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Regen war das Erste, das ich wahrnahm.

Ein leises Lied von Charlie Parker, was ich damals noch nicht wusste, es aber ein Leben lang nicht vergaß.

Es ist eine Gespensterparade, dachte ich mir. Die Straßen waren voll mit ihnen.

Vier Transvestiten, die mit hochhackigen Schuhen

durch die Lebenden gingen,

und sie mit glücklichen Gedanken schwängerten,

Kinder mit Lampions, die im Wind flackerten

wie Halloween-Kürbisse,

der Regen schälte sich von ihnen allen ab,

ich

sah Leibrand aus den Kinderschuhen gewachsen,

die Arme weit von sich gestreckt, als würde

er predigen,

ein Blitz schlug genau in seine Finger ein,

eine Schönheit in einem weißen Kleid sprang über Pfützen,

sang von Jesus und Heroin,

jemand zündete ein Streichholz an,

die Flamme züngelte bis zum Wolkenende,

aus den Häusern kam Wärme,

alle waren glücklich,

Mitternacht war nicht nur mehr für Gespenster gemacht,

alle Hunde bellten,

ein Buckliger zog seine Schuhe aus und tanzte mit der

Schönheit im Regen,

niemand braucht mehr Bücher, alle Geschichten in allen

Menschen,

in

die Regenschlieren auf dem Asphalt

schrieben

sie

Brooklyn, New York City, Philadelphia,

Amerika konnte man sich auch erträumen.

Regen war das Letzte, das ich wahrnahm. Wie lange ich durch das Postkartenfenster geschaut hatte, wusste ich nicht. Lange genug, um Kopfschmerzen davon zu bekommen, pochendes Flirren hinter den Augenlidern. Auch lange genug, um nicht bemerkt zu haben, dass Leibrand inzwischen auf dem Fenstersims saß.

Die Amerika-Postkarte fiel zu Boden.

Leibrand saß da oben, und er schien ohne einen Schutzengel auf der Welt. Hinter ihm, im leeren Raum, sah ich von Weitem die Amerika-Plakate. Es klingt verrückt, aber jedes von ihnen lebte. Ein Zug fuhr, drei Männer unterhielten sich in seltsamem Kauderwelsch. Jemand feuerte einen Revolver ab.

Ein elfjähriger Junge, der auf dem Fenstersims saß. Ein Sommertag in den längsten Sommerferien unseres Lebens. Ich sah ihn da sitzen, in kurzen Hosen und einem alten T-Shirt, aber er sah mich nicht. Leibrand saß auf dem Fenstersims seines Zimmers im ersten Stock, seine Füße baumelten, die Hände abgestützt. Er sah zum Himmel hoch. Zum wolkenlosen hellblauen Sommerhimmel.

Und Leibrand?

Leibrand sprang.

Natürlich hätte es auch sein können, dass er einfach heruntergefallen war. Seine Eltern erzählten das auch. Der Junge sei einfach heruntergefallen, wie es eben manchmal passiert. Aber ich wusste schon während er fiel, dass er gesprungen war. Leibrand war niemand, der einfach irgendwo herunterfiel. Er schlief mit den Katzen und streunte mit den Hunden.

Ich sah, wie er ein Stockwerk tief fiel wie eine schlafende Katze, die jemand aus dem Fenster geworfen hatte. Es war unglaublich still, in diesen Momenten. Tatsächlich dachte ich, ich könnte hören, wie der Wind durch sein T-Shirt flatterte, und dann das scheußliche Geräusch eines fallenden Körpers auf dem schmalen Rasenstück vor dem Haus.

Leibrand ist jetzt tot, dachte ich.

Erst sein gellender Schrei stieß den stehen gebliebenen Tag wieder an.

Es war wie ein Wunder, dass sich Leibrand außer einigen blauen Flecken keine Verletzungen zugezogen hatte. Seine Eltern trugen ihn ins Haus, und mit ihm auch wieder ein Stück ihres eigenen Lebens.

Amerika-Plakate

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