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ОглавлениеLeibrand suchte das Mädchen mit den langen feuerroten Haaren.
Das Unwetter hatte sich längst verzogen. Ein himmelblauer Sommerhimmel; der höchste Mast des Zirkuszeltes ragte in ihn hinein. Ganz oben saß der König der Ratten und sah uns kommen.
Aus dem Kinematografen stieg weißer, süßlicher Rauch auf. Wir rochen gebrannte Mandeln und Zuckerwatte. Das erste Knallen von der Schießbude; das Glücksrad klapperte und blieb stehen.
»Alles auf Null!«, plärrte der Mann neben dem Glücksrad. Ein Junge, der mit uns zur Schule ging (ein ziemlicher Dummkopf), hatte sein letztes Taschengeld verloren und stampfte wutentbrannt nach Hause. Einige Erwachsene streunten herum, aber sie bemerkten schon längst nicht mehr die schwankende Magie zwischen Hell und Dunkel. Sie sahen längst nicht mehr die tatsächlichen Bilder hinter den abgeblätterten Farben der Buden.
An den Bäumen hingen giftgrüne Handzettel der Kinoleute, mit Hunderten von winzigen Augen, die einen ansahen. Über Nacht waren diese kleinen Plakate überall aufgetaucht. Meine Mutter hatte vier, fünf davon in unserem Garten gefunden, Geschenke des Windes. Gerade so, als hätte das Unwetter Kinoaugen regnen lassen.
»Mir gefallen diese Augen nicht«, sagte ich zu Leibrand und gab ihm einen der Zettel.
»Weißt du, was seltsam ist?«, fragte Leibrand, während er sein T-Shirt in die Hose steckte.
»Hm?«
»Einer davon war in meinem Schrank.«
Er zog den Zettel aus seiner Jeans und gab ihn mir, während wir über den Stadtplatz gingen, Richtung Autoscooter. Sie hatten vier Radiogeräte an jede Ecke gehängt, aus einem davon kam lautes Rauschen.
Ich faltete den Handzettel auseinander, und einen Moment dachte ich, ich hätte mich am Papier geschnitten. Ein kurzer heftiger Schmerz, aber nichts dergleichen war passiert.
Unzählige Augen, einige davon waren geschlossen. Aber sie schlafen nicht, dachte ich mir, sie stellen sich nur tot. Um einen zu erschrecken, wenn man sie nur lange genug ansieht.
Mit krakeliger Schrift stand ein Satz darauf geschrieben, der mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Die Welt verschwamm, und vermutlich wäre ich sogar ohnmächtig geworden, hätte mich nicht das laute Klappern des Glücksrades erschreckt. Ich las:
Schrankgeschichten sind etwas für tote Kinder.
»Der Rattenkönig träumt von mir. Wahrscheinlich sogar auch der Wolfsmann«, sagte Leibrand, nahm den Zettel und steckte ihn wieder in seine Jeans.
»Was soll das bedeuten?«, fragte ich. Ein zweites Radio fing an zu rauschen.
Doch Leibrand hörte mich nicht, er sagte nur:
»Da ist sie. Schau.«
Das Mädchen mit den roten Haaren streifte an der Schiffschaukel vorbei, unterhielt sich mit Mathilda, die in unsere Klasse ging. Beide lachten. Ihre feuerroten Haare hatte sie mit einem Band zusammengebunden; einige Locken hatten sich befreit. Sie war in unserem Alter, und sie war wunderschön. Sie trug Shorts, ein ausgewaschenes T-Shirt und Turnschuhe. Zwischen den Gerüchen von Zuckerwatte, Mandeln und Zigaretten roch ich ihre Haare. Sie rochen nach dem längsten Sommer der Welt.
»Pass auf die Ratten auf, hier sind eine Menge davon.« Leibrand stand neben ihr und lächelte. Das Mädchen drehte sich um, und wir sahen ihre Sommersprossen. Sahen ihre unglaublichen Augen, die kleinen Härchen auf ihren Armen, die kleinen Brüste unter dem T-Shirt.
»Ich weiß, du hast mir schon davon erzählt, weißt du es nicht mehr?«
Ich starrte sie an; in meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche roten Haare gesehen. Wie die Glut eines großen Feuers.
Abermals verschwamm die Welt.