»Hörst du sie?«

»Ja«, log ich. Ich hörte das Summen des Sommertages; ein Hund kläffte weit weg.

»Sie singen das Lied der Gewitter«, sagte Leibrand und lächelte. Nickte.

Wir öffneten die Dachluke des alten Hauses. Staub bedeckte unsere Gesichter.

Für einen Augenblick war mir tatsächlich, als würde ich ein leises Kindersingen hören – ein grässlicher und zugleich wunderschöner Todesgesang.

In der Nacht, bevor der Jahrmarkt in die Stadt kam, wurde der alte Hund der Penkers, ein hinkender, beinahe blinder Mischling, totgebissen. Scheinbar im Schlaf überrascht, fand man ihn am Morgen verendet in der Einfahrt liegen. Seine Augen trübe, die Zunge abgebissen neben seinem Kopf.

Eine Ratte, so groß wie eine junge Katze, steckte noch in seinem Maul und labte sich am geronnenen Blut. Sie konnten die Ratte schmatzen hören. Jemand schrie.

Die Zirkuswagen schepperten in die Stadt, als man den alten Hund am Ausläufer der Straße vergrub (dort hatte sich im Laufe der Jahre ein beachtlicher Tierfriedhof entwickelt). Es war damals nicht ungewöhnlich, dass plötzlich ein Jahrmarkt in die Stadt kam: Schaubuden, Gaukler und Hausierer, ausgemergelte Tiere und der immerwährende Geruch von alter Zuckerwatte.

Ein einäugiger Mann mit Augenklappe blickte herunter.

Auf seinem Wagen steht mit geschwungener Schrift: Das Auge.

Drei Kinder stehen auf einem offenen Anhänger.

Die Farbe blättert ab und bleibt auf der Straße liegen.

Blau.

Spielkarten, die vom Himmel fallen.

Alles sehr langsam und gemächlich, schwere Traktoren zogen bunte Holzwagen mit abenteuerlichen Aufschriften und Bildern darauf. Ein fahrbarer Kinematograf, auf dessen dunkelblauer Plane versprochen wurde:

Sehen Sie in das magische Auge – wir sehen in Ihre Seele

Sie fuhren runter zum Stadtplatz, auf dem immer die Jahrmärkte, Rummelplätze und Feste gastierten. Kein guter Ort, zu viel seltsame Magie und billiger Zauber, nachts streifte hier der Wolfsmann herum und fraß den Sternenstaub der Nächte. Heulte zum Mond und verdarb Kinderträume.

Ein Budenbesitzer schrie: »Nur drei Tage, nur drei Tage!«, während Zelte aufgebaut und Stahlheringe eingeschlagen wurden. Ein Elefant schlich die Straße hinunter; wir trauten kaum unseren Augen. Leibrand flüsterte mir etwas ins Ohr, und schließlich sah ich es auch.

Eine Ratte saß auf dem Rücken des Elefanten und sah zu uns herunter, als wollte sie uns allesamt verspotten; der König der Welt.

Leibrand und ich folgten den Jahrmarktsleuten bis runter zum Stadtplatz. Der Elefant rieb sich an einem der Bäume, die Ratte auf seinem Rücken lief auf und ab. Die Kirchenglocken fingen an zu läuten.

Schaubuden wurden aufgestellt, Strom- und Wasserleitungen verlegt, bunte Fahnen aufgehängt, Lampions verteilt. Wir saßen auf einer Anhöhe und zählten unser Geld, das wir noch in den Hosentaschen hatten.

Ein Lastwagen kam angefahren, und wir stellten mit Freude fest, dass es auch einen Autodrom geben würde.

»Es wird der Jahrmarkt der Ratten«, sagte Leibrand und lächelte.

»Der König hält bereits seine Rede«, sagte ich, und Leibrand nickte.

Am himmelblauen Sommerhimmel zog ein Unwetter auf.

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